Mit ihrer 2010 als Buch erschienen Oldenburger Dissertation legt Beata Dorota Lakeberg eine Untersuchung vor, die sich in die historische Stereotypenforschung einordnet und diese mit den Forschungsfeldern der Minderheiten- und Pressegeschichte verbindet. Die Studie basiert auf einer quellennahen und auf breiter Materialbasis erarbeiteten Analyse von Artikeln der deutschen Minderheitenpresse, die die Stereotype von Polen und Juden sowie das Selbstbild der Deutschen in den Jahren 1918 bis 1939 in Polen untersucht. Geleitet wird die Untersuchung von der Annahme, dass es eine „Korrelation zwischen Gruppen- und Stereotypenbildung“ gibt, die „man historisch genau verorten kann“ (S. 29). Auf dieser Grundlage stellt Lakeberg die für ihre Analyse leitende These auf, dass ein Vereinheitlichungsprozess der in der Presse auffindbaren Stereotype „den Prozess der Konstituierung der deutschen Minderheit zu einer einheitlichen Gruppe zeigen“ kann (S. 24).
Methodisch ist die Untersuchung an die von Hans Henning und Eva Hahn geprägte Vorgehensweise der historischen Stereotypenforschung angelehnt, da sie das Funktionieren und die Auswirkungen von Stereotypen in einem gesellschaftlichen Diskurs, nicht aber die Frage nach deren Wahrheitsgehalt in den Mittelpunkt stellt.1 Lakeberg schreibt in weiten Teilen ihrer Studie allerdings nicht von Stereotypen, sondern benutzt stattdessen den Begriff des Bildes. Diesen definiert sie unter Berufung auf den polnischen Historiker Tomasz Szarota „als etwas Umfassenderes als ein Stereotyp“, das „eine allgemeine Beurteilung einer nationalen Gruppe“ einschließt, die „neben Elementen des Stereotyps auch die Feststellungen beinhaltet, die mit persönlichen Erfahrungen verbunden sind“ (S. 27).
Trotz der Einführung des Bildbegriffes sind Stereotype die eigentliche Grundlage für Lakebergs Analyse. Diese unterscheidet sie in Heterostereotype, als Bilder einer Gruppe über „die Anderen“, und Autostereotype als Bilder, die eine Gruppe von sich selbst hat. Der Stereotypenforschung folgend, geht Lakeberg von einer engen Wechselwirkung zwischen Hetero- und Autostereotypen aus, also dem Rückschluss vom Bild der Anderen auf das Bild der eigenen Gruppe. Stereotype besitzen demnach nicht nur eine Ordnungs- und Kategorisierungsfunktion, sie produzieren und forcieren auch eine gemeinsame Gruppenidentität.
Im ersten Kapitel „Die Geschichte der deutsche Minderheit in der Zweiten Republik Polen – ein Überblick“ kann sich der Leser einen faktengesättigten Überblick über die politische und wirtschaftliche Lage sowie das kulturelle Leben der deutschen Minderheit von der Entstehung des polnischen Staates bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges verschaffen. Lakeberg plädiert dabei für eine differenzierte Betrachtung der unterschiedlichen Voraussetzungen, mit denen die Deutschen in Teilen Pommerns, Großpolens, Oberschlesiens, in Wolhynien, Galizien und in Zentralpolen zu einer Minderheit der Zweiten Polnischen Republik wurden. Das Kapitel gibt zugleich einen Einblick in die Lage der polnischen Mehrheitsgesellschaft der Zwischenkriegszeit. Wünschenswert wäre in diesem ersten Kapitel auch ein Blick auf die Konstitution und die Besonderheiten der jüdischen Minderheit in Polen gewesen.
Aus ihrer Untersuchung des Zusammenhangs zwischen dem Erscheinungsort und den reproduzierten Stereotypen (Kapitel 2) identifiziert Beata Dorota Lakeberg ein umfangreiches Repertoire an Motiven, die vom Stereotyp Polens als „Saisonstaat“ über die „polnische Wirtschaft“ bis zum Bild der Polen als Nationalisten und Chauvinisten reichen, und unternimmt eine regionale Unterscheidung in der Nutzung dieser Stereotype. Anhand des Umgangs mit den polnischen Autostereotypen einer „traditionellen Toleranz“ und einer Rolle als „Beschützer (West)Europas“ verdeutlicht Lakeberg die Versuche der Umdeutung dieser positiven polnischen Autostereotype durch die deutschen Zeitungen. Das in der Minderheitenpresse formulierte Selbstbild der Deutschen in Polen macht Lakeberg an den positiv konnotierten Begriffen „deutsche Leistung“ „Kulturträger“, „deutsche Ordnung“ fest, um zur Schlussfolgerung zu gelangen, dass „die Deutschen in Polen […] das deutsche Selbstbild zum Aufbau einer Gruppenidentität“ nutzen (S.144).
Das dritte Kapitel behandelt die Zusammenhänge zwischen der politischen und konfessionellen Ausrichtung der Zeitungen und den jeweiligen Stereotypen von Polen und Juden. Für ihre Analyse untergliedert Lakeberg die Zeitungen in vier Richtungen: konservativ-nationalistisch, sozialistisch, propolnisch und jungdeutsch, was mit nationalsozialistisch gleichgesetzt wird. Die Untersuchungen dieses Kapitels greifen unter anderem das Stereotyp des polnischen Nationalismus wieder auf, um dessen unterschiedliche Verwendung in den gewählten Zeitungen zu verdeutlichen. Beispielhaft arbeitet die Studie die Nutzung des Stereotyps der Polen als Nationalisten heraus, das die konservative Presse an die antideutsche Einstellung der polnischen Regierung koppelte, während die sozialistische Presse den Nationalismus nicht als spezifisch polnische Eigenschaft erkennen konnte, ihn vielmehr als politische Richtung grundlegend ablehnte.
Im letzten Kapitel bilden wichtige politische Ereignisse der Zeit von 1919 bis 1939 den analytischen Rahmen, um die Entwicklung der Stereotype von Polen und Juden aufzuzeigen. Lakeberg legt dar, wie nach der Teilung und anschließenden partiellen Eingliederung Oberschlesiens die Bezeichnung „Saisonstaat“ aus der deutschen Minderheitenpresse verschwand. Als Grund gibt sie die einsetzende polnische Zensur an, die eine Ersetzung des Stereotyps durch eine Umschreibungen notwendig machte. Lakeberg bezeichnet diesen Vorgang als Verwendung „narrativer Stereotypen“ (S. 232) und stellt Ähnliches für die „polnische Wirtschaft“ fest. Mit den narrativen Beschreibungen verschwinde nach Lakeberg das Stereotyp jedoch nicht. Es werde von den Lesern in der Rezeption schwächerer Umschreibungen sofort wieder als das altbekannte Stereotyp gedeutet. Diese postulierte Vermutung bleibt quellenmäßig allerdings schwer belegbar.
Aus den Untersuchungsergebnissen stechen insbesondere die Befunde zur Minderheitenpresse in Łódź heraus. Lakeberg weist nach, dass neben den dort verwendeten negativen Stereotypen auch positive Darstellungen der Polen – beispielsweise als Patrioten und Freiheitskämpfer – sowie der vielfache Verweis auf die „Gemeinsamkeiten“ zwischen Deutschen und Polen standen, was sie als „Loyalitätsbekundung“ bzw. „Zeichen der verbreiteten Akzeptanz des polnischen Staates und seiner Bewohner“ durch die deutsche Minderheit deutet (S. 150).
Auch in Bezug auf die in der Studie weniger ausführlich behandelten Stereotype über die jüdische Minderheit sind die Befunde zu Łódź hervorzuheben. Lakeberg kommt in ihrer Analyse der Lodzer Volkszeitung und der Lodzer Freien Presse zu dem Ergebnis, dass die jüdische Minderheit von den Deutschen als Verbündete im Kampf um das Eintreten für gemeinsame Interessen betrachtet und daher gemeinsam mit der deutschen Minderheit als „Opfergruppe“ innerhalb des polnischen Staates begriffen wurden. Deutlich wird an dieser Stelle eines der Potentiale des Buches, wenn Lakeberg die Gleichstellung der jüdischen mit der deutschen Minderheit als Instrument der Kritik am polnischen Antisemitismus und Nationalismus identifiziert und somit – über die reine Analyse der Bilder und Stereotypen hinausgehend – Strategien im Umgang mit den verwendeten Stereotypen deutlich macht.
Lakebergs Studie gibt aufgrund des umfangreichen gesichteten Materials (insgesamt wurden 27 deutsche Zeitungen ausgewertet) einen detailreichen Einblick in die Stereotypenwelt der deutschen Minderheitenpresse in der Zweiten Polnischen Republik. Die ausgewertete Materialfülle geht in weiten Teilen des Buches jedoch sehr zu Lasten von Stringenz und Übersichtlichkeit und so verliert sich der Leser schnell in den kleinteiligen Analysen einzelner Zeitungen und ist folglich dankbar für die jeweils am Ende der Kapitel folgenden Fazits, mit denen auch immer wieder an die eigentlichen Fragestellungen des Buches erinnert wird.
Anmerkung:
1 Hans-Henning Hahn / Eva Hahn, Nationale Stereotypen. Plädoyer für eine historische Stereotypenforschung, in: Hans Henning Hahn (Hrsg.), Stereotyp, Identität, Geschichte. Die Funktion von Stereotypen in gesellschaftlichen Diskursen, Frankfurt am Main, 2002, S. 17–56.