Das Verhältnis von Medizin und Krieg ist ein vergleichsweise junges Forschungsfeld. Als impulsgebend erwies sich der 1984 von Johanna Bleker und Heinz-Peter Schmiedebach herausgegebene Sammelband über die Dilemmata der Heilberufe in modernen Kriegen. Zehn Jahre später legten der Heidelberger Medizinhistoriker Wolfgang U. Eckart und sein mittlerweile in Oslo lehrender Kollege Christoph Gradmann einen weiteren Band vor, der Beiträge einer Konferenz zur Medizin im Ersten Weltkrieg versammelte.1 Mit der vorliegenden Monographie führt Eckart nun auf rund 550 Seiten die Ergebnisse seiner langjährigen Beschäftigung mit dieser Thematik zusammen und zieht Bilanz über ein Forschungsfeld, das er selbst maßgeblich mitgestaltet hat.
Das Werk kennzeichnet ein breites Spektrum von methodischen und thematischen Zugängen. Gegenüber einschlägigen Studien britischer Provenienz, die mit Leitbegriffen wie Modernisierung und Rationalisierung militärmedizinisches Handeln zu charakterisieren suchen2, zeigt sich Eckart zurückhaltend. Sein eigener Ansatz hält den Fokus weit offen und zielt auf eine noch stärkere Überblendung geschichtswissenschaftlicher und medizinhistorischer Perspektivierungen ab: Herangehensweisen der neueren Militärgeschichte, der Mentalitätsgeschichte und der Alltags- und Erfahrungsgeschichte finden ebenso Berücksichtigung wie jene der Gesundheitsgeschichte und der Sozial- und Kulturgeschichte der Medizin. Mit milder Untertreibung charakterisiert der Verfasser sein Vorhaben, „an ausgewählten Beispielen erste Skizzen für eine medizinische Gesellschaftsgeschichte des Weltkrieges und der unmittelbaren Nachkriegszeit am Beispiel Deutschlands [zu] liefern“ (S. 9).
Die Monographie ist in fünf Hauptkapitel unterteilt. Das erste Kapitel („Der Krieg beginnt“) liefert eine konzise Analyse der in der Ärzteschaft weit verbreiteten Kriegsbejahung. Erklärungsleitend ist hier Joachim Radkaus These von der „nervösen“ wilhelminischen Gesellschaft, die Selbstentlastung in einem kathartischen Waffengang suchte – und ihre Selbstzerstörung herbeiführte. Eine geradezu fatale medizinische Metaphorik (Krieg als „Stahlbad der Nerven“) ging in der Ärzteschaft mit patriotischer Selbstmobilisierung und dem Glauben einher, den zerstörerischen Kräften des Krieges medizinisch wirksam begegnen zu können. Im Verlaufe des Krieges wurde ein anderes Argument sinnstiftend, nämlich dem Krieg zumindest wissenschaftlich-therapeutischen Erkenntnisgewinn abtrotzen zu können. Diese medizinischen Spielarten des „Kriegsutilitarismus“ reichten von Experimenten und Heilversuchen in Lazaretten bis hin zu rassenanthropologischen Studien in Kriegsgefangenenlagern.
Das zweite Kapitel („Im Krieg“) rückt die Sichtweise der Betroffenen in den Mittelpunkt. In der Schilderung soldatischer Kriegserlebnisse stützt sich Eckart auf Tagebucheintragungen und Feldpostbriefe, die mit quellenkritischem Pragmatismus in die Darstellung eingeflochten werden. Über Verwundungen und Verletzungen wurde nur in seltenen Fällen geschrieben. Häufiger waren Lazarettpostkarten, die den Charakter von formalisierten persönlichen Mitteilungen hatten, den Angehörigen aber immerhin ein Lebenszeichen brachten. Ein Unterkapitel befasst sich mit den Lazaretten, die Eckart als „Soziotope“ begreift, als Orte der Begegnung von verwundeten Soldaten mit behandelnden Ärzten, als Lebensräume von Leidenden, deren Not oftmalig nicht gelindert werden konnte, als Knotenpunkte eines Netzwerks von Versorgungssystemen, die im Laufe des Kriegs immer dichter wurden. Beachtung finden ferner Krankheiten, deren Vorkommen und Ausprägung im engen Zusammenhang mit den spezifischen Bedingungen dieses Krieges gesehen und mit zum Teil brachialen Verfahren behandelt wurden.
In einem weiteren Schritt – Kapitel 3 – wird der Blick auf die Situation von Frauen und Kindern an der „Heimatfront“ gerichtet. Über den Verlauf des Krieges gerechnet standen rund 70 Prozent der deutschen Ärzteschaft im Heeresdienst. Jenseits der unmittelbaren militärischen Handlungsfelder wurde die medizinische Versorgung vernachlässigt. Dies wog umso schwerer, da die Zivilgesellschaft in eine Mobilisierungsgesellschaft transformiert und nahezu jede Tätigkeit auf ihren Beitrag für den Kriegsgewinn gewertet wurde. Die gefährliche Arbeit in den Rüstungsfabriken bei oft nur mangelnden Schutzvorrichtungen führte zu Vergiftungen und zu einer Übersterblichkeit an Tuberkulose. Von 1916 an wurden unter Frauen und Kindern „Hungererkrankungen“ immer häufiger. Physiologen und Pädiater wurden zu politischen Propagandisten und verbanden Vorwürfe an die Kriegsgegner („Schädigung der Volkskraft“) mit eugenischen und rassenhygienischen Argumenten.
Ein weiteres Kapitel führt an „ferne Schauplätze“ und widmet sich Themen, die in bisherigen Arbeiten kaum Beachtung gefunden haben. Dazu zählen der Einsatz von deutschen Ärzten auf dem Balkan, in Palästina und Fernost, die konfliktreiche Zusammenarbeit mit Kriegsverbündeten auf dem Gebiet der Seuchenhygiene oder die geradezu bizarr anmutenden Versuche, mit Zeppelinen „sanitätstaktische Lufteinsätze“ in Deutsch-Ostafrika durchzuführen. Im Kontext kolonialrevisionistischer Interessen verortet Eckart die vom Hamburger Institut für Schiffs- und Tropenkrankheiten erwirkte Erprobung neuer Medikamente gegen die Schlafkrankheit („Germanin“). Der Übergang zum Abschnitt über die Kriegsgefangenschaft erfolgt etwas sprunghaft, hält aber aufgrund einer vergleichenden Analyse der Situation in deutschen und russischen Lagern viel Neues bereit.
Ähnliches gilt für das abschließende Kapitel über die Nachkriegszeit. Der Verfasser führt erneut an unterschiedliche Schauplätze, weitet Erkenntniszusammenhänge und erhellt gleichzeitig eine Fülle von Details, wie etwa zur Organisation der „Hungerhilfen“. Auch nach 1918 griffen medizinische und politische Interessen ineinander, wie am Beispiel der „Billroth-Stiftung für deutsche Heilkunde im Ausland“ (S. 415) und deren Engagement im georgischen Tiflis gezeigt wird. Am Ende wendet sich Eckart den literarischen und lyrischen Verarbeitungen der Kriegsfolgen zu. Mit den zitternden, deformierten Körpern der Veteranen, die in der Nachkriegszeit das Straßenbild der Großstädte prägten, schien der Krieg kein Ende zu nehmen. Der über Jahre andauernde Umgang mit gequälten, entstellten und dahinsterbenden Menschen hinterließ nicht zuletzt auch eine verstörte Ärzteschaft, die ihr Selbstverständnis und ihr Handeln auf die Wiedergesundung des „Volkskörpers“ auszurichten suchte.
Die Monographie enthält zahlreiche Abbildungen, die hinsichtlich ihrer Motivik und Ikonographie umsichtig in die Darstellung eingebunden sind. Biographische Informationen sind angemessen knapp gehalten. Anmerkungsapparat, Literaturverzeichnis und Personenregister runden den Band ab. Eine Zusammenfassung wäre sicherlich wünschenswert gewesen. In einzelnen Abschnitten mag man über die Anordnung und Gewichtung der Materie geteilter Ansicht sein. Unstrittig und beeindruckend sind die Mobilisierung einer immensen Materialfülle, die konsequente historische Kontextualisierung und nicht zuletzt die erzählerische Bewegung in der Darstellung: Exemplarische Aspekte korrespondieren mit übergeordneten Entwicklungen, überraschende Perspektivenwechsel mit zusammenfassenden Passagen. Wolfgang U. Eckart hat eine grundlegende Studie zur Medizin im Umfeld des Ersten Weltkriegs vorgelegt, die in ihrer Tiefe und Breite über Vorliegendes deutlich hinausgeht und sich für lange Zeit als Ausgangspunkt weiterer Forschungen erweisen wird.
Anmerkungen:
1 Johanna Bleker / Heinz-Peter Schmiedebach (Hrsg.), Medizin und Krieg. Vom Dilemma der Heilberufe 1865 bis 1985, Frankfurt am Main 1984; Wolfgang U. Eckart / Christoph Gradmann (Hrsg.), Die Medizin und der Erste Weltkrieg, Pfaffenweiler 1996.
2 Zuletzt Mark Harrison, The Medical War: British Military Medicine in the First World War, Oxford 2010.