Wie kann man heute eine kulturgeschichtliche Überblicksdarstellung verfassen, die auch nur halbwegs den Standards transdisziplinären und transnationalen Denkens gerecht wird? In den Augen Werner Faulstichs, der den hier zu besprechenden Band herausgegeben hat, gibt es dafür bislang keine überzeugende Lösung. Er selbst hat sich entschieden: für einen Sammelband mit dem „Reichtum fachkompetenter Einzelbeiträge ohne eine alles übergreifende Leitidee“, gegen eine „notgedrungen ideologisch-relative Gesamtsicht und -darstellung aus einer Hand“ (S. 8). Herausgekommen ist nach meinem Eindruck etwas Drittes: ein Sammelband, in dem die fachwissenschaftlichen Beiträge eher enttäuschen; seine Attraktivität gewinnt er aus denjenigen Aufsätzen, deren Autoren souverän und mit pointierter Akzentsetzung große Linien ziehen – ohne Ideologie, aber fraglos mit der Relativität des Essayistischen.
Noch eine zweite Lehre kann man aus dem Band ableiten: Am besten sind die Voraussetzungen für gelingende – prägnante, Nichtfachleuten verständliche und Kulturhistoriker anregende, sogar manchmal aufregende – Überblicke zum vorigen Jahrhundert auf den intensiv bestellten Feldern eines konventionellen Kulturverständnisses, bei Künsten und Medien. Die Integration weiterer gesellschaftlicher Bereiche in eine sozialwissenschaftlich ausgerichtete Darstellung, die nach „Sinnkonzepten und handlungsorientierten Wertemustern und Leitbildern“ fragt (S. 7), ist zumindest in diesem Fall nicht gelungen.
Der Herausgeber, dem wir bereits eine ganze Reihe anregender Überblicksdarstellungen insbesondere zur Mediengeschichte verdanken, lässt in seiner Einleitung durchaus eine „übergreifende Leitidee“ erkennen: die zunehmende Formierung des kulturellen Teilsystems durch ökonomische Interessen als Signatur des 20. Jahrhunderts, vermittelt wesentlich durch „fundamentale mediengeschichtliche ‚Sprünge‘“ (S. 8). Ein Teil der Beiträge bestätigt, orchestriert und konkretisiert diesen Ansatz. Die Veränderungen, die herkömmliche kulturelle Ensembles von der Presse bis zur Musik durch die marktgetriebene Transponierung in neue Medien erfuhren, sowie die konservativen Reaktionen darauf formten die Grundstruktur unterschiedlichster Entwicklungen; die spezifischen Nutzungsweisen zwischen Massenhaftigkeit und Individualisierung, die derart möglich wurden, werden in diesen Kapiteln einsichtig gemacht.
So gesehen, liefert Knut Hickethiers schlicht brillante Skizze zum „Jahrhundert der Medien“ nicht allein grundlegende Instrumente zur Interpretation der Kultur des 20. Jahrhunderts, sondern gleichermaßen die Lesebrille zur vernetzend-erhellenden Lektüre einer Reihe von Beiträgen. Als erster ist hier Werner Faulstichs im besten Sinn polemischer Text zur Entwicklung der literarischen Kulturen zu nennen. Anregend durch Zuspitzung, bilanziert er die radikale Verwandlung von „Literatur“: triumphale Vervielfältigung in Werbung und populäre Musik, Film und Fernsehen hinein; zugleich Relativierung durch die überlegene ästhetische wie gesellschaftsprägende Kraft audiovisueller und elektronischer Massenmedien.
Vergleichbar ist der Ansatz in Carola Schormanns Skizze der bürgerlichen Reaktionen auf die medial-sozialen Wandlungen, die das romantische Verhältnis zur (klassischen) Musik als der vermeintlich deutschesten aller Künste marginalisierten. Die Autorin zeigt überzeugend, wie die konservative Abwehr dieser Entwicklung in immer neuen Gestalten wiedergeboren wurde und wird – gegenwärtig in spekulativen Verheißungen, welche Steigerung intellektueller Leistungsfähigkeit das gemeinsame Musizieren von Kindern bewirken werde. Mit einem schwächeren Akzent auf den Medienwandel zeichnet Siegfried Gohr markante Linien der Entwicklung der bildenden Künste, die er in wechselnde Hoffnungen und Erwartungen gesellschaftlicher Modernisierung einbettet, aber auch in das Kräftefeld von Händlern, Sammlern und Publika.
Zwei weitere Beiträge arbeiten prägnant kulturelle Entwicklungsstränge heraus – allerdings ohne Bezug auf das Interpretationsmuster Ökonomisierung/Medialisierung. Detlev Gaus nimmt das Verhältnis von Bildungssystem und Erziehungsprozessen in den Blick und entdeckt paradoxe Ambivalenzen. So habe die Standardisierung im Schulsystem und in den familialen Erziehungsbemühungen die Entstandardisierung der Lebensläufe vorangetrieben; aus der Möglichkeit des Einzelnen, sich entwerfen zu können, sei der Zwang für Viele geworden, sich entwerfen zu müssen (S. 97). Das bleibt jedoch, auch wegen der Breite des Zugriffs, weithin abstrakt. Hans-Dieter Kübler bettet die Kinder- und Jugendkulturen anhand bekannter Formationen von den Wandervögeln bis zu den „digital natives“ in die deutsche Geschichte ein, mit unverkennbarer Skepsis gegenüber Manipulationen und Schmeicheleien (S. 140) des Konsum- und Medienangebots. Unter dem Stichwort „Alltagskultur“ behandelt Ricarda Strobel Ernährung, Kleidung und Wohnung. Ihre knappen Abrisse liefern historische Sachinformationen, können aber bei dem begrenzten Platz kaum anders als pauschalisierend ausfallen.
Die übrigen Beiträge zielen auf eine Erweiterung des kulturhistorischen Panoramas durch „bislang übersehene oder nicht angemessen dargestellte Einzelbereiche“ (S. 7). Und wirklich wäre es verdienstvoll, Themen wie Recht, Religiosität, Betriebsführung in einen komplexen Überblick zu integrieren. Doch mit der Einbindung in kulturanalytische und -historische Rahmungen hapert es; so ergeben sich meist konventionelle fachwissenschaftliche Darstellungen, deren spezifisch kulturgeschichtliche Bedeutung offen bleibt. Das gilt für die Aufsätze zu Unternehmenskultur (Günter Bentele / Jens Seiffert) und Rechtskulturen (Stephan Meder), zu den christlichen Kirchen (Gerhard Ringshausen) und zur Werbegeschichte (Karin Knop) sowie für den sozialgeschichtlichen Abriss von Dirk Stegmann. Ziemlich ratlos schließlich hat den Rezensenten Karlheinz Wöhlers ambitionierter Beitrag über „Räume der Kultur“ gelassen. Anscheinend geht es – auf hohem Abstraktionsniveau – darum, gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen und Kulturmodelle in ein spatiales Paradigma zu übersetzen.
In redaktioneller Hinsicht hätte der Band etwas mehr Sorgfalt verdient. Eric Hobsbawm wird durchgängig „Hobsbawn“ genannt, der Grafiker Ludwig Sütterlin erscheint als „Sütterling“ (S. 182), und aus dem Verlag Rütten & Loening wurde „Rütten und Lowning“ (S. 191). Angaben zu den Autoren fehlen. Es gibt längere Zitate ohne genauen Quellennachweis (S. 36, S. 42), und einige Urteile – etwa über die angebliche Akzeptanz diskriminierender Werbung (S. 177) oder über „Standardisierung der Nahrungsmittel: zu fett, zu salzig, zu süß“ (S. 106) – wären vielleicht besser ein wenig zurückhaltender formuliert worden.
So bleibt ein zwiespältiges Urteil. Der Band schließt ja Werner Faulstichs großes Unternehmen einer nach Dekaden gegliederten deutschen Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts (ohne DDR) in 10 Bänden1 mit thematischen Einzeldarstellungen ab. Zwar gibt es keine vergleichbare Gesamtdarstellung für diesen Zeitraum. Doch infolge der heterogenen Zugriffe der Autoren kann der Abschlussband nicht mit eigenem Profil neben die Überblicke von Axel Schildt / Detlef Siegfried, Hermann Glaser und Jost Hermand über die zweite Jahrhunderthälfte treten.2 Am nächsten liegt noch der Vergleich mit den Bänden „Gesellschaft“ und „Kultur“ in Wolfgang Benz’ Geschichte der Bundesrepublik3, die insgesamt aber kohärenter und substanzieller wirken. Faulstich hat durchaus einen eigenen, fruchtbaren (im Grunde sogar überfälligen) Ansatz – dem aber lediglich eine Minderheit der Beiträge korrespondiert. So kann man eigentlich nur hoffen, dass der Herausgeber selbst mit Hilfe des vorliegenden Materials eine Kulturgeschichte aus einem Guss erarbeiten wird.
Anmerkungen:
1 Werner Faulstich (Hrsg.), Das Erste Jahrzehnt, Paderborn 2006 (rezensiert von Dominik Geppert: Rezension zu: Faulstich, Werner (Hrsg.): Das Erste Jahrzehnt. Paderborn 2006, in: H-Soz-u-Kult, 19.04.2007, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-2-041>); ders. (Hrsg.), Das Zweite Jahrzehnt, Paderborn 2007; ders. (Hrsg.), Die Kultur der 20er Jahre, Paderborn 2008 (rezensiert von Siegfried Weichlein: Rezension zu: Faulstich, Werner (Hrsg.): Die Kultur der 20er Jahre. Paderborn 2008, in: H-Soz-u-Kult, 09.02.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-1-109>); ders. (Hrsg.), Die Kultur der 30er und 40er Jahre, Paderborn 2009; ders. (Hrsg.), Die Kultur der 50er Jahre, Paderborn 2002; ders. (Hrsg.), Die Kultur der 60er Jahre, Paderborn 2003 (die beiden letztgenannten Bände rezensiert von Rainer Eisfeld, in: H-Soz-u-Kult, 05.01.2004, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-1-002>); ders. (Hrsg.), Die Kultur der 70er Jahre, Paderborn 2004 (rezensiert von Maria Stehle: Rezension zu: Faulstich, Werner (Hrsg.): Die Kultur der 70er Jahre. Paderborn 2004, in: H-Soz-u-Kult, 07.12.2004, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-4-166>); ders. (Hrsg.), Die Kultur der 80er Jahre, Paderborn 2005 (rezensiert von Maria Stehle: Rezension zu: Faulstich, Werner (Hrsg.): Die Kultur der 80er Jahre. Paderborn 2005, in: H-Soz-u-Kult, 18.11.2005, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-4-108>); ders., Die Kultur der 90er Jahre, Paderborn 2010 (rezensiert von Andreas Wirsching: Rezension zu: Faulstich, Werner (Hrsg.): Die Kultur der 90er Jahre. Paderborn 2010, in: H-Soz-u-Kult, 07.10.2010, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2010-4-017> [6.8.2011]).
2 Axel Schildt / Detlef Siegfried, Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik von 1945 bis zur Gegenwart, München 2009; Hermann Glaser, Deutsche Kultur 1945–2000, München 1997; Jost Hermand, Kultur im Wiederaufbau. Die Bundesrepublik Deutschland 1945–1965, München 1986; ders., Die Kultur der Bundesrepublik Deutschland 1965–1985, München 1986.
3 Wolfgang Benz (Hrsg.), Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, 4 Bde., aktualisierte und erweiterte Neuausgabe Frankfurt am Main 1989 (1. Aufl. 1983).