J. Elberfeld u.a. (Hrsg.): Das schöne Selbst

Titel
Das schöne Selbst. Zur Genealogie des modernen Subjekts zwischen Ethik und Ästhetik


Herausgeber
Elberfeld, Jens; Otto, Marcus
Reihe
Literalität und Liminalität
Anzahl Seiten
430 S.
Preis
€ 36,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Hoffmann, Institut für Sozialwissenschaften, Universität Oldenburg

Unter dem „Selbst“ wird in den Sozial- und Geschichtswissenschaften eine Subjektivierungsweise verstanden, die über bestimmte Formen des Selbstbezugs gesellschaftliche Strukturen individuiert, reproduziert, verändert und dabei auf eine Substanz des Subjekts zielt (wie Formen von Identität und Selbstbewusstsein).1 Im Anschluss an Michel Foucault wird das Selbst als historisch kontingent und sozial konstituiert begriffen. Vergesellschaftung in der Moderne lässt sich demzufolge stets auch mit „Vergeselbstung“ übersetzen.

Subjektivierungsprozesse finden in unterschiedlichen Kontexten statt (Sexualität, Ökonomie, Militär usw.), wobei die Liminalität von Ethik und Ästhetik eine wesentliche, aber bisher unterbelichtete Dimension darstellt. Ausgehend von der These, dass die Unterscheidung von Ethik und Ästhetik jeweils historischen Grenzverläufen folgt, analysieren die Autorinnen und Autoren ausgewählte Subjektivierungen. Das Selbst erweist sich dabei als ethisch-ästhetisches Doppelwesen. Die historischen Grenzverläufe verlaufen im und durch das Selbst hindurch. Ethik und Ästhetik modellieren dabei Machtverhältnisse, die gleichermaßen Subjektformen und die Gesellschaft, in welcher diese auftreten, charakterisieren. Der Sammelband verfolgt damit sozusagen ein Programm einer poststrukturalistischen Gesellschaftsgeschichte bzw. versucht den Nachweis, dass eine Geschichte der Moderne nicht ohne eine Geschichte des Selbst auskomme.

Eine Diskontinuität in der Subjektivierung machen die Herausgeber um die Jahrhundertwende 1900 aus. In diesem Zeitraum sei das „produktive Spannungsverhältnis“ von Ethik und Ästhetik von einem biopolitischen Dispositiv „überformt worden“ (S. 24). Anhand der Gegenüberstellung einzelner Beiträge lässt sich diese These konturieren. Sandra Maß geht in ihrem Beitrag über monetäre Kindererziehung auf ethische Subjektivierungen ein. Die Disziplinierung ökonomischen Verhaltens war in der Vormoderne vor allem an Fürsten und Hausväter adressiert. Als sich mit der Aufklärung das Verständnis von Erziehung änderte, geriet auch das ökonomische Verhalten von Kindern in Blick. Pädagogische Maßnahmen zielten nun auch auf den zu entwickelnden Subjektstatus des Kindes, der vor allem durch Übung und Verinnerlichung bestimmter Verhaltensweisen geformt werden sollte, etwa mithilfe des Taschengeldes. Monetär-pädagogische Diskurse verknüpften die Frage nach dem richtigen ökonomischen Verhalten mit anthropologischen und ethischen Fragen: Ist Geld ein geeignetes Mittel zu Kontrolle der menschlichen Triebe oder eher Ausdruck unkontrollierter Leidenschaften? Die monetäre Erziehung zielte auf eine ethische Konstitution der Heranwachsenden, welche diese in den Stand versetzen sollte, sicher zwischen Maßlosigkeit und Geiz zu unterscheiden. Über ästhetische Bezüge solcher Subjektivierungspraktiken erfährt man dabei so gut wie nichts, wohl aber in dem Beitrag von Sven Oliver Müller zum Wandel des Publikumsverhaltens in der Berliner Oper während des neunzehnten Jahrhunderts. Er beschreibt spiegelbildlich ästhetische Subjektivierungen, die zunächst keine ethischen Bezüge aufzuweisen scheinen. Mitte des Jahrhunderts setzte sich in den deutschen Opernhäusern ein Publikumsverhalten durch, das sich am stillen und disziplinierten Kunstgenuss orientierte und sich darin vom Rummel früherer Opernabende unterschied.

In den Beiträgen von Maß und Müller sind jeweils ästhetische bzw. ethische Bezüge unterschwellig vorhanden, scheinen aber in den Quellen nicht explizit erwähnt zu werden. Gemeinsam ist den vorwiegend bürgerlichen Subjektivierungen aber der Versuch, durch Praktiken der Selbstdisziplinierung einen ethisch oder ästhetisch einwandfreien Zustand zu erreichen. Aus dem Vergleich beider Aufsätze lässt sich mit Blick auf die These von einer biopolitischen Schwelle zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts festhalten, dass ethische und ästhetische Subjektivierungen zuvor zwar auf ein Individuum bezogen sein konnten, aber in unterschiedlichen Kommunikationszusammenhängen vollzogen wurden (zum Beispiel Familie versus Oper). Dies änderte sich gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts mit den Hygiene- und Lebensreformbewegungen. Diese These wird im Beitrag von Daniel Siemens zum Vegetarismus und von Jens Elberfeld zur jüdischen Turnerschaft herausgearbeitet. Turnen stellte im neunzehnten Jahrhundert den klassischen Fall einer Disziplinartechnologie dar, nach der individuelle (vorwiegend männliche) Körper in detaillierten Übungen gedrillt wurden. Das Turnen galt als vormilitärische Ausbildung. Diese Form der Disziplinierung wurde gegen Ende des Jahrhunderts in Frage gestellt. Der Imperativ zur Ertüchtigung verlagerte sich dabei von den Ausbildern in die Auszubildenden hinein. Aus soldatischem Drill wurde „Selbstzucht“ (S. 175) und zugleich ein universaler Anspruch (S. 178).

Eine weitere Etappe im historischen Grenzverlauf von Ethik und Ästhetik bildeten die 1960er- und 1970er-Jahre. Dies wird im Aufsatz von Marcel Streng zum Hungerstreik zwischen Freitod und Überlebenskunst beschrieben. Während Hunger im neunzehnten Jahrhundert auf eine verantwortungslose Lebensführung zurückgeführt wurde, galt Hunger zur Jahrhundertwende zunehmend als überindividuell verursachtes Leid. Damit wurden Hungernde einerseits zu Adressaten „wohlfahrtsstaatlicher Gesellschaftlichkeit“ (S. 334) und andererseits war es damit möglich aus dem Hungern eine „Hungerkunst“ (ebd.) zu machen, also ein ethisches Vermögen, mit dem männlich-bürgerliche Subjekte ihre Willenskraft demonstrieren konnten. Subjektivierung im Hungerstreik „impliziert [seit dem] auf einander bezogene Ethisierungs- und Ästhetisierungsprozesse“ (S. 334-335). Zwar gab es auch andere Strategien der Subjektivierungen „im Medium des Hungerns“ (S. 360), der Bezug auf den Hungerstreik, insbesondere der RAF-Gefängnisinsassen, war allerdings Marcel Streng zufolge zentral. Der politische Hungerstreik markiere die „Normalitätsgrenzen“ (S. 361) innerhalb derer die Kunst des Hungerns in unterschiedlichen Milieus als Weg zum Selbst zelebriert werde. Marcel Streng führt die Einrichtung einer Zone des normalen Hungerns (etwa das Fasten im Rahmen eines Lifestyles) zwischen Freitod und Überlebenskunst unter anderem auf Liberalisierungsprozesse des Sozialstaats während der 1970er Jahre zurück. Wie Hungerstreik und gesellschaftliche Transformationsprozesse genau zusammenhängen, bleibt allerdings unklar.

Insgesamt lassen sich zwei wichtige historische Diskontinuitäten des Verhältnisses von Ethik und Ästhetik in Subjektivierungsprozessen rekonstruieren. Erstens gab es eine biopolitische Schwelle zur Jahrhundertwende, nach der Subjektivierung vor allem als Internalisierung biopolitischer Imperative wirkte. Das Selbst hatte damit zugleich seine Individualität und die biologische Rasse zu verkörpern.

Die zweite Diskontinuität ist nach der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts zu bestimmen. Die Bevölkerung ist seither weniger als Volkskörper, sondern eher als sozialstaatliche Größe entworfen. Subjektivierung folgt weiterhin biopolitischen Imperativen, diffundiert jedoch in unterschiedliche Felder und wird effizienter. Ob Yoga, Hungern oder Wellness – alle lassen sich auf einen Nenner bringen: Es geht darum, über Formen des Selbstbezugs eine Subjektivität zu konstituieren, die zugleich ethisch und ästhetisch und nicht auf unterschiedliche Kommunikationskontexte verwiesen ist. „Sich wohl fühlen, gesund sein, attraktiv sein“ bildet den normativen Grund moderner ethisch-politischer Verantwortlichkeit und ästhetischer Vollkommenheit.

Diese Thesen herauszuarbeiten macht allerdings Mühe, da der Leser mit lesenswerten und instruktiven Informationen versorgt – und dann allein gelassen wird. Nur ein wiederholter Blick in die Einleitung verhilft zu einem Überblick. Es wäre hilfreich gewesen, die gemeinsame theoretische Grundlage auch in die einzelnen Aufsätze aufzunehmen und am Material zu prüfen. Durch den Sammelband geisternde Begriffe wie „Performativität“ und „Dispositiv“ wirken oftmals wie ein Augenzwinkern für Eingeweihte, als wären weitere Erläuterungen überflüssig. Der Erkenntnisgewinn wird nicht deutlich. Andererseits wäre es ein Gewinn für theoretisch anspruchsvolle Beiträge, wie die von Marcus Otto oder Massimo Perinelli, wenn sie mehr auf sozialgeschichtliche Realitäten Bezug nehmen würden.

Gewinn und Problem des Sammelbandes ist aber, dass sich ethische und ästhetische Momente der Subjektivierung nur schwer trennen lassen. Dies führt einerseits dazu, dass die Unterscheidung von Form und Inhalt, die selbst als Effekt der Diskurse um Ethik und Ästhetik in der Moderne gelesen werden kann, sich auch im Quellenzugriff wiederholt. Ethik, das ist Kapitalismus und Politik. Ästhetik, das ist Fotografie und Frisur. Andererseits werden reflexive Denkräume erst durch Bücher wie dieses eröffnet. Der Spaß an der Lektüre wird zudem dadurch erhöht, dass die einzelnen Aufsätze sich unterschiedlich anordnen und in verschiedene Zusammenhänge einfügen lassen, je nach dem, ob man zum Beispiel eher an Bilddiskursen interessiert ist oder am subversiven Umgang mit Ethik und Ästhetik.

Insgesamt zeigt der Sammelband, dass eine Geschichte der Moderne nicht ohne eine Geschichte des Selbst auskommt. Aber es wird letztlich nicht deutlich, wie die Autoren von vielen Geschichten des Selbst zu einer Gesellschaftsgeschichte kommen wollen.

Anmerkung:
1 Vgl. etwa Sabine Maasen, Zur Genealogie der Unmoral. Zur Therapeutisierung sexueller Selbste, Frankfurt am Main 1998; Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt am Main 2007; Andreas Reckwitz, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006.

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