Schreibkalender im 17. Jahrhundert

: Die Schreibkalender im Kontext der Frühaufklärung. . Jena 2010 : Verlag HKD, ISBN 978-3-941563-14-8 310 S. € 45,00

: Mecklenburgischer Schreib-Calender für das Jahr 1685. Hrsg. v. Klaus-Dieter Herbst, mit Beiträgen von Klaus-Dieter Herbst und Jürgen Hamel. Jena 2009 : Verlag HKD, ISBN 978-3-941563-00-1 102 S. € 38,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Flemming Schock, Institut für Sprach- und Literaturwissenschaft, Technische Universität Darmstadt

Trotz größter „Volkstümlichkeit“1 kaum mehr als eine Fußnote: Die jährlich publizierten Haus- oder Schreibkalender gehören zu den erfolgreichsten Kleindrucken der Frühen Neuzeit. Dennoch sind sie in der Mediengeschichte weiter unterrepräsentiert, die wenigen Forschungen zum Thema Kalender konzentrierten sich zudem bislang auf das 18. Jahrhundert. Die Vernachlässigung des 17. Jahrhunderts wurde lange mit einem Überlieferungsmangel erklärt, was der sensationelle Fund von Klaus-Dieter Herbst im Jahr 2006 allerdings hinfällig gemacht hat: Im Altenburger Stadtarchiv tat der Astronomiehistoriker mehrere tausend Schreibkalender auch des 17. Jahrhunderts auf. Seitdem arbeitet Herbst mit viel Energie an der digitalen Verfügbarmachung dieses Quellenschatzes2 und veröffentlicht in Eigenregie die Reihe „Acta Calendariographica“. Die Doppelreihe bietet zum einen den Reprint ausgewählter „inhaltlich bedeutsamer Schreibkalender“ (S. 9) und zum anderen „Forschungsberichte“; deren erster Teil lieferte ein bibliographisches Gesamtverzeichnis der großen Schreibkalender des 17. Jahrhunderts.3 In dem hier vorliegenden zweiten Teil geht es Herbst sehr deutlich um den Quellenwert der Kalender für die Erforschung der Frühaufklärung ab 1650. Bestimmte Kalenderreihen besitzen, so die zentrale These, eine „weitaus größere Relevanz für die Erforschung der Frühaufklärung in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts“ (S. 9) als bislang behauptet. Auch mit seiner zweiten These sieht sich der Autor jenseits der „Lehrmeinung“ (S. 19): Für Herbst koppelt sich der Eintritt der deutschen Frühaufklärung nicht an Institutionen (Universitäten) und überhöhte „Initialfiguren“ (S. 14), sondern an ein Naturereignis, das zugleich ein Medienereignis war (leider findet diese Kategorie jedoch keine Verwendung): die viel debattierte Sonnenfinsternis des Jahres 1654. Die Konzentration auf ein Schlüsselereignis in der öffentlichen „Formierung der Aufklärung“ (S. 14) gibt nicht nur den heuristischen Rahmen vor, sie schlägt auch eine plausible Schneise in die unglaubliche Materialmasse, da sich Herbst auf die Analyse der Schreibkalender von 1654 bis 1656 beschränkt.

Nach eingehenden Erläuterungen zur Quellenbasis widmet sich der Autor der Darstellung und Deutung der Sonnenfinsternis. Diese habe unter den Kalendermachern eine Diskussionsqualität entfacht, „wie sie es so noch nicht gegeben hatte“ (S. 37). In einer vergleichenden Analyse astronomischer Kalendergrundlagen zeigt Herbst zunächst, dass die Autoren um „astronomische Gewissheit“ rangen (S. 45) und bereits kritisch auf die Unzulänglichkeit bisheriger Messwerte aufmerksam machten. Den teils polemisch ausgetragenen Diskurs über die geforderte „Verbesserung der astronomischen Fundamente“ (S. 43) veranschaulicht die Darstellung mit umfassenden Quellenzitaten. Wie eng die heterogenen, teils schon empirischen Ansätze jedoch astrologischen Vorstellungsmustern verhaftet blieben, thematisiert der anschließende Abschnitt. Besonders die treffend herausgearbeitete Debatte um den Zusammenhang der Sonnenfinsternis mit verbreiteten Endzeiterwartungen zeigt die Schreibkalender als kulturelle Orientierungsmedien zwischen „Vernunfft“ (S. 75) und althergebrachten Auffassungen. Ein weiteres Kapitel erweitert die Perspektive auf das „Medienensemble“ (S. 89) als Ganzes und unterstreicht einmal mehr, dass die rege, öffentliche Mediendiskussion über die Sonnenfinsternis nicht auf die „Form einer gelehrten Kontroverse“ (S. 81) beschränkt blieb. Spannend ist vielmehr der intermediale, wechselseitige Charakter der Debatte – so widerlegten Kalender etwa astrologische Flugblattprognosen. Herbsts bilanzierender Vorschlag, in der Debatte über die Sonnenfinsternis von 1654 „eine der Wurzeln der deutschen Frühaufklärung“ (S. 128) festzumachen, mag etwas überpointiert klingen; sie ist jedoch durchaus plausibel und wird durch ein ergänzendes Kapitel gestützt: Die „Erosion des astrologischen Glaubens“ (S. 140) illustriert der Autor am Beispiel der Mondfinsternis von 1670. Anhand von Schreibkalendern aus den Jahren 1670 bis 1672 arbeitet die Analyse einen Wandlungsprozess heraus, in dem die Finsternisse zunehmend als „Objekte naturwissenschaftlicher Betrachtungen“ (S. 174) aufgefasst und astrologische Mutmaßungen marginalisiert wurden.

Die Fallbeobachtungen der ersten Kapitel führt Herbst in einem resümierenden Abschnitt über „Die Anfänge der Aufklärung in den Schreibkalendern“ (S. 177f.) im weiteren Kontext noch einmal zusammen. Hier gefällt besonders, dass die strukturelle Veränderungsdynamik des Kalenderwesens im späten 17. Jahrhunderts in seinen „Nahtstellen“ (S. 213) zu anderen Medien und Gattungen gesehen wird – so sei spätestens um 1700 weithin ein „Auszieren“ (S. 212) der Kalender mit zweitverwerteten Zeitungs- und Flugblattmaterialien zu beobachten. Vor allem der faszinierende Typus des Gesprächskalenders (seit 1658) zeigt, dass die Dialogfreudigkeit barocker Wissensrepräsentation schon früh medienübergreifende Züge trug und das charakteristische „Wechselspiel von Kritik und Beibehaltung des Alten“ (S. 205) idealtypisch transportierte. Das Aufklärungspotential der Kalender im Sinne einer Teilhabe an den experimentellen Verfahrensweisen der ‚wissenschaftlichen Revolution’ konkretisiert Herbst noch einmal an zwei Aspekten: der Ersetzung einer „astrologischen Wetterprognostik“ (S. 219) durch die systematische Beobachtung von Wettergesetzmäßigkeiten sowie der Tendenz, der alten Kategorie der Naturwunder (‚Wunderregen’ etc.) durch naturalisierende, ‚rationale’ Erklärungsmodelle allmählich den Boden zu entziehen. Hier macht der Autor zudem plausibel, dass die Kalender über die Publikation neuer astronomischer Erkenntnisse selbst die Rolle gelehrter Kommunikationsmedien annahmen und den Mangel deutschsprachiger Periodika kompensierten. Teils zu spekulativ („Eine fiktive Tischgesellschaft“, S. 255f.) argumentiert dagegen der folgende Abschnitt über die kommunikative Vernetzung der Kalendermacher mit anderen Gelehrten. Im letzten Kapitel wird noch einmal deutlich, dass die „Eliminierung der astrologischen Segmente aus den großen Schreibkalendern“ (S. 265) auch von ‚externen’ Einflüssen in Form offizieller Edikte reguliert wurde.

Der im Kontext der Kalenderedikte angeführte „Schreib=Calender“ (ab 1684) des Pfarrers Johann Moritz Poltz (1638-1708) wird als kommentierter, qualitativ überzeugender Faksimiledruck im zweiten hier vorliegenden Band verfügbar gemacht. Es ist zugleich die bereits dritte Publikation im Rahmen der „Acta Calendariographica – Kalenderreihen“. Auch hier geht es um die kommunikativen Leistungen und Potentiale des Mediums im Kontext der Frühaufklärung, zugleich aber um seine regionale Verortung: Die herausragende Rolle von Poltz’ Mecklenburgischem Kalender arbeiten die Beiträge von Klaus-Dieter Herbst und des Astronomiehistorikers Jürgen Hamel in ihrer knappen Würdigung konzise heraus: die in dieser Radikalität untypische Zurücknahme astrologischer Prognostik aufgrund selbstständiger astronomischer Erkenntnisse und die Nutzung des Kalenders als potentiell „weithin wirksames Bildungsmedium“ (S. 32) durch literarische Anhänge und andere Wissenssegmente.

Zur Gesamteinschätzung: Die beiden Bände dokumentieren eindrucksvoll die Erträge jüngster Kalenderforschung und deren Potentiale für eine erweiterte Medienkulturgeschichte der Frühen Neuzeit. Klaus-Dieter Herbst zeigt die Schreibkalender des 17. Jahrhunderts als differenzierte Wissens- und Kommunikationsmedien, deren kritische Impulse eine „schrittweise Überwindung der alten Gewohnheiten“ (S. 282) und theozentrischer Weltdeutung zum Teil erstaunlich früh lancierten. Nur kleinere Punkte sind zu beanstanden: Die Wertung der Kalender als paradigmatische ‚Massenmedien’ der Frühaufklärung wirkt aufgrund ihrer zeitgleichen Charakteristik als Traditionsmedien streckenweise etwas überbetont. Angesichts einiger Wiederholungen und umfänglicher Quellenzitate hätten der Argumentation zudem einige Straffungen gut getan.

Anmerkungen:
1 Rudolf Stöber, Mediengeschichte. Die Evolution „neuer“ Medien von Gutenberg bis Gates. Eine kommunikationswissenschaftliche Einführung, Bd. 1: Presse – Telekommunikation, Wiesbaden 2003, S. 64.
2 <http://www.urmel-dl.de/Projekte/Kalenderblätter/Inhalt/Projektbeschreibung.html> (03.03.2011).
3 Klaus Dieter Herbst, Verzeichnis der Schreibkalender des 17. Jahrhunderts, Jena 2008.

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