Der dritte und letzte Teil der von Georg Jäger organisierten Buchhandelsgeschichte des deutschen Kaiserreichs1 enthält eine ganze Reihe von Beiträgen mit Überblicks- und Querschnittcharakter, die Grundlinien der Entwicklung deutlicher herausarbeiten sollen. Erst 1903 wurde die Buchpreisbindung in der heutigen Form vom Börsenverein des deutschen Buchhandels fixiert, in erbitterten Kämpfen verschiedener Interessengruppen gegeneinander stabilisiert und mit den Druckmitteln der Branche gegen abweichende Geschäftspraktiken von Verlagen und Buchhändlern erzwungen. Dahinter stand der Grundkonflikt, der die Darstellung durchzieht: zwischen modernem kapitalistischem Print-Geschäft, auf dem sich Regelbrecher und Neuerer neben erheblichen Gewinnen auch außerordentliche Verdienste um die Versorgung von immer mehr Menschen mit Informationen und Geschichten erwarben, und einem ständischen Gewerbe, das unter Berufung auf seine unersetzliche kulturelle Mission in fast allen Fragen mit dem Rücken zur Zukunft agierte. Dabei bildete die Entwicklung neuer Vertriebswege und -formen den dynamischsten Faktor für die „Ausbildung eines frühen Massenmarktes“ (S. 521). Eine wesentliche Rolle spielte dabei der von Traditionalisten verteufelte „Auchbuchhandel“ der Buchbinder, Schreibwarenläden, Kaufhäuser, Kolportageunternehmen, die alltagsnah und niedrigschwellig neue Segmente von Käufern und Lesern gewannen.
Die Dynamik erbitterter ökonomischer Konkurrenzkämpfe und ebenso erbitterter branchen- wie kulturpolitischer Konflikte durchzieht die Beiträge zu Vereinen und Verbänden (V. Titel), Ausbildungsverhältnissen und Arbeitsmarkt im Buchhandel (M. Estermann), zu Sortiment und Antiquariat (G. Jäger, A. Eyselein, C. Haug, R. Wittmann) sowie zum Engagement konfessioneller und politischer Gruppierungen im Schriftenvertrieb (G. Hübinger, H. Müller). Die rapide Expansion des Buchmarktes und die damit verbundene Ausweitung der Ansprüche des Lesepublikums auf große Auswahl an jeweils Aktuellem erschütterten auch Leihbibliotheken und Lesezirkel (G. Jäger); eine Antwort war das Aufblühen von „Journal-Lesezirkeln“. Altehrwürdige exklusive Lesegesellschaften versuchten mit Erfolg, ihre Aktivitäten über den Weinvertrieb zu finanzieren.
Diese Artikel sind recht quellennah verfasst. Das vermittelt Anschaulichkeit und historisches Kolorit, gerade in der ausführlichen, nicht selten geradezu liebevollen Darstellung von Beispielen; für das Ziehen prägnanter Entwicklungslinien erweist es sich teilweise als hinderlich. Andererseits fasziniert beispielsweise in dem eher kleinteilig und quellenverliebt aufgebauten Beitrag zum Antiquariat der farbige Abschnitt zum „Modernen Antiquariat“, das in den 1870er und 1880er-Jahren bereits alle Varianten der Unterbietung des Ladenpreises und der Kundengewinnung – in heutiger Terminologie – durch massierte Schnäppchenangebote erprobte.
Sehr systematisch werden Situation und Selbstverständnis der Autoren entlang der Stadien ihrer Professionalisierung im 19. Jahrhundert dargestellt (R. Parr, J. Schönert). Ökonomisch mit Abstand am besten gestellt waren Bühnenautoren, wenn sie nur halbwegs etabliert waren – am schlechtesten Journalisten. Entsprechend der Forschungslage sind bei den Verfassern von nicht im bürgerlichen Feuilleton akzeptierten populären Schriften (Lieferungsromane, Serienhefte, Traumdeutungen, Witzsammlungen etc.) sowie bei den Autorinnen die weißen Flecken am größten. Und leider fehlt das Pendant zu diesem hochinformativen Kapitel – der im ersten Band noch versprochene Blick auf die Leserschaft beschränkt sich auf punktuelle Hinweise. Die Frage nach der „Leserlenkung“ stand im Zentrum der Debatten um Volksbibliotheken und Bücherhallen (P. Vodosek); zugleich manifestierten sich auch die rasch wachsenden Informationsbedürfnisse von Wissenschaft und Wirtschaft im Ausbau entsprechender Dienstleistungseinrichtungen.
Schließlich werden die einschneidenden Auswirkungen des Ersten Weltkriegs herausgearbeitet. An seinem Ende waren vom blühenden deutschen Auslandsbuchhandel (M. Estermann), der die herausragende Stellung des Reichs als Wissenschafts- und Verlagsstandort manifestierte, nur Trümmer geblieben. Auf der anderen Seite intensivierte und forcierte er grundlegende Tendenzen der vorangegangenen Jahrzehnte (S. Lokatis). Mit weniger Titeln und höheren Auflagen wurden im Frontbuchhandel „enorme Profite erzielt“ (S. 460). Zugleich „erwies sich der Kriegsbuchhandel als phantastische Möglichkeit, breite Massen des ‚niederen Volkes‘ für den Lesekonsum zu erschließen“ (S. 468). In verdichteten Thesen fassen G. Jäger und M. Estermann abschließend das „Profil der Buchhandelsepoche“ (S. 518) zusammen; von diesen thematischen Stichworten her kann der Interessent das Gesamtwerk gut erschließen.
Der Band rundet die imposante (mehr als 1.900 Seiten umfassende) Behandlung der Buchhandelsgeschichte im deutschen Kaiserreich nicht nur formell ab; er vollendet eine panoramatische Darstellung auf der Höhe der einschlägigen Forschung und der historiographischen Diskussion zur Epoche. Selbstverständlich werden Leser sich wünschen, dass einzelne Aspekte gründlicher behandelt worden wären; selbstverständlich wird die Mischung von Deskriptivem und Analytischem nicht alle zufriedenstellen; selbstverständlich gibt es Doppelungen und Überschneidungen. Für ein Sachregister hat die Puste nicht gereicht, erfasst sind Personen, Firmen und Organisationen; das ausdifferenzierte Inhaltsverzeichnis der drei Bücher kompensiert nur teilweise, dass die Nutzung der Informationsschätze für Nicht-Buchhandelshistoriker so erschwert wird. Doch liegt hier nun eine durchgängig wissenschaftlichen Standards genügende Gesamtdarstellung vor, die die gewaltigen Umbrüche und Spannungen des Buchwesens bis zum Ende des Weltkriegs eindringlich entfaltet und nicht nur Spezialisten einen differenzierten und gut nachvollziehbaren Einblick in die Kultur des Kaiserreichs vermittelt.
Anmerkung:
1 Siehe zu den ersten beiden Teilbänden ebenfalls von Kaspar Maase: Rezension zu: Historische Kommission der Buchhändler-Vereinigung (Hrsg.), Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Bd. 1/1, Frankfurt am Main 2001, in: H-Soz-u-Kult, 14.09.2004, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-3-147>;
Kaspar Maase: Rezension zu: Historische Kommission der Buchhändler-Vereinigung (Hrsg.), Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Bd. 1/2, Frankfurt am Main 2003, in: H-Soz-u-Kult, 14.09.2004, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-3-147>.