Cover
Titel
Holocaust Memory and the Cold War. Remembering across the Iron Curtain


Herausgeber
Koch, Anna; Stach, Stephan
Reihe
Rethinking the Cold War
Erschienen
Anzahl Seiten
VIII, 323 S.
Preis
€ 94,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Schuch, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Die Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen (NS) Massenmord an den Jüdinnen und Juden Europas war in Zeiten der globalen Blockkonfrontation stets umkämpft: In Ost und West wurde sie als geschichtspolitische Waffe verwendet. Diese Nutzbarmachung des Holocaust war allerdings von verschiedenen Faktoren abhängig, wie die Herausgeber:innen des vorliegenden Bandes „Holocaust Memory and the Cold War“ ausführen: „The extent to which the memory of the Holocaust was used as ammunition in the bloc confrontation depended on the cycles of public interest and, especially east of the Iron Curtain, on whether the topic fit the current political agenda.“ (S. 11) Dass es überhaupt eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Holocaust im „Ostblock“ gab, wurde in der Forschung bis vor etwa einer Dekade noch kaum beachtet oder als vermeintlich „unauthentisch“, ja ideologisch abgewertet.1 Grundlage für den neuen Sammelband war eine im Jahr 2018 von den beiden Herausgeber:innen organisierte Konferenz an der University of York.2 Den Ausgangspunkt bildete folgende Beobachtung: „[T]he volume editors realized that while there is significant discussion on how Communism and national particularities influenced Holocaust memory, there is little research that openly addresses the impact of the Cold War on Holocaust memory.“ (S. V) Damit reiht sich das Buch in einen aktuellen historiographischen Trend ein, der die Erforschung des Kalten Krieges eng mit der Nachgeschichte des Holocaust verbindet. Dies umfasst die Strafverfolgung der Täter und die (frühe) wissenschaftliche Erforschung der NS-Verbrechen ebenso wie künstlerische Repräsentationen.3

In den zwölf Beiträgen des Bandes geht es nicht nur um den Einfluss des Kalten Krieges auf die globalen Holocaust-Diskurse, sondern besonders um das Überschreiten des „Eisernen Vorhangs“. Im Zentrum der Texte stehen fragmentierte und verflochtene Erinnerungen an den Holocaust jenseits der scheinbar eindeutigen Geschichtsbilder in Ost und West. Obwohl es keine Einteilung der Beiträge in bündelnde Kapitel gibt, konzentriert sich der Band inhaltlich auf drei zentrale Bereiche: Erstens der Einfluss der Blockkonfrontation auf die Deutungen des Holocaust in Ost wie West, zweitens die verschiedenartigen Interpretationen jenseits der staatsoffiziellen Geschichtsbilder, drittens die konkreten Formen der Zusammenarbeit, die sich aus einer partiellen Durchlässigkeit der Blockgrenzen ergaben. Die Beiträge zeigen, dass jüdische und nicht-jüdische Akteur:innen aus verschiedenen Ländern in Ost und West kooperierten, um wissenschaftliche Forschung, justizielle Ahndung, künstlerische Verarbeitung und öffentliches Gedenken an den Holocaust zu fördern. Geographisch fokussieren sich die Beiträge auf das geteilte Deutschland, die USA, Polen, die UdSSR, Frankreich und Israel. Thematisch widmen sich die Aufsätze den vielfältigen Gerichtsprozessen gegen NS-Täter, filmischen Verarbeitungen des Holocaust, Kunstwerken, Literatur und wissenschaftlichen Publikationen sowie verschiedenen Gedenkpraxen.

Elisabeth Gallas betont in ihrem Aufsatz „The New York Black Book of 1946“ die transatlantischen Kooperationsbemühungen jüdischer Akteur:innen in den USA und der Sowjetunion am Beispiel eines der frühesten Dokumentationsprojekte über den Holocaust. Die Zusammenarbeit scheiterte sowohl an der Blockkonfrontation als auch am stalinistischen Antisemitismus. In den Beiträgen von Boaz Cohen und Simon Perego wird deutlich, dass der Kalte Krieg sich nicht nur zwischen den Supermächten, sondern auch innerhalb eines Staates massiv auf die Memorialkultur auswirken konnte. In Israel betraf dies die verschiedenen Ansätze des sozialistisch geprägten Ghetto Fightersʼ House und der zionistischen Gedenkstätte Yad Vashem. Für das Fallbeispiel Paris führt Perego aus, dass sich innerhalb der jüdischen Communities erhebliche Spaltungen vollzogen. Dies weist er anhand der Gedenkveranstaltungen von sozialistischen Bundisten, Zionisten und jüdischen Kommunisten eindrücklich nach.

Arkadi Zeltser stellt in seinem instruktiven Aufsatz über das Holocaust-Gedenken in der Sowjetunion der 1960er-Jahre die These auf, dass die öffentliche Auseinandersetzung mit der Spezifik des NS-Massenmordes an den Jüdinnen und Juden durch den Kalten Krieg überhaupt erst möglich geworden sei: „The Cold War served as a catalyst for abandoning the policy of ignoring the Holocaust in the USSR.“ (S. 116) Gerade die politische Nutzung des Holocaust für Angriffe auf den Westen sei ein Grund für die verstärkte Beschäftigung mit dem Holocaust in der Sowjetunion gewesen – besonders mit der (Nicht-)Verfolgung von NS-Tätern (im Westen). Dies bestätigt auch der Beitrag von Jonathan Kaplan, der sich mit der „Aktion Nazidiplomaten“ beschäftigt und nachweist, dass das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR sich für diesen Zweck in den 1960er-Jahren explizit an jüdische Organisationen in den USA wandte. Jüdische Organisationen (und darin vielfach Holocaust-Überlebende) waren maßgeblich an der transnationalen Produktion und Migration von Wissen über den Holocaust beteiligt, wie Nadège Ragaru am Beispiel des Prozesses von 1967/68 gegen Adolf-Heinz Beckerle in der Bundesrepublik Deutschland zeigt. Als deutscher Gesandter in Sofia hatte Beckerle wesentlich an der Deportation von Jüdinnen und Juden aus Südosteuropa mitgewirkt.

Auch die kulturelle Verarbeitung des Holocaust wird als ein transnationaler Kulturtransfer untersucht. So beschäftigt sich Vanessa Voisin mit der Darstellung von Kriegsverbrechen in sowjetischen Dokumentarfilmen. Máté Zombory weist nach, dass eine Universalisierung von Auschwitz im Sozialismus im Medium des Dokumentarfilms besonders durch einen antifaschistischen Humanismus realisiert werden konnte. Irina Tcherneva analysiert das Gemälde „Der letzte Weg“ (1944–1948) des jüdisch-ukrainischen Künstlers Yosef Kuzkovski, das die Massenerschießungen von Babyn Jar repräsentiert. Anhand der Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte des Kunstwerks kann sie eindringlich aufzeigen, welche Transformationsprozesse die private und öffentliche Erinnerung an den Holocaust von der Ukraine bis nach Israel vollzog. Magdalena Saryusz-Wolska untersucht literarische und filmische Auseinandersetzungen anhand einer Erzählung des westdeutschen Schriftstellers Hans Scholz („Am grünen Strand der Spree“, 1955; dann 1960 als Fernsehserie umgesetzt).4

Westdeutschland steht auch im Fokus des Beitrags von Anna Pollmann, die sich mit dem Schriftsteller und Philosophen Günther Anders beschäftigt. Pollmann zeigt, wie die westdeutsche Protestbewegung sein Werk rezipierte und die Gefahr einer atomaren Zerstörung der Welt mit der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg sowie den Holocaust verband. Die für den Band titelgebende Formulierung „Across the Iron Curtain“ wird biographisch besonders greifbar im Aufsatz der beiden Herausgeber:innen über den polnisch-italienischen survivor scholar Alberto (Aaron) Nirenstein (1916–2007). In einem close reading setzen sich Koch und Stach mit seinen Schriften in Polen und Italien auseinander, vor allem mit seinem 1958 erstveröffentlichen Buch über den jüdischen Widerstand in Polen während der NS-Besatzung. In den USA wurde Nirenstein eine ideologisierte marxistisch-leninistische Deutung des Holocaust vorgeworfen. Dies sei schließlich auch der Grund dafür gewesen, dass er bis an sein Lebensende ein Außenseiter innerhalb der (frühen) internationalen Holocaustforschung blieb.

Erstaunlicherweise beschäftigt sich keiner der Beiträge explizit mit NS-Gedenkstätten an den historischen Orten der Verbrechen, und auch in der Einleitung werden sie kaum erwähnt. Die Einbeziehung dieser Kristallisationspunkte des Holocaust-Gedenkens im Kalten Krieg hätte die Perspektive noch erweitern können und sollte in zukünftigen Studien stärkere Beachtung finden. Insgesamt hat der hervorragende Band das Potenzial, zu einem Umdenken sowohl innerhalb der Cold War Studies als auch im Bereich der Holocaust Studies beizutragen: Eindringlich wird nachgewiesen, dass über die Blockgrenzen hinweg ein Wissenstransfer zwischen Ost und West stattfand. Insbesondere Überlebende der NS-Verbrechen kooperierten, um den Holocaust auf verschiedenen justiziellen, politischen, wissenschaftlichen und kulturellen Ebenen aufzuarbeiten.5 Der Band sei allen zur Lektüre empfohlen, die sich für eine Verflechtungsgeschichte des Holocaust-Gedenkens in Zeiten des Kalten Krieges interessieren.

Anmerkungen:
1 Vgl. Kata Bohus / Peter Hallama / Stephan Stach, Introduction, in: dies. (Hrsg.), Growing in the Shadow of Antifascism. Remembering the Holocaust in State-Socialist Eastern Europe, Budapest 2022, S. 7–15; rezensiert von Monika Heinemann, in: H-Soz-Kult, 21.03.2024, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-131854 (18.01.2025).
2 Vgl. Robert Knight, Tagungsbericht: Remembering Across the Iron Curtain. The Emergence of Holocaust Memory in the Cold War Era, in: H-Soz-Kult, 12.11.2018, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-126496 (18.01.2025).
3 Vgl. Ella Falldorf / Katharina Langolf / Galina Lochekhina, Tagungsbericht: Art of the Holocaust until 1989. Beyond an East / West Divide, in: H-Soz-Kult, 26.10.2022, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-130431 (18.01.2025); Sara Berger / Jasmin Söhner / Markus Wegewitz, Tagungsbericht: The Holocaust and the Cold War. Culture and Justice, in: H-Soz-Kult, 16.10.2021, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-127647 (18.01.2025).
4 Siehe auch Magdalena Saryusz-Wolska, Mikrogeschichten der Erinnerungskultur. „Am grünen Strand der Spree“ und die Remedialisierung des Holocaust by bullets, Berlin 2022, https://doi.org/10.1515/9783110745528 (18.01.2025).
5 Siehe dazu auch Regina Fritz / Eva Kovács / Béla Rásky (Hrsg.), Als der Holocaust noch keinen Namen hatte / Before the Holocaust Had Its Name. Zur frühen Aufarbeitung des NS-Massenmordes an den Juden / Early Confrontations of the Nazi Mass Murder of the Jews, Wien 2016; rezensiert von Philipp Neumann-Thein, in: H-Soz-Kult, 21.10.2016, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-23564 (18.01.2025). Einzelne Autor:innen aus dem hier vorgestellten Band von 2024 waren bereits an dieser früheren richtungsweisenden Publikation beteiligt.