Studien zu religiösen Praktiken im Umfeld der Russisch-Orthodoxen Kirche haben in den letzten Jahren eine starke Konjunktur erlebt.1 Die allermeisten dieser Arbeiten fokussieren auf das späte Zarenreich, dessen Quellen zur Orthodoxie vielfältiger und zugleich leichter zugänglich sind als die zur Sowjetunion. Robert Greene überschreitet mit seiner Monographie zu Heiligenkult und Reliquienverehrung in Russland die magische Linie 1917 und betrachtet den Zeitraum von der Bauernbefreiung 1861 bis zum Beginn der Kollektivierung der Landwirtschaft 1929. Nachdem er in den ersten drei Kapiteln Praktiken der Reliquienverehrung vor 1917 untersucht, steht im zweiten Teil die Kampagne der Bolschewiki zur Öffnung von Reliquienschreinen im Fokus. Greene gelingt dabei das Kunststück, das auf den ersten Blick in zwei separate Teile zerfallende Buch zusammenzuhalten, indem er das Agieren der Bolschewiki immer wieder mit dem Verständnis der Gläubigen kontrastiert, das er im ersten Teil so ausführlich entwickelt hat.
Zunächst geht es um bekannte Fragen von Virtuosen- und Volksfrömmigkeit und die Bemühungen des Klerus, dem Kirchenvolk das „richtige“ Verständnis des Heiligenkults zu vermitteln. Die Heiligen sollten eben keine „Wunderautomaten“, sondern spirituelle Vorbilder für ein gottgefälliges Leben sein. Für die spätere Konfrontation mit den Bolschewiki ist es Greene wichtig zu zeigen, dass gemäß der kirchlichen Doktrin Reliquienverehrung und das Verständnis von Heiligkeit nie notwendig an die Unverweslichkeit des Leichnams eines Heiligen („netlenije“) geknüpft war. Um zu verstehen, weshalb die Reliquien-Kampagne der Bolschewiki scheiterte, sind die Darstellungen im 2. Kapitel „Going to see the Saints“ entscheidend. Hier führt Greene wichtige Prämissen des Reliquienkults ein: Erstens die Bedeutung der körperlichen Präsenz und des direkten Kontakts zum Heiligen durch Berühren und Küssen des Schreins. Zweitens das Prinzip der Gegenseitigkeit zwischen Gläubigen und Heiligen im Sinne eines Austauschs von praktischer Hilfe und Gnadenerweisen einerseits und der Verpflichtung auf dauerhafte Verehrung andererseits. Diese beiden Prämissen bedingten auch die Bedeutung der Reliquien für die Konstituierung von Gemeinschaft. Heiligenverehrung war – bis auf wenige Ausnahmen von russlandweit verehrten Heiligen wie Sergi von Radonesch oder Alexander Newski – ein lokales Phänomen.
Daran knüpft auch das dritte Kapitel an, in dem nach der „Erschaffung von Heiligen“ gefragt wird. Der Leser, der zunächst befürchten mag, dass Greene hier nicht aus dem Schatten des wichtigen Aufsatzes von Gregory Freeze über die von Nikolaus II. inflationär betriebenen Kanonisierungen als Mittel zur Resakralisierung seiner Politik2 hinauskommt, wird angenehm enttäuscht. Mit der Heiligsprechung von Anna Kaschinskaja (im Jahr 1909) und Sofroni Irkutski (durch das Landeskonzil 1918) präsentiert Greene zwei Fallstudien, die Kanonisierungen als Prozesse „von unten nach oben“, das heißt besonders die Beteiligung lokaler Akteure, in den Blick nehmen. Greene gelingt es hier überzeugend, das von Gregory Freeze gezeichnete Bild von Kanonisierungen als Ereignissen, die am Petersburger Hof ihren Ausgang nahmen, zu ergänzen und zu korrigieren. Wichtig ist unterdes noch ein anderes Moment: Keiner der beiden Neu-Heiligen konnte zum Zeitpunkt der Heiligsprechung unverweste Reliquien vorweisen. Dies jedoch war der Punkt, an dem die Bolschewiki mit ihren Exhumierungskampagnen ansetzten.
Das kurze Kapitel 4 („The Revolution and the Saints“) erfüllt eine Scharnierfunktion, indem es in Exhumierungskampagnen als Untersuchungsfeld einführt und die Motivation der Bolschewiki nachzeichnet. Für diese waren die Kampagnen eine Form des „revolutionären Theaters“ (S. 105), das das spirituelle Erbe des alten Regimes als überkommen und – im Wortsinne – verrottet überführen konnte, während sich die Kommunisten als Vertreter von Wahrheit und Vernunft zu inszenieren wussten. Der performative Akt der Exhumierung war zugleich auch als Parodie auf das Ritual der Kanonisierungen zu lesen. Dank neuer Medien, vor allem des Films, fanden diese Ereignisse weite Verbreitung.
Kapitel 5 („Toppling the Saints from their Thrones“) zeichnet die Kampagne von Ende 1918 bis 1921 nach. Ende 1918, mitten im Bürgerkrieg, wurden die Bewohner der Region Olonez im fernen Karelien Zeugen der ersten Reliquien-Öffnung, die zum Startpunkt für die folgende Kampagne der Bolschewiki werden sollte. Aus Moskau waren zuvor Instruktionen des Volkskommissariats für Justiz eingegangen, die die lokalen Vertreter des jungen Regimes an die Umsetzung des Dekrets über die Trennung von Staat und Kirche vom Januar 1918 erinnern sollten. Im altehrwürdigen Alexander-Swirski-Kloster begann die angereiste Kommission im Oktober 1918 zunächst mit der Konfiskation von Wertgegenständen. Schließlich aber zwang sie die Mönche, auch den Sarkophag des Heiligen Alexander Swirski zu öffnen. Ob die Kommissionsmitglieder dabei tatsächlich auf eine Wachsfigur stießen, wie Greene aus den Meldungen des Volkskommissariats für Justiz übernimmt, oder ob der Leichnam des Heiligen in so gutem Zustand war, dass er für eine Wachsfigur gehalten wurde, soll hier offen bleiben. Allerdings erstaunt, dass sich Greene an diesem Punkt völlig auf die Berichte des Kommissariats verlässt und die Recherchen der Russisch-Orthodoxen Kirche sowie die Meldung über das „wundersame zweite Auffinden“ („wtoroje obretenije“) der Reliquie im Jahr 1998 überhaupt nicht zur Kenntnis nimmt.3 Auch über den Ablauf der Kampagne scheint sich Greene nicht so sicher zu sein. Ob und wie die Anstöße für die oft wortgleichen Resolutionen aus dem russischen Norden in die zentralrussische Provinz kommuniziert wurden, weiß Greene leider nicht zu sagen. Die Darstellung chronologisch zu strukturieren, hätte hier für größere Klarheit gesorgt.
Das sicher spannendste Kapitel ist indes das sechste und letzte zu den Reaktionen des orthodoxen Kirchenvolks. Hier zeigt sich, wie wichtig die Ausführungen zum Grundverständnis des Reliquienkults sind. Nicht nur, dass unter dem Kirchenvolk bald Gerüchte kursierten, dass in den geöffneten Sarkophagen nur deshalb keine wundersam erhaltenen Reliquien, sondern Knochen und Lumpen vorgefunden wurden, weil sie von Atheisten und also Sündern geöffnet wurden. Vor allem wurden die Reliquien eben deshalb verehrt, weil sie Wunder wirkten und nicht wegen ihres konkreten körperlichen Zustandes. Dazu mussten sie – und das war der entscheidende Punkt – zugänglich und ihre weitere Präsenz in der Nähe der Gemeinschaft oder des individuellen Gläubigen gesichert sein. Deshalb entstanden die meisten Konflikte während der Exhumierungskampagne auch gar nicht bei der Öffnung des Sarkophags, sondern entzündeten sich an genau dem Punkt, an dem die weitere Präsenz der Reliquien bedroht war. Hier kommt auch das Konzept der gegenseitigen Verantwortung von Heiligen und Gläubigen ins Spiel. Nun war es an letzteren, die Anwesenheit der Heiligen zu verteidigen. Von hier aus lässt sich das ganze Spektrum von „frommer Subversion“ und widerständigem Verhalten der Gläubigen verstehen: Angefangen von den Frauen, die Blockaden organisierten, um den Zutritt zu den Reliquien zu verhindern, über die Kleriker, die zur Teilnahme an Reliquienöffnungen gezwungen wurden und diese wie eine Andacht gestalteten bis hin zur Flut von Petitionen, die die Exhumierungen als Verstoß gegen die proklamierte Gewissensfreiheit anprangerten.
Das Ende der Kampagne ist bereits Gegenstand des Epilogs. Zunehmend artikulierten sich auch innerhalb der Führungsriege Zweifel an ihrer Effektivität. Angesichts der akuten Bedrohung im Bürgerkrieg hatten lokale Funktionäre oft andere Probleme als sich mit den sterblichen Überresten längst verblichener Heiliger zu befassen und wollten durch derartige Aktionen nicht noch weitere Unruhe schaffen. Der Glaube sei in der Bevölkerung zu tief verwurzelt, so der Tenor, um allein durch eine derartige Kampagne beseitigt zu werden. 1921 leitete die Moskauer Zentrale schließlich den Rückzug ein. Erst während der Zwangskollektivierung kam es wieder zu Öffnungen von Reliquiaren; diese verstaubten dann meist in den Abstellkammern der Museen. Hier – und dieser Ausblick fehlt leider bei Greene völlig – wurden viele Reliquien in den 1990er-Jahren „wundersam“ wieder aufgefunden und sind heute in den Kirchen des Landes wieder für die Verehrung durch die Gläubigen zugänglich.
Ein stärkerer Fokus auf die Interaktion zwischen lokalen und zentralen Akteuren hätte der Argumentation an manchen Stellen gut getan. Und gerne hätte man auch mehr erfahren über „wilde“ Exhumierungen der verschiedenen Gruppierungen während des Bürgerkriegs. Nichtsdestotrotz – eine gut recherchierte und spannende Lektüre, die viele neue Einsichten in das Feld von gelebter orthodoxer Religiosität im Spannungsfeld zwischen Klerikern und Laien, Revolution und Kommunisten ermöglicht.
Anmerkungen:
1 Vera Shevzov, Russian Orthodoxy on the Eve of Revolution, Oxford 2004; Valerie Ann Kivelson / Mark D. Steinberg / Heather J. Coleman (Hrsg.), Sacred stories. Religion and spirituality in modern Russia, Bloomington 2007.
2 Gregory L. Freeze, Subversive Piety. Religion and the Political Crisis in Late Imperial Russia, in: The Journal of Modern History 68 (1996), S. 308-350.
3 Istorija vtorogo obretenija moščej prepodobnogo Aleksandra Svirskogo, in: Žurnal Moskovskoj Patriarchii 5 (2000), S. 17-25.