Ein Schlüssel zum zu besprechenden Buch findet sich in einem eher kurzen Abschnitt in der Mitte mit dem Titel „Wie die Landesgeschichtsschreibung Staat macht“ (S. 131–139). Diese wenigen Seiten haben es in sich, selbst wenn nicht einmal alle Personen namentlich genannt werden, die sich mitgemeint fühlen dürfen. Und damit es unmissverständlich ist, wird das Motiv im letzten Absatz des Buches noch einmal resümierend aufgegriffen: Die bayerische Landesgeschichtsschreibung verfolge zwar – wie die Geschichtsschreibung überhaupt – den Anspruch, „exakt“ sowie „objektiv“ zu arbeiten und „eine ‚wahrheitsgemäße‘ Historie“ zu vermitteln. Gleichzeitig aber habe sie immer den Raum Bayern mit erfunden und gestaltet, die Stellung Bayerns im Föderalismus stärken wollen und „eine aktive Unterstützung der bayerischen Landespolitik“ betrieben (S. 329f.). Die Verflechtungen der landesgeschichtlich aktiven Institutionen und Personen mit der Landespolitik bis in die Gegenwart hinein werden ebenso sachlich wie eindringlich dargelegt.
Dabei geht es Bernhard Löffler, Professor für Bayerische Landesgeschichte an der Universität Regensburg, nicht um Anklagen, sondern um eine beschreibende Rekonstruktion, wie Bayern gemacht wurde, aber auch, wie es war und ist: Berge, Seen, Flüsse, Städte und Bauten sind eben keine Imaginationen, sondern materiale Realität. Imagination beziehungsweise Konstruktion ist hingegen die Vorstellung des Verbindenden, der „Heimat Bayern“ als Dach und Identitätsanker. Behandelt werden Wahrnehmung und Gestaltung des Raumes, der Bayern genannt wird. Konsequenterweise bewegt sich die Darstellung immer in einem Viereck, das aus Territorium, Bevölkerung, Administration und Idee entwickelt wurde. Daraus entsteht eine komplexe und fluide Gemengelage, durch die Löffler anhand einer breiten Themenpalette und auf der Basis eines außerordentlich umfangreichen Materials sicher und klug führt.
Im ersten Hauptteil geht es um den politisch-administrativen und ökonomisch-statistischen Raum. Aufgrund einer napoleonisch induzierten staatsterritorialen Revolution entstand aus ganz unterschiedlichen und heterogenen Gebieten ein starker deutscher Mittelstaat. Das territoriale Ergebnis war dem zeitüblichen Länderschacher geschuldet und keineswegs historisch oder politisch zwingend. Altbayern, Franken und Schwaben sowie die räumlich getrennte Rheinpfalz definierten vorerst den Staat Bayern, dessen rechtsrheinisches Gebiet die größte Fläche einnahm und ungeachtet mancher Grenzkorrekturen bis in die Gegenwart Bestand hatte. Dies stärkte das epochenübergreifende Bemühen um die Festigung einer bayerischen Staatsidentität. Die administrativen Schritte umfassten eine kartographische und statistische Bestandsaufnahme sowie Durchdringung des Raumes, die erst eine moderne Verwaltung ermöglichte und zugleich durch historische Werke unterfüttert wurde, indem das kontingente Ergebnis der Raumrevolution in der Phase von 1803 bis 1815 als Konsequenz historischer Prozesse erschien. Dabei bleibt die Darstellung aber nicht stehen. Vielmehr richtet sie den Blick auch auf Mobilität und Kommunikation, also auf technische Instrumente der räumlichen Verbindung in der Wechselwirkung mit ökonomischer Integration und Entwicklung. Damit wurde die historische Landschaft tiefgreifend umgestaltet; gleichzeitig rückten Stadt und Land im sich modernisierenden Bayern näher aneinander – ein Prozess, dessen Ambivalenzen (von den Vorteilen der Langsamkeit bis hin zu den verkehrstechnisch abgehängten Regionen) auch diskutiert wurden. Jedenfalls lagen der politischen Identitätskonstruktion handfeste ökonomische Planung und Entwicklungspolitik zugrunde, die im Buch bis in die Gegenwart verfolgt werden.
Auf dieser Basis, gewissermaßen einer Realgeschichte der Erfindung Bayerns, geht es im zweiten Hauptteil sodann um die Gestaltung des Raumes als Einheit und Vielheit. Denn die Konstruktion gesamtbayerischer Identität korrelierte mit der Pflege innerbayerischer Diversität – in Bezug auf Tradition, Kultur und Gesellschaft. Dazu gehörte die Vorstellung von Bayern als Verbund von „Stämmen“, aber auch die Diskussion um „Gaue“ und „Marken“ sowie der Bezug auf den Begriff der „Heimat“, der lokale, regionale und gesamtbayerische Bezüge unterstreichen konnte, jedoch nicht bloß Gegenbegriff zur Moderne, wie manche Landeshistoriker meinten, sondern – ob real fundiert oder bloß propagiert – gerade das Fundament des neuen Bayerns war. Auch hier bleibt Bernhard Löffler nicht bei der Diskussion um Imaginationen und Identitätspolitik stehen, sondern lenkt das Augenmerk auf die konkrete Politik der Gebietsreformen, die in einem Spannungsverhältnis zu historischem Bewusstsein und kultureller Identität standen. Er verfolgt – unter Einschluss der NS-Zeit – nüchtern die Kontinuitäten der Territorialreformen bis in die jüngere Zeit hinein, aber auch die Ambivalenzen, da die machttechnisch und ökonomisch vorteilhaften, administrativ durchgesetzten Umstrukturierungen lokale Resistenzen weckten; das Buch zeichnet keineswegs einen eindimensionalen, quasi determinierten Weg zur Ausbildung bayerischer Staatsidentität. Entsprechend war die staatliche Symbolpolitik durchaus differenziert: Regionale Identitäten wurden nicht schlicht eingeebnet, sondern integriert und überformt, in einen politischen Kult überführt, der – wie das aufgegliederte Vereins- und Trachtenwesen – eine eigene Symbolik schuf. Manche Regionalismen wiesen dann aber mehr Eigensinn und historische Differenzierung auf als die eingangs angesprochenen „Meistererzählungen“ der Landesgeschichtsschreibung, die trotz internen Schulenstreits (Max Spindler versus Karl Bosl) doch in erstaunlicher Homogenität dem Staat Bayern das historische Wort redeten. Instrument und zugleich Belohnung war die frappierende Ausbildung eines Netzwerks der geschichtswissenschaftlichen Absolventen, die in der Politik, dem Bayerischen Rundfunk, der Landeszentrale für politische Bildung, dem Haus der Bayerischen Geschichte sowie in Denkmalpflege, Museen und Archiven Platz, Auskommen und Einfluss fanden. Dass in das derart historisch verankerte Bayern nun nach 1945 auch die Sudetendeutschen als „vierter Stamm“ – neben Altbayern, Franken und Schwaben – integriert werden konnten, kann je nach Geschmack als Treppenwitz der Geschichtspolitik oder als beeindruckendes Zeugnis gelungener Integration gewertet werden.
Im dritten Hauptteil nimmt Bernhard Löffler das weite Feld der Konstruktion, Imagination, Bearbeitung und Veränderung von Natur, Landschaft und Umwelt in den Blick. Hier geht es sehr konkret um die Konkurrenz beziehungsweise das Zusammenwirken von Materialität (der Topographie, des Klimas etc.) und Fiktionalität (der Zuschreibungen, Ideologien etc.). Allen „natürlichen“ Bedingungen war insofern auch eine imaginative Ebene eigen – wobei das Fiktionale oder Virtuelle nicht weniger real war als das Materiale und ebenso wirkungsvoll. Die Rolle Wilhelm Heinrich Riehls (1832–1897), der die Heimatgeschichtsschreibung in Deutschland wesentlich geprägt hat, steht hier am Anfang. Riehl wollte den jeweiligen „Volkscharakter“, die Anlagen, Sitten und Verhaltensweisen aus den spezifischen natürlichen Bedingungen erklären. Das war noch dem Geist des 19. Jahrhunderts geschuldet, wirkte aber nach: Die Kulturraumforschung der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts betonte noch stärker einen deterministisch verstandenen Zusammenhang von (Siedlungs-)Raum und Volk. Ebenso bemerkenswert ist die im 19. Jahrhundert einsetzende, bis in die Gegenwart nachwirkende Gemengelage von Heimat- und Naturschutzbewegungen, die Ambivalenz von betulicher Heimatpflege und organisatorisch modernem Lobbyismus, von Rückzug in die Naturidylle und ökonomisch-technischer Modernisierung, „von Staatsnähe und Zivilisationskritik“ (S. 213), von reaktionärem Politikverständnis, lokaler Mobilisierung und Fundamentaldemokratisierung bis in die Umweltdebatten der Gegenwart hinein. Das Buch stellt all dies anhand der Akteure höchst differenziert dar, schließt immer auch die ideellen und personellen Bezugspunkte und Kontinuitäten der nationalsozialistischen Zeit mit ein und vermeidet Schematisierungen. Immer wieder auch wird die Reduktion des Bayern-Bildes auf Berge, Almen und Seen sowie das Zusammenspiel von Sehnsuchtsorten und geschicktem Marketing angesprochen. Und wiederholt wird – nicht ganz ohne unterschwellige Ironie – zitiert, wo den Landeshistorikern die bayernselige Begriffsphantasie durchging und durchgeht.
Nur scheinbar im Widerspruch zu diesen auf den realen Raum bezogenen Imaginationen steht das Thema des vierten Hauptteils, der sich mit „Bayern in der Welt“, also mit transnationalen Verflechtungen befasst. Nicht von ungefähr beginnt dieser Teil mit einer Formulierung Wilfried Scharnagls, des langjährigen Bayernkurier-Chefredakteurs: „Bayern kann es auch allein“ (S. 251). Das separatistische Postulat (das de facto niemals ernsthaft umgesetzt werden sollte und in einem rhetorischen Partikularismus aufgefangen wurde) war die notwendige Kehrseite der Betonung bayerischer Weltgeltung. In diesem Teil geht es um ein weites Thementableau, von Völkerschauen über das Oktoberfest als „Tourismusmotor“ (S. 268) im Ausland und auswärtige Kulturpolitik inklusive Trachtengruppen-Auftritten in Moskau und anderswo bis hin zu Export und Wirtschaftsbeziehungen – auch Bayern war keine idyllische Insel, sondern eine Hülse, ein Reisemodell im konkreten und kulturwissenschaftlichen Sinn; jeder konnte hineininterpretieren, was jeweils passte, wenn nur der Rahmen – der konkrete Raum und der mythengesättigte Erinnerungsort – erhalten blieb.
Das Geheimnis bleibt der Umgang mit Widersprüchen, bis hin zur föderalistischen Politik im deutschen und europäischen Kontext seit dem 19. Jahrhundert, die zugleich mit einer konsequenten Integrationspolitik im Inneren gekoppelt war, wie sie zumindest wichtige Phasen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts prägte. Und tragend war dabei die gerade von Landeshistorikern explizit vertretene These, dass Bayern eben anders sei als die übrigen deutschen Bundesländer. Löffler arbeitet auch dies mit einem gewissen Behagen heraus (S. 314). Unvermeidlich arbeitet seine „andere“ Geschichte Bayerns, die sich von üblichen handbuchartigen Darstellungen in ihrem unbefangenen Blick und ihrer klaren Fragestellung wohltuend abhebt, doch letztlich auch am Mythos Bayern und bestätigt ihn dadurch – indem sie nämlich erklärt, was denn nun diese besondere Beziehung von Raum, Bevölkerung und Idee, die mit dem Begriff „Bayern“ verbunden wird, eigentlich ausmacht. Seine schlüssige Bilanz, anknüpfend an eine bekannte Formulierung des Geographen Hans-Dietrich Schultz („Räume sind nicht, Räume werden gemacht“), lautet: „Bayern ist und Bayern wird gemacht“ (S. 324 – Hervorhebung ebd.). Dazu trägt auch Bernhard Löffler mit seiner beeindruckenden Darstellung bei – aber das nimmt er sicher bewusst und billigend in Kauf.