C. Reinecke: Grenzen der Freizügigkeit

Titel
Grenzen der Freizügigkeit. Migrationskontrolle in Großbritannien und Deutschland, 1880-1930


Autor(en)
Reinecke, Christiane
Reihe
Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London 68
Erschienen
München 2010: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
VIII, 420 S.
Preis
€ 54,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anne-Christin Saß, Osteuropa-Institut, Freie Universität Berlin

Die transkontinentalen und innereuropäischen Migrationsbewegungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts sind in der historischen Migrationsforschung lange Zeit als auf Dauer angelegte Aus- und Einwanderungsprozesse von einem Staat in einen zweiten untersucht worden. Dabei dominieren insbesondere zu Aspekten der Migrationspolitik sozial- und strukturgeschichtlich ausgerichtete Arbeiten, die in erster Linie die Aufnahmegesellschaften sowie deren Organisations- und Bewältigungsstrategien der Zuwanderungen untersuchen.1 Diesen Studien, die weitestgehend einer nationalstaatlichen Perspektive verpflichtet sind, gilt das Ausländer- und Einbürgerungsrecht als ein wesentlicher Indikator für die Formierung moderner Nationalstaaten und als Indiz für deren Integrationsfähigkeit. Dass die in den einzelnen europäischen Staaten entwickelten Praktiken der Migrationskontrolle sich nicht allein an nationalstaatlichen Mustern des Ein- und Ausschlusses orientierten, sondern gleichzeitig der Standardisierungs- und Rationalisierungslogik modernen Staats- und Verwaltungshandelns folgten, ist dagegen ein zentraler Ausgangspunkt der vorliegenden Studie von Christiane Reinecke. Für ihre vergleichend angelegte Untersuchung der britischen und deutschen Migrationsregime, die sie über den langen Zeitraum von 1880 bis 1930 analysiert, erhielt Christiane Reinecke den Dissertationspreis des Deutschen Historischen Instituts London. In differenzierter und überzeugender Weise gelingt es ihr, verschiedene nationale Entwicklungen in der Migrationspolitik in ihren transnationalen und trans-territorialen Bezügen zu situieren und in staatenübergreifende Entwicklungszusammenhänge einzubetten. Mit der Fokussierung der Analyse auf „die administrativen Praktiken und […] Mikro-Mechaniken von Machtstrukturen, […] in denen sich die staatlichen wie nichtstaatlichen Akteure bewegten“ (S. 8), kann Reinecke zum einen die Entwicklung staatlicher Erfassungs- und Kontrollpraktiken nachvollziehen, die sich jeweils in Abhängigkeit von spezifischen sozial- und arbeitsmarktpolitischen, wirtschafts- und nationalitätenpolitischen als auch sicherheits- und außenpolitischen Konfliktkonstellationen herausbildeten. Zum anderen ermöglicht ihr die konsequente Einbeziehung der Handlungsstrategien der Migranten, die aktiv auf die sich verändernden Aufenthalts- und Reisebedingungen reagierten, die in der Forschung bislang nur ansatzweise untersuchten Grenzen der staatlichen Kontrollbemühungen ebenso auszuloten wie die unterschiedlichen Formen der Kontrollverhältnisse zwischen Staat und Migrant genauer zu bestimmen.

Im ersten Kapitel der in drei Teile gegliederten Studie untersucht Reinecke die Herausbildung der beiden Migrationsregime in Großbritannien und Deutschland (bzw. Preußen) von 1880 bis 1914. Während die in beiden Staaten entwickelten Instrumente der Gesundheitskontrollen in einem globalen Rahmen entstanden, der in hohem Maße von den Vorgaben der amerikanischen Immigrationspolitik geprägt wurde (S. 34), spiegelt sich in den divergierenden Praktiken der Arbeitsmarktkontrolle und der Ausweisungspolitik das jeweilige staatliche Selbstverständnis, das in Preußen stärker von einem ethnisch-exklusiven und in Großbritannien von einem territorial definierten etatistischen Denken geprägt war. Gleichwohl etablierten die medizinischen Grenzkontrollen einen Ausschlussmechanismus der in beiden Ländern sozialen und ethnischen Kriterien folgte und in dem sich „soziale Bedenken mit einem ethnisch exklusiven Denken“ überlagerten (S. 75). Gravierende Unterschiede bestanden hingegen in der Ausweisungspraxis, die sich im britischen Fall „primär an der individuellen Situation oder dem [devianten] Verhalten der Ausgewiesenen“ (S. 194) orientierten. Die preußischen Behörden folgten bei ihren Ausweisungen vornehmlich kollektiven Ausschlusskriterien, die sich in ihrer überwiegenden Mehrheit gegen polnische und jüdische Migranten richteten und die sich zudem mit sozialpolitischen und politischen Abwehrinteressen überlagerten.

Im Mittelpunkt des zweiten Kapitels, mit dem Christiane Reinecke eine wesentliche Forschungslücke schließt, steht die Frage nach der Entwicklung der staatlichen Kontrollsysteme während des Ersten Weltkrieges. Dabei differenziert sie die gängige These, der Erste Weltkrieg bedeute einen zentralen Einschnitt in der Geschichte der Migrationspolitik und das Ende für die bis 1914 vorherrschende Laissez-faire-Wanderung. So führte der Erste Weltkrieg in Großbritannien zu wachsenden Interventionen im Bereich der Zuwanderungskontrolle, die mit einer generellen Ausweitung staatlicher Aktivitäten und damit einer Ausweitung der „infrastrukturellen Macht“ des britischen Staates korrespondierte (S. 255). Im Deutschen Reich blieb diese hingegen „auf dem hohen Niveau, das sie bereits vor 1914 erreicht hatte“ (S. 251). Die Internierungspolitik beider Staaten folgte sicherheitspolitischen, propagandistischen und militärischen Erwägungen, die insbesondere in Großbritannien von einer „akuten Spionageangst“ begleitet wurde. Ein massiver Unterschied bestand hingegen in der Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte. Während der Wechsel zur Kriegsproduktion in Großbritannien weitgehend konfliktfrei verlief, reagierten die zivilen und militärischen Behörden im Deutschen Reich auf den herrschenden Arbeitskräftemangel mit der Etablierung eines ausländischen Zwangsarbeitersystems, in der die ausländischen Arbeitskräfte vornehmlich als ökonomische Ressource angesehen wurden. Die bereits vor 1914 bestehende Bereitschaft, insbesondere polnische Arbeitsmigranten in ihrer Bewegungsfreiheit und Arbeitsplatzwahl einzuschränken, verstärkte sich dabei ebenso wie die antipolnische und antisemitische Stoßrichtung dieser Kontrollpraktiken.

Die während des Krieges etablierten restriktiven Mechanismen und erweiterten Kompetenzen staatlicher Behörden wurden nach 1918 mit Verweis auf einen „verlängerten nationalen Notstand“ (S. 382) in beiden Ländern beibehalten. Die durch den Ersten Weltkrieg und die sich daran anschließende gewaltsame Neuordnung Ost- und Ostmitteleuropas ausgelösten Wanderungsbewegungen sowie die Einführung der US-amerikanischen quota-Gesetze, die zu einem Rückstau von osteuropäischen Migranten in Großbritannien und Deutschland führten, verstärkten in beiden Ländern Bedrohungsgefühle. Der „Schutz des nationalen Arbeitsmarktes“ und die „Abwehr lästiger Migranten“ – dies arbeitet Reinecke stringent im dritten Kapitel heraus – entwickelten sich zu zentralen Topoi der Nachkriegspolitik, mit denen jeweils die Aufrechterhaltung der restriktiven Migrationsregime gerechtfertigt wurde. Gleichzeitig entwickelten die Migranten selbst eigene Ökonomien des Umgehens der staatlichen Kontrollstrukturen, die auf die begrenzte Reichweite der kontrollierenden Praktiken hinweisen.

Wenngleich die restriktive Migrationspolitik in Deutschland eine wesentlich aggressivere Dynamik als in Großbritannien entfaltete, verweisen die Entwicklungen beider Migrationsregime nach dem Ersten Weltkrieg, so das Fazit von Christiane Reinecke, auf einen weit vorangeschrittenen Nationalisierungsprozess der britischen und deutschen Gesellschaft. Während das deutsche, ethnisch-exklusive Nationsverständnis bereits vor dem Ersten Weltkrieg maßgeblich die Praktiken der Migrationskontrolle bestimmte, führte in Großbritannien erst der extrem nationalistische Diskurs im Umfeld des Krieges zu einer verschärften Abwehrhaltung gegenüber ausländischen Migranten und beförderte ein britisches Nationsverständnis, dem eine rassistische Hierarchie von weißen und nicht-weißen britischen Untertanen zugrunde lag.

Insgesamt hat Christiane Reinecke eine äußerst fundierte und differenziert argumentierende Studie zur Migrationspolitik im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert vorgelegt. Die beiden wesentlichsten Ergebnisse sind die Relativierung der Zäsur des Ersten Weltkriegs und die im Politikfeld Migration bestehende enge Verzahnung von transkontinentalen und gesamteuropäischen Prozessen auf der einen sowie nationalstaatlichen Interessen auf der anderen Seite, die ihrerseits von den „sozialplanerischen Ambitionen der modernen Bürokratie und den homogenisierenden Tendenzen nationalistischen Denkens“ (S. 379) geprägt waren.

Allerdings bleiben in solch einer breit angelegten Vergleichsstudie auch immer offene Fragen. So ist beispielsweise nicht ganz einsichtig, warum bei der Analyse der Etablierung der Migrationsregime vor dem Ersten Weltkrieg die Repatriierungstätigkeit der britisch-jüdischen Hilfsorganisation, des Jewish Board of Guardians, ausführlich als Strategie der freiwilligen Migrationskontrolle diskutiert wird und im deutschen Fall die äußerst beachtliche Tätigkeit des Hilfsvereins der deutschen Juden bei der Durchwanderung osteuropäisch-jüdischer Migranten kaum Erwähnung findet.2 Möglicherweise ist diese Lücke jedoch ein Indiz für ein umfassenderes Forschungsproblem, eine nach wie vor bestehende partielle Trennung zwischen „jüdischer“ und „allgemeiner“ Geschichte.

Ferner erscheint die Betonung des Phänomens des „illegalen Migranten“, als gemeinsamer Typus des „Fremden“, den das britische das deutsche restriktive Migrationsregime nach dem Ersten Weltkrieg hervorbrachten und der auf die Grenzen staatlicher Kontrollbemühungen hinweist, etwas verkürzt. Nicht weniger emblematisch hierfür ist das nach dem Ersten Weltkrieg ebenfalls neue Phänomen der „Staatenlosigkeit“, gegen das sich die entwickelten Ausweisungsmechanismen als ebenso wirkungslos erwiesen. Ausgeblendet bleibt in dieser Studie ebenfalls die außenpolitische Dimension der Ausweisungspolitik, der insbesondere in der Weimarer Zeit eine wesentliche Rolle zukam. So war das Risiko für einen polnischen Staatsangehörigen nach dem Ersten Weltkrieg ungleich höher, aus dem Deutschen Reich ausgewiesen zu werden, als für einen Migranten mit litauischen oder russischen Papieren.

Diese Anmerkungen fallen jedoch kaum ins Gewicht angesichts einer äußerst anregenden Studie zu den Grenzen individueller Mobilität und den Grenzen staatlicher Kontrollbemühungen im europäischen Zeitalter der Nationalstaaten.

Anmerkungen:
1 Aus der Fülle der Arbeiten seien hier stellvertretend genannt: Dirk Hoerder, Cultures in contact. World migrations in the second millennium, Durham 2002; Jochen Oltmer, Migration und Politik in der Weimarer Republik, Göttingen 2005.
2 Vgl. dazu Eli Bar-Chen, Weder Asiaten noch Orientalen. Internationale jüdische Organisationen und die Europäisierung „rückständiger“ Juden, Würzburg 2005; sowie Tobias Brinkmann, Managing mass migration. Jewish philanthropic organizations and Jewish mass migration from Eastern Europe, 1868/69-1914, in: Leidschrift, Historisch Tijdschrift 22 (2007), S. 71-90.