Welchen Anteil hatten Rechtskatholiken daran, dass die Weimarer Republik binnen weniger Jahre in eine totalitäre Diktatur überging? Diese Frage bildete den Ausgangspunkt einer Tagung, die im Mai 2022 von der Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen, den beiden Landschaftsverbänden Rheinland und Westfalen-Lippe, der Universität Münster sowie der katholischen Bildungsstätte Nell-Breuning-Haus in Herzogenrath veranstaltet wurde. Einige der dort präsentierten Vorträge und weitere Beiträge wurden in der Schriftenreihe „Forschungen zur Regionalgeschichte“ des Instituts für Regionalgeschichte des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe veröffentlicht.
Der Aufbau des Sammelbandes folgt einer klaren und durchdachten Struktur. Nach einer umfangreichen Einführung von Olaf Blaschke in das zuletzt von der Forschung nur wenig beachtete Forschungsfeld des Rechtskatholizismus folgen Oberkapitel zur Begriffsdefinition, zum Verhältnis der Rechtskatholiken zur Amtskirche, zu rheinisch-westfälischen Netzwerken, zu überregionalen Perspektiven und zu politikwissenschaftlichen Gegenwartsperspektiven. Obwohl in den Beiträgen unterschiedliche Fragen an die Geschichte des Rechtskatholizismus gestellt werden, lassen sich wiederkehrende Themenschwerpunkte identifizieren.
Zuvorderst stellt sich die Frage, wer oder was die Rechtskatholiken waren. Blaschke weist sowohl in der Einführung als auch in seinem Beitrag darauf hin, dass der Begriff in seiner ursprünglichen Verwendung eine „linke Kampfvokabel“ (S. 128) aus den 1960er-Jahren war und keine Selbstzuschreibung bestimmter Personenkreise in der Weimarer Republik darstellte. Erst in den 1980er-Jahren wurde der Begriff von Historiker:innen zur retrospektiven Analyse verwendet. Dieser Befund ist wichtig, denn daraus ergibt sich die Diffusität und Komplexität des Themas. Blaschke stellt den Begriff „Rechtskatholizismus“ auf den Prüfstand und betont sowohl die Vor- als auch die Nachteile seiner Verwendung. Für den Begriff spreche, dass er eine Abgrenzung „zu völkischen Katholiken, zum verbreiteten Antisemitismus im Katholizismus, zu den Brückenbauern, zum verbreiteten Philofaschismus und zu ‚braunen' Katholiken“ (S. 127) ermögliche. Problematisch sei hingegen, dass er eine „ideologische Kohärenz und personale Kohäsion“ suggeriere, normativ aufgeladen sei, katholischen Kreisen nach 1945 apologetische Dienste erwiesen habe und in seinem Gebrauch zwischen Inflation und Deflation schwanke. Blaschke mahnt deshalb zu einem vorsichtigen Umgang mit dem Begriff. Ihm zufolge waren Rechtskatholiken eine „unter sich vernetzte Gruppe (samt Anhängerschaft), deren wichtigstes Personal benennbar ist und der es gelang, gewisse Organisationsstrukturen aufzubauen“ (S. 44). Dieser eng gefassten Definition stehen im weiteren Verlauf des Bandes breitere Begriffsbestimmungen gegenüber. So identifiziert Klaus Unterburger als Rechtskatholiken eher pragmatisch den rechten Zentrumsflügel oder eine Gruppe von Katholiken in Parteien rechts des Zentrums (S. 139). Gabriele Clemens bezeichnet als Rechtskatholiken jene Vertreter, die „sich bereits im Kaiserreich durch eine betont preußisch-nationale Haltung auszeichneten und die nach dem Ersten Weltkrieg weitgehend mit der nationalistischen Rechten der Weimarer Republik verschmolzen“ (S. 193). Allen Autorinnen und Autoren gemeinsam ist die Feststellung, dass die Rechtskatholiken keineswegs als homogene Gruppe angesehen werden können. Vielmehr werden ihre unterschiedlichen politischen Einstellungen abseits der Konkordatstradition und der Ablehnung der Zentrums-„Kaplanokratie“ herausgestellt.
Schwierigkeiten, die Zeitgenossen eindeutig dem Rechtskatholizismus zuzuordnen, entstehen auch durch ein Phänomen, das Manfred Gailus als „neuartige hybride Gläubigkeit der Epoche“ (S. 95) beschreibt. Gailus zeigt, dass sich die Gewichtungen zwischen genuin christlichen und nationalreligiösen Bekenntnissen bei vielen Nationalprotestanten zu Beginn der 1930er-Jahre verschoben hatten. Ähnliche Entwicklungen lassen sich auch bei Protagonisten des national- oder rechtskatholischen Lagers feststellen. So beschreibt Guido Hitze, dass die deutschen Bischöfe beunruhigt waren, weil bei den katholischen schlesischen Adeligen der „religiöse Geist“ durch einen „deutschnationalen Geist“ verdrängt worden sei (S. 174). Diese Verschiebungen zwangen zu politischen (Neu-)Positionierungen. Dies zeigt sich beispielsweise daran, dass die – auch von republikanischen Zentrumspolitikern verwendete – Parole der „Volksgemeinschaft“ von vielen Integralisten zunächst als Widerspruch zu einer ständestaatlichen Staatsstruktur wahrgenommen wurde. Später jedoch nutzten rechtskatholische Protagonisten – allen voran Franz von Papen – die Parole als Vehikel, um einen ständestaatlichen Staatsumbau voranzutreiben. In diesem Kontext hätte die 2016 veröffentlichte, thesenstarke Studie von Rainer Orth zu den Netzwerken und Staatsumbauplänen im Büro von Papen, der 1933/34 das Amt des Vizekanzlers im Kabinett Hitler ausübte, im Band diskutiert werden können.1 Ebenso wäre ein stärkerer Einbezug neuerer Forschungen zur „Volksgemeinschaft“ wünschenswert gewesen.2 Wie gewinnbringend dies sein kann, zeigen neben den Ausführungen von Hitze und Gailus auch die Überlegungen von Christoph Kösters. In seinem Beitrag wird anhand des Reichsverbandes für katholische Auslandsdeutsche die schleichende Verdrängung eines „katholisch grundierten Volkstumsdiskurs[es]“ (S. 286) durch einen nationalsozialistischen „Volksgemeinschafts“-Diskurs untersucht.
Eine Stärke des Bandes liegt in der detaillierten Analyse der Netzwerke und Querverbindungen von Rechtskatholiken in der Weimarer Republik. Christoph Hübner hebt die Konkordatstradition als lange Kontinuitätslinie sowie die guten Beziehungen rechtskatholischer Schlüsselfiguren zum Vatikan hervor. Das Zentrum sei „einer von Rechten erzwungenen Ermahnung, ja Desavouierung durch hohe kirchliche Stellen ausgesetzt gewesen“ (S. 73). In den Blick gerät vor allem Kardinalstaatssekretär Eugenio Pacelli. Klaus Unterburger urteilt differenziert über die politischen Prinzipien Pacellis im Umgang mit politischen Akteuren rechts des Zentrums. Pacelli fürchtete, der linke Wirth-Kurs des Zentrums könnte zahlreiche Katholiken in die Arme der Deutschnationalen treiben (S. 154). Dementsprechend habe er eine Gefährdung der „religiösen Integrationskräfte“ (S. 162) verhindern wollen. Später sorgte er sich, eine katholische Diffamierung der NSDAP könnte eine anti-katholische Radikalisierung begünstigen (S. 162). Das spannungsreiche Verhältnis zwischen Kardinälen, Bischöfen und Rechtskatholiken beleuchtet anschließend auch Hitze. Er untersucht insbesondere die Konflikte zwischen dem Erzbischof von Breslau, Adolf Bertram, und den rechtskatholischen Adelsnetzwerken in Schlesien. Mit Martin Spahn (Clemens) und Franz von Galen (Josephine von Weyhe) rücken hingegen unterschiedliche politische Biografien und Netzwerke in Rheinland und Westfalen in den Mittelpunkt. In der Zusammenschau dieser Studien ergibt sich ein Gesamtbild, wonach rechtskatholische Netzwerke zur Destabilisierung der Weimarer Demokratie beitrugen. Dennoch ordnet Blaschke den Rechtskatholizismus als „ein insgesamt nicht zu überschätzendes Randphänomen“ (S. 133) ein.
Die Konzentration des Bandes auf elitäre Netzwerke ist zwar empirisch überzeugend, führt jedoch auch zu Leerstellen. So geraten abseits dieser Strukturen – die häufig bereits aus älteren Studien der jeweiligen Autorinnen und Autoren bekannt sind – kaum weitere Protagonisten in den Blick. Insbesondere Berufsbeamte aus mittleren und niedrigeren Verwaltungsebenen sowie allgemein bürgerliche Vertreter mit nationalkatholischer Prägung bleiben unterrepräsentiert.3 Eine Erweiterung der Perspektive hätte auch zur Beantwortung der Frage beitragen können, wie mehrheitsfähig rechtskatholische Wertvorstellungen in der Weimarer Republik waren – besonders in regional differenzierender und milieuspezifischer Perspektive. Erhellende Einblicke liefert etwa Wolfgang Schieder, der die Popularität von Benito Mussolini als Duce del Fascismo während der Weimarer Republik untersucht, und zwar auch in jenen katholischen Milieus, die der NSDAP und Adolf Hitler ablehnend gegenüberstanden.
Eine Erweiterung der Perspektive hätte auch an anderer Stelle neue Anknüpfungspunkte bieten können. Zwar werden von Andreas Püttmann und Sonja Angelika Strube unter den Stichwörtern Rechtspopulismus und Fundamentalismus abschließend gegenwärtige Entwicklungen in den Blick genommen. Indes erfahren die Leserinnen und Leser kaum etwas darüber, inwiefern rechtsnationale Vorstellungen zum Verhältnis von Staat, Gesellschaft und Kirche über 1945 hinaus im deutschen Katholizismus eine Rolle spielten. Dies, zumal in Nordrhein-Westfalen, wo der räumliche Schwerpunkt des Bandes liegt, mit Karl Arnold (CDU) ein ehemaliger christlicher Gewerkschaftsfunktionär regierte und in der Bundesrepublik mit dem Kölner Konrad Adenauer (CDU) an der Spitze eine „autoritäre Kanzlerdemokratie“ entstand. Einige Bemerkungen zur Verwirklichung des austrofaschistischen Ständestaates zwischen 1934 und 1938 hätten sich in dem Beitrag von Johannes Tröger angeboten, in dem rechte katholische Intellektuelle in Deutschland, England und Österreich bis 1939 ideengeschichtlich vergleichend untersucht werden.
Insgesamt bietet der Band auf Grundlage zumeist bereits bekannter rechtskatholischer Netzwerke eine gelungene Einführung in das Thema. Die Autorinnen und Autoren differenzieren sorgfältig und geben zum Teil neue Impulse, um über die Verwendung des Begriffs Rechtskatholizismus nachzudenken. Dem Band ist auch eine breite Leserschaft zu wünschen, um jüngere Forschergenerationen zur weiteren Beschäftigung mit dem Rechtskatholizismus anzuregen.
Anmerkungen:
1 Rainer Orth, „Der Amtssitz der Opposition“? Politik und Staatsumbaupläne im Büro des Stellvertreters des Reichskanzlers in den Jahren 1933–1934, Köln 2016.
2 Z.B. Manfred Gailus / Armin Nolzen (Hrsg.), Zerstrittene „Volksgemeinschaft“. Glaube, Konfession und Religion im Nationalsozialismus, Göttingen 2011.
3 Anhand einer Fallstudie Sascha Ohlenforst, Deutungskämpfe um die „Volksgemeinschaft“. Franz Laumen als Rechtskatholik, Verwaltungsbeamter und NSDAP-Kreisleiter in einer rheinischen Grenzregion (1924–1934), in: Rheinische Vierteljahrsblätter 88 (2024), S. 150–185.