G. Schmidt (Hrsg.): Deutsche Nation im frühneuzeitlichen Europa

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Titel
Die deutsche Nation im frühneuzeitlichen Europa. Politische Ordnung und kulturelle Identität?


Herausgeber
Schmidt, Georg; unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner
Reihe
Schriften des Historischen Kollegs 80
Erschienen
München 2010: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
XIV, 344 S.
Preis
€ 64,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nicole Waibel, Europäische Ethnologie / Volkskunde, Universität Augsburg

„Deutschland? aber wo liegt es? / Ich weiß das Land nicht zu finden. Wo das gelehrte beginnt, hört das politische auf.“1 Friedrich Schillers berühmtes Xenion behandelt einen Sachverhalt, der für die Bewohner des Alten Reichs eine grundsätzliche Erfahrung darstellte, aber erst im 18. Jahrhundert von den Gebildeten als Krise formuliert wurde: Die Deutschen besaßen viele Vaterländer und Identitäten. Das Reich mit seiner Bindung an das repräsentative Kaisertum und der Sicherung deutscher Freiheitsrechte stellte den integrativen Rahmen dar, der die einzelnen Reichsteile überwölbte und einte.

Was bedeutete es für die kulturelle und nationale Identität der Bewohner und Nachbarn eines Staates, dessen politische Grenzen nicht mit denen des Sprach- und Kulturraums übereinstimmten? Dieser Fragestellung widmet sich der vorliegende Sammelband, der auf ein im Jahr 2008 veranstaltetes Kolloquium im Historischen Kolleg in München zurückgeht.2 Ziel ist es – wie der Herausgeber Georg Schmidt erläutert – am Beispiel der deutschen Nation zu zeigen, dass „bereits in der Frühen Neuzeit Nationen sowohl als politische als auch als ethnisch-kulturelle Zuordnungsgemeinschaften“ existierten (S. VIII). Der Band greift ein umstrittenes Thema der neueren Forschung auf: Konnte sich in einem Reich, das so vielfältig strukturiert und dezentral organisiert war, ein deutsches Nationalbewusstsein vor dem 19. Jahrhundert entwickeln? Oder leistete der multinationale, multiethnische und multikonfessionelle Charakter nicht vielmehr einer verzögerten Nationalstaatsbildung Vorschub? Georg Schmidt will mit dem Band ein Defizit in der deutschen Geschichtsschreibung beseitigen und die Erforschung frühneuzeitlicher Verhältnisse unter dem Leitgedanken einer verspäteten und andersartigen deutschen Nationalstaatsbildung auf den Prüfstand stellen (S. XI).

Diesem Ansatz folgen die 15 Autoren/innen des Buches. In den konsequent nach vier Gesichtspunkten untergliederten Beiträgen (je Sektion vier Aufsätze) setzen sie sich explizit mit Binnen- und Außensichten auseinander und stellen die deutsche Nation in den europäischen Kontext. Abschließend wird die Frage nach distinkten nationalkulturellen Zuschreibungen anhand des Kunststils des Barocks, der Publizistik Gottscheds sowie des deutschsprachigen Musiktheaters erörtert. Das Tagungsprotokoll von Astrid Ackermann rundet den Sammelband informativ ab und ermöglicht auch Nichtbeteiligten einen interessanten Einblick in die Diskussionen. Die Autoren/innen gehen in ihren quellennahen und detaillierten Fallstudien der Diskrepanz zwischen politischer Ordnung und kultureller Identität nach und legen dar, dass der Prozess der Nationsbildung in der Frühen Neuzeit weniger auf herrschaftlich-politischer Zuordnung basierte als auf ethnisch-kulturellen Gemeinsamkeiten und individueller Zuschreibung. Insbesondere der europäische Vergleich zeigt, dass sich die deutsche Identitätsbildung kaum von der in den Nachbarstaaten unterschied.

Alexander Schmidt thematisiert in der ersten Sektion die Krise des Reichspatriotismus, die in den Debatten über den Nationalgeist nach dem Siebenjährigen Krieg einen Höhepunkt erreichte. Der Vaterlandsbegriff wurde in der Frühen Neuzeit in Reichsdokumenten und in der Publizistik auf das Reich bzw. die deutsche Nation bezogen. Allerdings wies er zugleich einen variablen regionalen Bezug auf. Patriotismus als moralisch-politische Haltung konnte von Protestanten, später auch von Katholiken, in Krisen- und Kriegszeiten mobilisiert werden. Der Patriotismusdiskurs betraf nicht allein das Reich, sondern war Bestandteil eines europäischen Diskurses. Montesquieus Trennung von Monarchie und Vaterlandsliebe löste zum Beispiel Diskussionen in Frankreich und ganz Europa aus, deren Inhalte von den Deutschen übernommen und in den nationalen Kontext übertragen wurden.

In der zweiten Sektion untersucht Michael North die „nationale und kulturelle Selbstverortung“ der Deutschen „in den russischen Ostseeprovinzen“. Die Deutschen aus Skandinavien und dem Baltikum interessierten sich im 18. Jahrhundert politisch kaum für Deutschland, studierten aber im Reich und orientierten sich geistig-kulturell an der deutschen Elite; umgekehrt stellte das Baltikum einen karrierefördernden Markt für deutsche Gebildete dar. Sie gründeten Lesegesellschaften und Leihbibliotheken, beteiligten sich am deutschen Literaturbetrieb oder veranstalteten Theateraufführungen nach dem Vorbild des Mannheimer oder Wiener Theaters. Deutsche Kultur wurde nach North auch außerhalb der Reichsgrenzen inszeniert, was auch auf andere europäische Staaten, wie etwa Frankreich, zutrifft.

Hingegen besaßen die Schweizer Eidgenossen seit dem 15. Jahrhundert ein ambivalentes Verhältnis zur deutschen Nation, das von tiefer Abneigung gegen das Haus Habsburg geprägt war. Zwar schieden sie nach 1648 mit der reichs- und völkerrechtlichen Klärung ihres Status aus dem Reichsverband aus, identifizierten sich aber weiterhin mit der deutschen Kulturnation. Erst im 18. Jahrhundert, so Thomas Maissen, entwickelten die Schweizer Aufklärer ein eigenes Nationalbewusstsein, das auf einer deutsch-französischen Identität beruhte, die im Bild des einfachen Alpenländers jenseits sprachlicher und konfessioneller Grenzen als „helvetisch“ konzipiert wurde.

Horst Carl eröffnet die dritte Sektion über die frühneuzeitliche Adelsgesellschaft und ihre Beziehung zur deutschen Nation. Er hebt hervor, dass es bereits im Spätmittelalter einen europäischen Adel gab, der vor allem auf einer Verwandtschaft der Höfe beruhte. Nationale Identitäten standen offenkundig im Spannungsfeld zwischen transnationaler Orientierung und nationaler Verortung. Carl konstatiert, dass im Anschluss an humanistische Nationsdiskurse distinkte nationale Zuschreibungen innerhalb des Reichsadels vorhanden waren – lange vor dem von William Godsey angeführten Prozess während der Sattelzeit zwischen 1750 und 1850. Diese bezogen sich zum Beispiel auf die Vorstellung einer spezifisch reichsständischen Freiheit, die der deutsche Adel für sich proklamierte. Zudem behauptete er eine Vorrangstellung innerhalb der Christenheit, weil die europäischen Adelsgesellschaften auf germanische Abstammung zurückzuführen seien. Die nationalen Diskurse waren aber nur von untergeordneter Bedeutung.

Die „kulturelle Toleranz der deutschen Nation im europäischen Vergleich“ diskutiert Joachim Whaley in einem aufschlussreichen Beitrag. Er betont, dass sich frühneuzeitliche Nationsvorstellungen grundlegend vom modernen Nationalismus unterscheiden. Als Argument führt er unter anderem die individuelle Zustimmung zu einer staatlichen Gemeinschaft an, die wichtiger war als Herkunft oder Abstammung. Seiner Meinung nach gab es keinen „Königsweg“ frühmoderner Nationsbildung. Wie Deutschland waren auch viele andere europäische Staaten kulturell und ethnisch gemischt. Durch die Verbreitung humanistischer Weltanschauung verliefen die verschiedenen nationalen Diskurse relativ gleichförmig, wie die Beschäftigung mit Ursprungsmythen oder Freiheitsdiskursen zeigt.

Klaus Pietschmann untersucht in der letzten Sektion die Konstruktion einer nationalen Identität am Beispiel des deutschsprachigen Musiktheaters, das in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einem tiefgreifenden sozialen und musikalischen Wandel unterlag. Durch Förderung des Kaiserhauses und Teile der deutschen Aristokratie wurde neben der italienischen Oper – seit dem 16. Jahrhundert Ausdruck europäischer Adelskultur – das bürgerliche Singspiel aufgenommen und teilweise in diese integriert. Mischformen und eine soziale Verbreiterung des Publikums waren die Folge. Das Musiktheater wurde zum Medium eines Patriotismusdiskurses, der – parallel zum nationalen Schrifttum – deutsche Tugenden und historische Größe in einem national geeinten Vaterland transportierte.

Der Band vereinigt eine Reihe weiterführender und anregender Beiträge, die die Frage nach einem deutschen Sonderweg in der Geschichte relativieren. Gerade der europäische Vergleich erweitert den Blickwinkel auf die deutsche Nation erheblich und zeigt, dass nationale und patriotische Diskurse seit dem Humanismus zum Gemeingut europäischer Gebildeter gehörten, die mit den Inhalten eigene nationale Identitäten konstruierten. Patriotische Vorstellungen und nationalkulturelle Zuschreibungen konnten besonders in Krisen- und Kriegszeiten aktiviert werden, waren aber im Vergleich zu modernen Nationskonzepten von nachrangiger Bedeutung. Den Autoren/innen gelingt es, die komplexen Sachverhalte anschaulich und verständlich darzustellen. Insgesamt betrachtet, ein lesenswerter und informativer Band, der in vielerlei Hinsicht Denkanstöße für die Forschung, nicht nur die frühneuzeitliche, bietet.

Anmerkungen:
1 Friedrich Schiller, Xenien 1796; zitiert nach: Erich Schmidt / Bernhard Suphan (Hrsg.), Nach den Handschriften des Goethe- und Schiller-Archivs. Mit einem Faksimile, Weimar 1893, Nr.122.
2 Vgl. Wolfgang Burgdorf, Tagungsbericht zu: Die deutsche Nation im frühneuzeitlichen Europa. Politische Ordnung und kulturelle Identität?, München 13.-15.03.2008, in: H-Soz-u-Kult, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=2057> (07.04.2008).