Endlich, über 50 Jahre nach den baubegleitenden Untersuchungen (1955–1957) in der St.-Wiperti-Kirche in Quedlinburg, werden die Ergebnisse von Gerhard Leopold präsentiert. Leopolds Forschungen werden in diesem A4-Band posthum veröffentlicht, der Text beruht auf einem Manuskript, das der (2006 hochbetagt verstorbene) Autor 2002 abgeschlossen hatte. Der Band korrespondiert mit einer Zusammenstellung der historischen Quellen des Kunsthistorikers Ernst Schubert aus dem Jahre 2007.1 Für den Druck aufbereitet wurde er von einer Redaktion um den Denkmalpfleger Reinhard Schmitt, der mit den Gegebenheiten vor Ort bestens vertraut ist.
Die vorgelegte Fassung geht auf alle drei ottonischen Kirchenbauten in Quedlinburg ein, und ist in fünf große Abschnitte unterteilt: die eigentlichen Texte zu den Kirchen, einen ausführlichen Anmerkungsteil, das Literaturverzeichnis, die 148 Zeichnungen („Figuren“) und die 271 schwarz-weißen Abbildungen. Da die Figuren und schwarz-weißen Fotos separat angeordnet sind, werden beim Lesen stets drei Finger benötigt, um die entsprechende Endnote, die zugehörige Zeichnung und das entsprechende Foto zur Hand zu haben.
Der Text unterteilt sich in drei Kapitel, die von ihrer Länge wie von der inhaltlichen Gewichtung sehr unterschiedlich sind. Der Abschnitt zur Kirche St. Servatii (S. 13–74, Anm. 1–387, Fig. 1–66, Abb. 1–93) ist zum überwiegenden Teil eine sehr detaillierte Diskussion der publizierten Ergebnisse von Hermann Wäscher2 anhand von dessen Manuskripten sowie eigener Beobachtungen Leopolds. Das Kapitel zur St.-Wiperti-Kirche (S. 75–108, Anm. 388–597, Fig. 67–146, Abb. 94–262) stellt die von Leopold selbst untersuchten Baubefunde vor, geht aber auch auf frühere und spätere Beobachtungen ein. Demgegenüber am kürzesten ist der Text zur St.-Marien-Kirche (S. 109–117, Anm. 598–643, Fig. 147 f., Abb. 263–271). Leopold diskutiert darin überwiegend ältere Abbildungen und die Arbeiten von Adolf Zeller und Winfried Korf.3
Da vor allem die Darstellung zur St.-Wiperti-Kirche neue Erkenntnisse bietet, liegt darauf im Folgenden der Fokus. Leopolds Abfolge der Bauten der St.-Wiperti-Kirche beginnt Anfang des 10. Jahrhunderts mit einer großen Hallenkirche (21 x 11,5 m) des königlichen Hofes. Während diese weiterhin benutzt wurde, sei westlich von ihr das Langhaus einer kreuzförmigen Basilika begonnen worden. Später sei die Hallenkirche entfernt und mit einem apsidialen Sanktuarium die kreuzförmige Basilika beendet worden. Für letztere nimmt Leopold ein ungeteilt durchgehendes Querhaus an (S. 78). In die runde Apsis wurde die Krypta kurz nach 999 eingebaut, vielleicht weil die „Confessio“ vom Burgberg verlagert wurde (S. 87). Mit dem Tod Ottos III. könnten diese Baumaßnahmen jedoch geendet haben (S. 88), weshalb die Krypta in einem unvollendeten Zustand blieb. Für einen auffallend großen Raum südlich der Krypta sowie Gangsysteme westlich davon schlägt Leopold die Deutung als Kapitelsaal und Klausurgebäude vor (S. 91). Dabei begegnet man einer der seltenen methodischen Unschärfen, da er die in diesem Bereich enthaltenen Gräber nicht untersucht oder datiert hat. Weitgehend neu – sie kommen im bisherigen Bauphasenplan (Fig. 67) nicht vor – sind die Grundrisse der ottonischen Stiftskirche (Fig. 114) und der Prämonstratenserkirche (Fig. 120). Insgesamt ist an der rekonstruierten Abfolge von Leopolds Bauphasen kaum zu zweifeln, allerdings lassen die Befunde im Einzelfall auch andere Interpretationen zu. Insbesondere die Ausdehnung der Querhäuser der vermuteten kreuzförmigen Basilika (Bau II) beruht im Norden auf unsicheren Befunden. Als dort 1999 erneut Drainagemaßnahmen durchgeführt wurden, stellte sich die vorgefundene Situation deutlich komplizierter dar. Das sind jedoch Details, die nichts an der grundsätzlichen Bauabfolge ändern. Schwerwiegender ist dagegen, dass die Auswertung der archäologischen Funde, die in Kisten auf dem Dachboden des Quedlinburger Schlossmuseums ausharren – entgegen dem Untertitel des Buches –, weiterhin aussteht.
Bei der ansonsten gründlich und umfassend verzeichneten Literatur wurden einige Titel ausgespart. Besonders überraschend ist dabei die fehlende Nennung von Uvo Hölscher, der als erster den nachträglichen Einbau der Krypta in einen bestehenden Kirchenbau erkannte, und von Heike Drechslers Aufsatz zur Grablege Heinrichs I.4 Auch dass Leopold das Manuskript von Hans-Bernhard Theopold zu den Umbauten in St. Wiperti während der NS-Zeit unbekannt geblieben sein soll, ist kaum anzunehmen.5
Der mit „Figuren“ übertitelte Abschnitt bringt in großer Zahl die seit langem erwarteten Profile der Grabungen in einheitlichen Maßstäben. Allerdings sind der Plan von Rolf Höhne zu den Grabungen von 1939 (Fig. 22) und der Übersichtsplan der Befunde in St. Wiperti (Fig. 68) deutlich zu klein. Letzterer hätte sich allein im Querformat auf einer Seite hervorragend gemacht, gerade weil er für die Zuordnung der vielen Grabungsprofile unbedingt notwendig ist und der Text sich ständig auf die Befundnummern in diesem Plan bezieht. Von großem Wert sind die Kopien der Zeichnungen (Fig. 137–140), die während der Maßnahmen in den 1940er-Jahren gemacht wurden und sonst weitgehend unzugänglich waren.
Überhaupt ist eine besondere Stärke des Bandes sein Abbildungsteil. Mit 427 Illustrationen, insbesondere der baubegleitenden Fotos, macht er über die Hälfte des Werkes aus. Das Wissen um die dargestellten Befunde stand bisher schlichtweg nicht zur Verfügung, weil sie nach der Untersuchung wieder hinter steinerner Verblendung oder Putz verschwanden. Hingewiesen sei dabei für St. Wiperti auf die Fotos der in ottonische Zeit datierten Mauerreste von Bau I (Abb. 201–221), unbekannter Inschriften (Abb. 146, 150) oder der Befunde in und über der Krypta (Abb. 252, 257).
Das Lektorat hat sehr sorgfältig gearbeitet. Außer einem verzeihlichen Bezugsfehler (Anm. 30) und einem Jahreszahlfehler 1524 statt 1525 (S. 110) sind bei der Lektüre keine Fehler aufgefallen. Die beiden letzten Abschnitte zur Kirche St. Wiperti (S. 107 f.) sind zwar chronologisch früher einzuordnen, aber das stört den Lesefluss kaum. Zwei Mankos gibt es jedoch bei den Abbildungen. Zunächst sind die Figuren 35 und 36 identisch, wobei die letztere fehlt. Ebenso zeigen die Abbildungen 252 und 253 die gleichen Fotos – jedoch passt keiner der beiden Beschreibungstexte zu dem Foto. In den Texten werden Befunde nördlich und südlich des gotischen Ostschlusses beschrieben, während auf den Fotos ein Befund in der Krypta dokumentiert wurde. Um einen besseren Umgang mit dem Befundplan (Fig. 68) zu ermöglichen, wäre zudem eine durchnummerierte Befundliste wünschenswert gewesen.
Fazit: Das auch in der Gestaltung ansprechende Buch ist eine wahre Fundgrube. Zwar hatte Leopold in 27 eigenen und fünf gemeinsamen Publikationen viele seiner Ergebnisse bereits veröffentlicht, aber bei weitem nicht alle Befunde. Der Abgleich der teilweise fragwürdigen publizierten Schlüsse von Hermann Wäscher mit dessen eigenen Manuskripten kann als großer Sprung für die Forschung zur Kirche St. Servatii angesehen werden. Auch die detaillierte Vorstellung der Befunde zur St.-Wiperti-Kirche bietet eine Fülle an neuen aufschlussreichen Materialien, wohingegen bei der Besprechung der St.-Marien-Kirche auf dem Münzenberg mittlerweile die Realität die Forschung überholt hat. Die Kirche ist in den vergangenen zehn Jahren aus ihrem fünfhundertjährigen Dornröschenschlaf erweckt worden und inzwischen zu mehr als der Hälfte wieder begehbar. Zwar sind die Forschungen zu allen drei Kirchenbauten mittlerweile durch Restaurierungs- und Baumaßnahmen vorangeschritten, trotzdem stellt das Werk einen bedeutenden Meilenstein in der Untersuchung der ottonischen Kirchen nicht nur Quedlinburgs dar und wird dem Wunsch des Autors entsprechend wohl „vor allem dazu anregen, ihre Erforschung weiter voranzutreiben“ (S. 10).
Anmerkungen:
1 Ernst Schubert, Die Kirchen St. Wiperti und St. Servatii in Quedlinburg. Eine Interpretation der literarischen Quellen zur Baugeschichte, in: Sachsen und Anhalt 25 (2007), S. 31–80.
2 Hermann Wäscher, Der Burgberg in Quedlinburg, Geschichte seiner Bauten bis zum ausgehenden 12. Jahrhundert nach den Ergebnissen der Grabungen von 1938 bis 1942, Berlin 1959.
3 Adolf Zeller, Die Kirchenbauten Heinrichs I. und der Ottonen in Quedlinburg, Gernrode, Frose und Gandersheim, Berlin 1916; Winfried Korf, Der Münzenberg in Quedlinburg, Quedlinburg-Jena 1998.
4 Uvo Hölscher, Die Wipertikrypta und die Unterkirche der Abtei in Quedlinburg, in: Zentralblatt der Bauverwaltung 37 (1917), S. 76–79 u. 83–87; Heike Drechsler, Zur Grablege Heinrichs I. in Quedlinburg, in: Archiv für Diplomatik, Schriftgeschichte, Siegel- und Wappenkunde 46 (2000), S. 155–179.
5 Hans-Bernhard Theopold, St. Wiperti zu Quedlinburg. Historische und kunstgeschichtliche Untersuchung der St.-Wiperti-Kirche und ihrer Krypta. Stadtarchiv Quedlinburg, maschinenschriftlich um 1953.