Titel
The Other Empire. Metropolis, India and Progress in the Colonial Imagination


Autor(en)
Marriott, John
Reihe
Studies in Imperialism
Erschienen
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
€ 20,61
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Mann, Institut für Asien- und Afrikawissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Mit „The Other Empire” eröffnete John Marriott seinerzeit eine Debatte, die erstmals die gleichzeitig in verschiedenen Teilen des Britischen Imperiums greifenden Konzepte zum Anderen betrachtet und seine Konstruktion analysiert. England und insbesondere London auf der einen sowie Britisch-Indien auf der anderen Seite sind die Untersuchungsfelder eines Diskurses über das zunehmend Andere in der eigenen und in der kolonialen Gesellschaft. Armut stellt den Ausgangspunkt des Diskurses dar, der schließlich in der Definition von Schmutz, Krankheit und Lasterhaftigkeit endet. Auf diese Art und Weise wird die metropolitane Gesellschaft ebenso gespalten wie die koloniale. Hauptanliegen des Diskurses über das Andere ist, inwiefern der Fortschritt sichergestellt werden kann und dabei zugleich die retardierenden Momente des Anderen ausgemerzt, zumindest aber kontrolliert werden können. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund ist Marriotts Buch ein Beitrag zur inzwischen lang anhaltenden „Orientalismusdebatte“, wie sie Edward Said vor nun mehr als dreißig Jahren angestoßen hat.

Grundlage für eine solche Differenzierung in der Metropole wie der Kolonie bildet die schiere Menge an gesammelten und aufgehäuften Informationen zu Handel, Finanzen, Gesundheit, Kriminalität und Gewerbe. Neue Wissenskategorien werden integraler Bestandteil eines kulturellen Projektes, das Großbritannien und insbesondere England als eine „moderne“, „fortschrittliche“ Kolonialmacht erscheinen lässt und als solche etabliert. Der Ausweitung der Kolonialherrschaft in Südasien kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu bei der Konsolidierung sowohl der heimischen parlamentarischen Demokratie als auch der überseeischen kolonialen Autokratie. Man kann geradezu von einer mutuellen Reziprozität sprechen. Auffällig an dieser wechselseitigen Beeinflussung ist, dass es oftmals Informations- und Wissenskategorien waren, die im indisch-kolonialen Kontext aus reiner Verwaltungsnot und Herrschaftszwang entwickelt wurden, die dann auch bei der „Ordnung“ der britischen Gesellschaft zentrale Bedeutung erhielten. So wurde der selbstvergewissernde Kulturbegriff in erheblichem Maße durch einen inneren Kolonialismus geschaffen.

Der Aneignung der „indischen“ Geschichte, ja überhaupt ihrer historischen Erfindung, kommt eine erste Schlüsselfunktion zu. Einerseits bedurfte man zur steuerlichen und juristischen Verwaltung Informationen über Land und Leute, andererseits konnten solche Informationen in Wissen über „Indien“ transformiert werden. Dies geschah insbesondere nach der Entdeckung der so genannten indo-europäischen Sprachfamilien durch William Jones, der Ende des 18. Jahrhunderts als Richter in Kalkutta arbeitete. Reisetagebücher und Reiseberichte ergänzten bald die reine „Faktensammlung“ und machten bestimmte als geschichtsträchtig empfundene Orte in Britisch-Indien zu zentralen Kulturpunkten der eigenen wie der indischen Geschichte im Land. Schließlich sollte die kartografische Erfassung die Vorstellung einer beherrschbaren, das heißt effizient verwaltbaren Region komplettieren. Hinzu kamen freilich noch die zahllosen geologischen, biologischen, zoologischen und ethnologischen Expeditionen, die in ebenso zahllosen Publikationen ihren wahrlich weitreichenden Niederschlag fanden.

Totalität und Monumentalität nahm diese Informationsbeschaffung nach 1881 mit den alle zehn Jahre stattfindenden Census of India an, wenn nun die gesamte „indische Gesellschaft“ uniform nach Kasten, Religionen, und Berufsgruppen sortiert und diese Wissenskategorien als die einzigen Charakteristika einer dann solcherart definierten „indischen Gesellschaft“ präsentiert wurden. Was auf der einen Seite als Fortschritt nicht zuletzt im Zeichen der Empirie galt, nämlich die systematische Erfassung mittels umfassender Erhebungen, machte auf der anderen Seite „Indien“ und die „indische Gesellschaft“ zu einem statischen Objekt der Betrachtung. Dynamisch war lediglich der Staat bzw. seine Helfer wie Volkszähler, Kartografen, Fotografen, Botaniker, Zoologen, Soziologen usw. So besagt denn John Marriotts These auch, dass „ [a]t that moment in the late eighteenth century when Indian became subject to the knowledgeable gaze of the British state, belief in the idea of progress took shape. This belief structured the ways in which both the metropolis and colony came to be understood.” (S. 6)

Während dieses Prozesses wurden gesellschaftliche Gruppen als arm, primitiv, kriminell und somit andersartig gegenüber dem konstruiert, was als bürgerlich-liberal erscheinen und als gesellschaftlicher Maßstab gelten sollte. Eine strenge Hierarchisierung sowohl der kolonialen wie auch der metropolitanen Gesellschaft war die Folge, oftmals von denselben Akteuren herbei geführt. Evangelikale Gruppen missionierten zugleich an der heimischen wie an der überseeischen inneren Zivilisationsfront und halfen als frühe „NGO’s“ ganz wesentlich bei der Entstehung einer für progressiv erachteten Gesellschaftsordnung. Sie taten das zu einem Zeitpunkt, als im Rahmen der Aufklärung Sklavenhandel und Sklaverei abgeschafft werden sollten, während zur selben Zeit alte Bilder von Barbarei, Heidentum und Wildheit bemüht wurden, um die „innere Ordnung“ neu zu formieren und zu stabilisieren. Dieses anscheinende Paradoxon gehörte freilich zu den bürgerlich-liberalen Inkonsistenzen einer als modern und fortschrittlich erachteten Gesellschaft.

Sind die ersten Kapitel noch etwas deskriptiv angelegt, gewinnt das Buch zunehmend an analytischer und argumentativer Fahrt. Verwunderlich ist der fehlende Rekurs auf Untersuchungen zu Irland und Indien als die wichtigsten Kolonien Englands. Hier hätten sich durchaus Vergleichsmöglichkeiten angeboten, denn auch Irland bzw. die koloniale Konstruktion von Irland trug wesentlich zum kolonisierenden und gesellschaftlichen Selbstverständnis Englands bei. Die zahlreichen Publikationen zu diesem Thema lassen die Auslassung umso merkwürdiger erscheinen.1

Abgesehen von diesem Manko ist an dem Buch kaum etwas auszusetzen. Nicht ohne Grund hat es nach nur sechs Jahren eine zweite Auflage erfahren, setzt es doch immer noch Maßstäbe für eine neue Empiregeschichte.

Anmerkung:
1 Scott B. Cook, Imperial Affinities. Nineteenth Century Analogies and Exchanges between India and Ireland, New Delhi 1993; Kate O’Malley, Ireland, India and Empire. Indo-Irish Radical Connections 1919-64, Manchester 2008; Jennifer Regan-Lefebvre, Cosmopolitan Nationalism in the Victorian Empire. Ireland, India, and the Politics of Alfred Webb, Basingstoke 2009; Michael Silvestri, Ireland and India. Nationalism, Empire and Memory, London 2009. Interessant wären zudem die neuesten Untersuchungen in: Maxim Fomin u.a. (Hrsg.), Sacred Topology of Ireland and Ancient India. Religious Paradigm Shift, Washington D.C. 2010.

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