S. Zahlmann (Hrsg.): Wie im Westen, nur anders

Cover
Titel
Wie im Westen, nur anders. Medien in der DDR


Herausgeber
Zahlmann, Stefan
Erschienen
Berlin 2010: Panama
Anzahl Seiten
424 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerd Dietrich, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Nach dem erfolgreichen und verdienstvollen Buch „Vergnügen in der DDR“1 schickt der Panama Verlag gleich einen weiteren reizvollen Band hinterher: „Medien in der DDR“. Eine ebenso erstaunlich vielfältige und facettenreiche Sammlung, die wissenschaftliche Studien, persönliche Erinnerungen, subjektive Zugriffe, literarische Texte und fotografische Eindrücke vereint.

In zwei wesentlichen Aspekten geht der Band über bisherige Konzepte und Forschungen zur ostdeutschen Mediengeschichte hinaus: Zum Ersten werden der klassische Medienbegriff und die klassische Medienanalyse erweitert. Der angebots- und institutionenzentrierte Ansatz wird durch einen komplexen Zugang ersetzt, der Rezeptions- und Produktionskultur gleichermaßen berücksichtigt, der ein Konzept reflexiv agierender Mediennutzer und -produzenten verfolgt, die als „historische Subjekte eigenständige Reaktionen zeigen“, sodass „sowohl auf Seiten der Produktion als auch der Rezeption ein bewusster Umgang mit Machtverhältnissen im Sinne von Widerständigkeit und Affirmation erkennbar ist“ (S. 23). Zum Zweiten kommt ein kulturhistorischer Zugang zum Tragen. Konvergenter Vergleich mit der Bundesrepublik und divergente Spezifizierung für die DDR, wie es der Titel zum Ausdruck bringt. Der Westen als Außen und Innen. „Medien in der DDR konnten ‚Westen‘ sein und zugleich etwas anderes als das Schaufenster eines Systems. Gleichsam intuitiv verweisen viele Beiträge auf den Menschen und den von ihm zu verantwortenden Umgang mit den Medien als eigentlichen Orientierungspunkt einer kulturgeschichtlichen Perspektive auf die ostdeutsche Gesellschaft.“ (S. 26/27) Stefan Zahlmann in seinem Vorwort: „Medien in der DDR. Medienproduktion und Medienrezeption als kulturelle Praktiken“ und Christoph Classen in den Nachbetrachtungen: „DDR-Medien im Spannungsfeld von Gesellschaft und Politik“ führen diese beiden hervorzuhebenden theoretischen und konzeptionellen Aspekte überzeugend aus.

In fünf Abschnitten werden sodann die Bereiche „lesen“, „sehen“, „inszenieren“, „hören“ und „spielen“ thematisiert. Den Reigen unter dem Oberbegriff „lesen“ eröffnen Michael Meyen und Anke Fiedler mit einem Beitrag zu den Tageszeitungen und Kommunikationsstrukturen in der DDR. Sie zeigen auf, dass diese sehr differenziert genutzt und gelesen wurden. Sylvia Klötzer folgt mit konkreter Satire im „Eulenspiegel“, die ebenso mit gegenläufigen Lesarten verbunden sein konnte. Claudia Rusch stellt ihr erstes Märchenbuch als Teil literarischer Sozialisation und lebendiger Erinnerungskultur vor. Ihr Vater Thomas Rusch berichtet davon, wie er die Samisdatzeitschrift „Mikado“ kopierte und zu deren Verbreitung beitrug. Und Patricia F. Zeckert schreibt über das Schauen, Lesen und Klauen von „Westliteratur“ auf der Leipziger Buchmesse und die Möglichkeiten des individuellen Umgangs mit den Texten.

Die Rubrik „sehen“ leitet Knut Hickethier mit einem Aufsatz über das Fernsehen der DDR ein, der die politischen Anforderungen an das DDR-Fernsehen ebenso im Blick hat wie das Aufgehen ostdeutscher Formate in die gesamtdeutsche Fernsehlandschaft. Uwe Breitenborn widmet sich in „Spurrinnen und Leitplanken“ den Genre- und Formatentwicklungen im DDR-Fernsehen und überschreitet damit schon den deutsch-deutschen Kontext. Thomas Beutelschmidt und Henning Wrage brechen die einseitige Perspektive auf das Fernsehen auf und analysieren unter der Überschrift „Synergie, Abwehr, Reflexionen“ Themen, Narrative und ihre Konjunkturen in Kino und Fernsehen, Theater und bildender Kunst. Mathias Steinle beschäftigt sich mit der „scharfen Waffe“ der Propaganda in staatspolitisch wichtigen DEFA-Filmen, deren argumentativen und ästhetischen Mängeln und deren Ablehnung durch das Publikum. Und die ehemalige DEFA-Dramaturgin Erika Richter klärt uns in einem emotional ergreifenden Text darüber auf, warum es nicht zur Verfilmung der Rockoper „Paule Panke“ gekommen ist.

Im Abschnitt „inszenieren“ geht es um Beiträge, die verschiedene Formen des „In-Szene-Setzens“ von DDR-Wirklichkeit vorstellen. Günter Agde schreibt in „Lebensräume – Spielräume“ über den sozialen Anspruch der Filmarchitektur in den DEFA-Filmen, einer bisher oft vernachlässigten Kategorie der Mediengeschichte. Zugleich ordnet er die Gruppe der Filmarchitekten in den internationalen kulturellen Zusammenhang ein. Volker Petzold erinnert an den Seemann, der Sehnsucht hat, und damit an die Anfänge und die Entwicklung des Puppentrickfilms, dessen Einsatz in Werbung und Unterhaltung und dessen enge Vernetzung mit west- und osteuropäischen Medienkulturen. Am Beispiel des Musikvideos belegt er gar dessen übersehene Rolle als ästhetische Avantgarde. Gregor Schitkowsky geht den Unterrichtsmedien in der DDR auf den Grund: theatralische Selbstinszenierung von Lehrern und Schülern, Mediennutzung als leere Pflichtübung ohne innere Überzeugung. Ulrike Häußer interpretiert die Langzeitdokumentation „Die Kinder von Golzow“ als ostdeutsche Wendeerzählung zwischen Mauerfall und Vereinigung, in der das bisherige inszenierte Sprechen nicht mehr funktioniert und sich ein neues Verhältnis zwischen Dokumentarfilmer und Dokumentierten einstellt. Und Eberhard Finck erinnert sich des Tanztheaters in der DDR als eines Bereichs ostdeutscher Kultur, der frei von politischen Einflüssen war; wie er als gelernter Zimmermann Solist des Staatstheaters Cottbus werden konnte, oder anders gesagt: wie die Arbeiter Kultur erleben sollten.

Der Teil „hören“ beginnt mit Klaus Arnolds umfassender Geschichte des DDR-Rundfunks „Musikbox mit Volkserziehungsauftrag“, in der er die Schere zwischen den Interessen der ostdeutschen Hörer und den politisch Mächtigen auf mehreren Ebenen verfolgt. In einem zweiten Beitrag zum Radio widmet sich Christian Könne den Sonderformaten „Ferienwelle“ und „Messewelle“ vor allem in den 1950- und 1960er-Jahren, deren regionalen und zeitlichen Funktionen wie ihrer breiten Rezeption bei den Hörern. Und Jochen Voit stellt die Schallplattenfirma „Lied der Zeit“ von 1946 bis 1953 vor: „Capris Fischer unter Spaniens Himmel“. Seine Darstellung zeigt die Anfänge des späteren Monopolbetriebs der DDR mit seinen Labeln Amiga und Eterna auf und umreißt die politischen und ästhetischen Kontroversen um deren Programm wie ihren Gründer Ernst Busch.

Schließlich geht es ums „spielen“ wie auch darum, dass die ost- und westdeutschen Medienlandschaften sich zum Verwechseln ähnlich sein konnten. Marcus Merkel schildert in „Einarmige Banditen im Sozialismus“, wie 1956-1958 das Automatenglücksspiel in der DDR etabliert werden sollte. Seitens des Finanzministeriums der DDR war man bereit, Glücksspielautomaten aufzustellen. Das Ministerium des Innern aber stigmatisierte öffentliches Glücksspiel als Hemmnis der sozialistischen Bewusstseinsbildung. Schließlich setzten sich die ökonomischen Interessen gegenüber den ideologischen und moralischen Bedenken durch. Und Boris Kretzinger beschäftigt sich mit Computer- und Videospielen in der DDR: „Pac-Man vs. Hase und Wolf“. Er bietet einen Einblick in eine Praxis ostdeutscher Mediennutzung, der weitgehend unbekannt ist, aber zugleich auf eine vergleichbare Mediensozialisierung wie im Westen verweist.

Leider kann hier nicht auf die einzelnen Beiträge näher eingegangen werden, aber schon ihre Titel und ihre Aufzählung geben eine Andeutung davon, wie klug, vielseitig, interessant und anregend dieser Band zusammengestellt ist. Einmal mehr wird damit nachgewiesen, wie wichtig es ist, die innere und „konstitutive Widersprüchlichkeit“2 der DDR und ihre „unaufhebbare Multiperspektivität“3, die Grenzen des Herrschaftsanspruchs von Partei und Staat und den erstaunlichen Eigen-Sinn seiner Bürger zu erfassen. Dabei geht es nicht um Verklärung der DDR, sondern um ein „ganz normales Leben“.4 Der Band „Medien in der DDR“ liefert ebenso wie „Vergnügen in der DDR“ einen wertvollen Beitrag zu einer Kulturgeschichte der DDR, die freilich noch geschrieben werden muss.

Anmerkungen:
1 Ulrike Häußer / Marcus Merkel (Hrsg.), Vergnügen in der DDR, Berlin 2009. Vgl. Christopher Görlich: Rezension zu: Häußer, Ulrike; Merkel, Marcus (Hrsg.): Vergnügen in der DDR. Berlin 2009, in: H-Soz-u-Kult, 21.07.2010, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2010-3-048> (16.03.2011).
2 Detlef Pollack, Die konstitutive Widersprüchlichkeit der DDR. Oder: war die DDR-Gesellschaft homogen?, in: Geschichte und Gesellschaft, 24. Jg. 1998 / Heft 1, S. 110-131.
3 Martin Sabrow, Die DDR im nationalen Gedächtnis, in: Jörg Baberowski u.a., Geschichte ist immer Gegenwart. Vier Thesen zur Zeitgeschichte, Stuttgart München 2001, S. 107.
4 Mary Fulbrook, Ein ganz normales Leben. Alltag und Gesellschaft in der DDR, Darmstadt 2008.

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