Das Archiv der deutschen Frauenbewegung (AddF) wurde 1984 gegründet. Jetzt, vier Jahrzehnte später, blickt die ehemalige Mitbegründerin und langjährige Mitarbeiterin Cornelia Wenzel in einer Festschrift auf die Gründung, Arbeit, Expansion und Etablierung des Kasseler Archivs zurück und zeichnet dessen Werdegang nach. In Abwandlung eines Buchtitels von Karin Hausen, einer Pionierin der Frauen- und Geschlechterforschung in Deutschland, die 1983 das Buch „Frauen suchen ihre Geschichte“ herausgegeben hat, titelt die hier besprochene Neuerscheinung über das Archiv der deutschen Frauenbewegung selbstbewusst mit „Frauen finden ihre Geschichte“.
Das erste Kapitel „Aufbruch“ für den Zeitraum von 1984 bis 1993 widmet sich den Anfängen des Archivs, das im Kontext der Neuen Frauenbewegung und der damit eng verbundenen Frauenprojektebewegung entstand. Gleichzeitig inspirierte ein zunehmendes Interesse an vergessener Frauengeschichte die Gründungsidee. Die Neue Frauenbewegung befasste sich bereits mit ihrer eigenen Geschichte und dokumentierte diese in neu gegründeten Archiven. Zu diesem Zeitpunkt war aber so gut wie nichts über die deutsche historische Frauenbewegung bekannt. Ziel des AddFs wurde es, Quellen zur Frauenbewegung des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts zusammenzutragen. Zwölf bis fünfzehn Frauen bildeten die Gründungsgruppe, welche sich als Teil der autonomen Kasseler Frauenbewegung verstand. Wie in vielen Frauen-Projekten eignete sich die Gruppe ihre Arbeitsweise autodidaktisch an, Arbeitsteilungen und Hierarchien sollten vermieden werden, finanziell war alles äußerst knapp bemessen. Die in diesem Kapitel beschriebenen Entwicklungen der ersten zehn Archivjahre waren geradezu rasant und ohne den Mut und den an Selbstausbeutung grenzenden Arbeitseinsatz der Einzelnen undenkbar. Zudem waren die politischen Gelegenheitsstrukturen günstig, sodass am Ende dieser Dekade erste Finanzierungen, zum Beispiel durch das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst oder die Stadt Kassel, etwas Sicherheit gaben. In der Zwischenzeit war das AddF immer sichtbarer in der Öffentlichkeit geworden: Die Gründung der Zeitschrift „Ariadne“, einer eigenen Schriftenreihe, eines Freundinnenvereins sowie eines wissenschaftlichen Beirats gehören dazu.
Das zweite Kapitel „Positionierungen“ über die Jahre 1994 bis 2003 zeigt den zunehmenden Platz, den in diesem Zeitraum die Forschung im Archiv der deutschen Frauenbewegung beanspruchte. Der thematische Bogen war weit gespannt: Frauenfriedensbewegung, Mädchenbildung, Antisemitismus, einzelne Biographien, das Frauenstimmrecht, die 1848er Revolution, um nur Einiges zu nennen, wurden erforscht. Die Untersuchungen wurden meist als Drittmittelprojekte durchgeführt, was auch bedeutete, dass dem Einwerben von Drittmitteln viel Zeit gewidmet werden musste. Das Dilemma, dass das Archiv zwar zu einer „außeruniversitären Forschungseinrichtung“ avancierte (S. 58), aber über keine gesicherte finanzielle Grundausstattung verfügte, wirkte sich – übrigens bis heute – erschwerend auf die Archivarbeit aus. Wie groß die Bekanntheit und das Renommee des Archivs bis zur Jahrtausendwende bereits geworden war, ist daran abzulesen, dass ihm wichtige Nachlässe angeboten wurden, allen voran der Nachlass der Nachkriegspolitikerin Elisabeth Selbert (1896–1986), einer der „Mütter des Grundgesetzes“. Diese aufsehenerregende Schenkung initialisierte weitere Neuzugänge: Zum Beispiel folgte der Nachlass einer Akteurin der Nachkriegsfrauenbewegung, der Journalistin Gabriele Strecker (1904–1983), und der Deutsche Evangelische Frauenbund übergab seinen Gesamtbestand ans Archiv der deutschen Frauenbewegung. Die deutsche Nachkriegszeit wurde im AddF so präsent, dass das Sammelprofil auf die Jahre 1945 bis 1970 erweitert wurde. Dieses Kapitel zeigt: Zwanzig Jahre nach seiner Gründung hatte sich das Archiv positioniert, und es war ihm gelungen gleichermaßen bekannt und anerkannt zu sein.
Mit dem Kapitel „Akteurinnen“ erfolgt ein Perspektivwechsel. Diesen Teil des Buches verantwortet die langjährige Projektmitarbeiterin des Archivs, Elke Schüller. Innerhalb der chronologischen Kapitelabfolge bilden die hier versammelten Interviews ein wichtiges Herzstück der Publikation. Sie erzählen die Geschichte des Archivs aus Sicht von insgesamt dreizehn Beteiligten aus den Aufbaujahren. Durch diesen veränderten Fokus kommt vieles zur Sprache, das in den chronologischen Ausführungen der anderen Kapitel nur wenig Platz beanspruchen kann. Zusammengenommen zeigt sich hier, wie wichtig die Akteurinnen für den Erfolg des Archivs waren und sind. Ohne die von ihnen eingebrachten immateriellen Ressourcen – explizit genannt werden von den Einzelnen zum Beispiel Neugier und Durchhaltevermögen, Selbstüberschätzung und Opferbereitschaft, Flexibilität und Kreativität – wäre die kontinuierliche Weiterentwicklung und Expansion des Archivs über vier Jahrzehnte hinweg nicht möglich gewesen. Deutlich wird allerdings auch, dass die Arbeit oft an Selbstausbeutung hinsichtlich Arbeitszeiten und Gehältern grenzte, und dass Überlastung und Erschöpfung bei den Beteiligten quasi alltäglich wurden. Frauenbewegte Leser:innen fühlen sich durch die hier dokumentierten Schilderungen der Akteurinnen an die Frühzeit der Neuen Frauenbewegung erinnert, insbesondere an die Frauenprojektebewegung, in der Autonomie und Solidarität tragende Mobilisierungsressourcen darstellten. Die Interviews stehen für sich und werden keiner Auswertung unterzogen, sie dokumentieren die Archivzeit aus der subjektiven Sicht der Beteiligten. Feministischem Erinnern und feministischen Erinnerungskulturen kommt in jüngerer Zeit wieder viel Aufmerksamkeit zu.1 Die Interview-Auszüge leisten einen wichtigen Beitrag dazu und belegen einmal mehr den Wert von Oral History als Quelle.
Das nächste Kapitel, „Entfaltung“, widmet sich den Jahren 2004–2013. Hier wird beschrieben, dass sich die Mitarbeiterinnen professionalisierten und sich für die Archiv- und Dokumentationsarbeit weiterbildeten. Auch erste (Teilzeit-)Stellen entstanden. Da die Form eines eingetragenen Vereins nicht mehr zur Größe und Bedeutung des expandierenden Archivs passte, sollte eine neue Organisationsform gefunden werden. Die Idee einer „Stiftung Archiv der deutschen Frauenbewegung“ zeigt einmal mehr die Kreativität und den Mut der Beteiligten. Sie wurde „verblüffend“ schnell umgesetzt (S. 126), nicht zuletzt, weil sich genügend Stifterinnen fanden und der Sachwert von Archiv- und Bibliotheksbestand inzwischen beträchtlich war. Auch wenn die Stiftungsgründung keinen schnellen finanziellen Erfolg ermöglichen konnte, trug sie wesentlich zum Renommee des Archivs bei. Konterkariert wurde das Ganze allerdings zeitgleich durch einschneidende Kürzungen vonseiten der hessischen Landesregierung. Finanzielle Miseren waren in der Geschichte des AddF schon fast an der Tagesordnung. Spätestens jetzt wurde klar, dass ABM-Stellen, wechselnde Zuschüsse von Land und Stadt sowie die Drittmitteleinwerbung ein allzu schwankendes Fundament für die Arbeit darstellten. Folgerichtig konzentrierte sich die Lobbyarbeit im ersten 2000er-Jahrzehnt zunehmend auf die Bundesebene. Ein entscheidender Erfolg wurde mit dem Regierungswechsel 2013 erzielt, als der Koalitionsvertrag der Großen Koalition den Punkt „Geschichte und Bewahrung der Frauenbewegung“ aufnahm und einen institutionell abgesicherten Weg zu einem „Digitalen Deutschen Frauenarchiv“ eröffnete. So bekamen die inzwischen in einem „Dachverband deutschsprachiger Lesben-/Frauenarchive, -bibliotheken und -dokumentationsstellen“ (i.d.a.) organisierten Archive erstmals eine institutionelle Bundesförderung.
Das vierte und letzte Kapitel zeichnet diese neue Ausrichtung vom Analogen zum Digitalen zwischen 2014 und 2023 in den deutschen Archiven, also auch im Kasseler Archiv, nach. Ziel des vom Bundesministerium für Familie, Soziales, Frauen und Jugend geförderten und vom i.d.a.-Dachverband organisierten „Digitalen deutschen Frauenarchivs“ (DDF) ist ein gemeinsamer überregionaler Katalog, der Recherchemöglichkeiten zu den Beständen aller deutschsprachigen Frauenarchive bietet.2 Die Bestände werden in Online-Datenbanken erfasst, erschlossen und ausgewählte Quellen als Volltexte dokumentiert.
Das Schlusskapitel der Festschrift reflektiert die Chancen und Risiken dieser Digitalisierung. Die Chancen liegen auf der Hand: Der umfassende Anspruch des DDFs liefert unverzichtbare Grundlagen für die breite Erforschung von Geschichte und Theorie von Frauenbewegung und Feminismus, sei es auf lokaler, regionaler, nationaler oder internationaler Ebene. Aus archivarischer Sicht bemängelt die Autorin Cornelia Wenzel aber, dass die Projektmittel ausschließlich in die Digitalisierung fließen, während die Sicherung von Beständen und Archivalien keine Finanzierung bekommt. Solange es keine eigenständige kontinuierliche institutionelle Bundesförderung für die einzelnen Archive gibt, so Wenzel, ist die Archivierung und Erhaltung der Originale nicht gewährleistet. Ein aus meiner Sicht ernüchterndes Fazit nach einer inzwischen vierzigjährigen Erfolgsgeschichte. Aber die Lektüre dieser spannenden Chronik zeigt auch, dass immer wieder Auswege aus ausweglos scheinenden Situationen gesucht und gefunden wurden. Das bleibt dem Archiv der deutschen Frauenbewegung auf jeden Fall weiterhin zu wünschen! Generell zeigt das sehr gut lesbare Buch die beeindruckende Geschichte eines Frauenprojektes, dem es über die Zeiten hinweg gelang, ein „Archiv der deutschen Frauenbewegung“ aufzubauen, bekannt und unentbehrlich zu machen.
Anmerkungen:
1 Tanja Thomas / Sabine Hark, Feministisches Erinnern: Politiken, Praktiken, Kämpfe, in: feministische studien 41,1 (2023); Tanja Thomas / Sabine Hark, Feministisches Erinnern II: Kontroversen, Allianzen, Zukünfte, in: feministische studien 42,2 (2023).
2 Website des DDF: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de (02.12.2024).