Anton Legerer hat mit seiner Dissertation eine quellengesättigte und akribisch recherchierte Organisationsgeschichte von „Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste“ seit ihrer Gründung 1958 vorgelegt. Dazu hat er neben dem umfangreichen Aktenbestand im Evangelischen Zentralarchiv Berlin auch Quellen aus weiteren kirchlichen und staatlichen Archiven und der Stasiunterlagenbehörde (BStU) sowie private Nachlässe ausgewertet; zudem hat er über Zeitzeugengespräche weitere Quellen erhoben. Seine Untersuchungen ergänzt Legerer durch einen Blick auf die seit den frühen 1990er-Jahren bestehenden „Gedenkdienste“ in Österreich, die sich in mehrerer Hinsicht auf das Vorbild der Aktion Sühnezeichen beziehen. Während sich das Gros der bisherigen Untersuchungen zu diesem Feld mit der westdeutschen Aktion Sühnezeichen beschäftigt, nimmt Legerer eine gesamtdeutsche Perspektive auf die zwischen 1961 und 1991 getrennt agierende Organisation ein1; für die Gedenkdienste in Österreich hat er die erste historische Studie überhaupt verfasst.
Legerer verortet die Geschichte von Aktion Sühnezeichen und der Gedenkdienste in der Nachgeschichte der NS-Diktatur in beiden deutschen Staaten und in Österreich. Aktion Sühnezeichen bettet er zudem in die Geschichte und die Strukturen der protestantischen Kirche(n) seit 1945 ein. Seine Arbeit argumentiert nicht auf eine generelle These zur Aufarbeitung der Vergangenheit in den drei Nachfolgestaaten des „Dritten Reichs“ mittels Versöhnungsaktivitäten hin. Vielmehr liegt ihre Stärke zum einen in der Formulierung erkenntnisreicher Thesen zu Einzelaspekten der Geschichte von Aktion Sühnezeichen und der Gedenkdienste in Österreich, zum anderen in einer gesamtdeutschen beziehungsweise transnationalen Zusammenschau dieser Organisationen sowie ihrer ideellen und personellen Verflechtungen. Legerers Freude am ausführlichen Zitieren gibt dem Leser die Möglichkeit, seine Interpretationen nachzuvollziehen, erschwert jedoch den Lesefluss dort, wo er auf eine direkte Bezugnahme zu den angeführten Quellen verzichtet hat.
Ohne dies als Herangehensweise explizit zu machen, bündelt Legerer in seiner Studie mehrere methodische Zugänge. In einem ersten Teil (Kapitel II und III) nähert sich Legerer der Aktion Sühnezeichen über einen ideengeschichtlichen und biographischen Zugriff, mit dem er Vorgeschichte und Gründungsphase der Organisation untersucht. Ausführlicher als dies bislang geschehen ist, untersucht Legerer die christlich-theologischen Grundlagen und Grundbegriffe der Organisation wie „Sühne“, „Versöhnung“, „Schuld“ und „Vergebung“. Dabei überzeugt insbesondere Legerers kritische Auseinandersetzung mit verschiedenen Aspekten des Versöhnungskonzepts von Aktion Sühnezeichen. So legt er dar, dass als Voraussetzung für eine Versöhnung eine wechselseitige Vergebung zwischen Deutschen und den Adressaten der Sühneleistung impliziert werde, womit auch den Leidenserfahrungen von Deutschen im Zuge des Zweiten Weltkriegs Rechnung getragen werden sollte (S. 38f.). Legerer konstatiert jedoch zu Recht, dass „die wechselseitige Vergebungsprämisse [...] für präsumtive Sühnezeichenpartner ein Problem“ war (S. 40), was insbesondere für jüdische Partner in Israel galt. Für das Verständnis von Aktion Sühnezeichen ist es ihm zudem wichtig, die biographischen Hintergründe und Netzwerke wichtiger Sühnezeichenfunktionäre herauszuarbeiten, die in der Bekennenden Kirche, dem Kreisauer Kreis und der internationalen Versöhnungsbewegung verwurzelt waren.2
In Kapitel IV und V widmet sich Legerer den im Buchtitel angesprochenen, doppelsinnigen „Tatorten“ der Versöhnung – von Aktion Sühnezeichen organisierten Aktivitäten junger Deutscher in sozialen Einrichtungen, Gedenkstätten, jüdischen Friedhöfen und Bauprojekten. Die für Aktion Sühnezeichen West zentralen Auslandseinsätze von Freiwilligen und Ersatzdienstleistenden untersucht Legerer über eine Rekonstruktion der ersten Projekte in Norwegen und den Niederlanden sowie eine Analyse von Entstehung, Durchführung und Wirkung des Engagements in Israel und Polen. Offen bleibt, weshalb gerade diese vier Länder als Fallstudien gewählt, Aktivitäten in Ländern wie Frankreich und den USA dagegen nicht eigens untersucht wurden.3 In seinen Analysen der Versöhnungsaktivitäten nimmt Legerer auch die jungen Freiwilligen in den Blick. Im Vordergrund steht dabei die Rekonstruktion der Aktivitäten anhand von Berichten und Tagebucheinträgen, weniger eine Analyse der Reflexionen der jungen Erwachsenen über ihr Handeln als Versöhnungsakteure.
In Kapitel VI nimmt Legerer eine institutionengeschichtliche Analyse der Rolle von Aktion Sühnezeichen im Verhältnis von Staat und Kirche vor. Für Aktion Sühnezeichen in der DDR betont er dabei die Einzigartigkeit der Organisation als „institutionalisierte NGO mit einem gesellschaftspolitischen und transnationalen Auftrag“ (S. 308), die sich außerhalb der SED-Massenorganisationen etablieren und bis zum Ende der DDR behaupten konnte. Auf Basis der ihm zur Verfügung gestellten Unterlagen der BStU verfolgt Legerer auch die Infiltrierung und versuchte Einflussnahme seitens des Ministeriums für Staatssicherheit. Während die Beziehungen von Staat, Kirche und Aktion Sühnezeichen in Ost und West einen zentralen Aspekt seiner Analyse darstellen, legt der Autor weniger Wert auf eine Untersuchung der gesellschaftlichen Stellung von Aktion Sühnezeichen. Deren Wirkung reichte jedoch über die von Legerer rekonstruierten protestantischen und staatlichen Netzwerke hinaus, worauf auch eine im Anhang angeführte Übersicht zivilgesellschaftlicher Preise und Auszeichnungen verweist. Über eine breitere Analyse der Rezeption in den Medien und anderer Reaktionen, die sich beispielsweise in Schreiben von Privatpersonen an Aktion Sühnezeichen finden, ließen sich Legerers Ergebnisse sinnvoll ergänzen.
Der Vergleich der beiden Organisationen in Ost- und Westdeutschland verdeutlicht, dass Aktion Sühnezeichen in der DDR stärker den theologischen Grundlagen verpflichtet blieb, während sich die westdeutsche Organisation trotz vielfältiger Verbindungen zur Evangelischen Kirche und zu protestantischen Netzwerken dem linken friedensbewegten Milieu annäherte und in den frühen 1980er-Jahren zu einem wichtigen Akteur der Friedensbewegung wurde. Diese unterschiedliche Entwicklung trug Legerer zufolge – neben anderen Faktoren wie der Stasi-Problematik – auch zu Konflikten im Zuge der Vereinigung beider Organisationen seit den frühen 1990er-Jahren bei.
Im letzten Kapitel schließt Legerer einen rezeptionsgeschichtlichen Blick auf die Entstehung und Umsetzung der Gedenkdienste in Österreich an. Er rekonstruiert die seit den 1960er-Jahren bestehenden Verbindungen zwischen Aktion Sühnezeichen West und verschiedenen österreichischen Personen, die der Gründung eines, später mehrerer Gedenkdienste vorausgegangen waren. Die Debatten über die Gedenkdienste bettet er in den Umgang mit dem Erbe des Nationalsozialismus ein, der bis zur Waldheim-Affäre Mitte der 1980er-Jahre von der Vorstellung geprägt war, Österreich sei Hitlers „erstes Opfer“ gewesen. Besonders anregend sind Legerers Ausführungen zur Verschiebung von Täter- und Opfernarrativen im Rahmen dieser Debatten und der Einrichtung der Gedenkdienste. Seine These eines Vorbildcharakters der Versöhnungstätigkeit von Aktion Sühnezeichen für die österreichischen Gedenkdienste ist sowohl für die transnationale Erforschung der Nachgeschichte des „Dritten Reichs“ und des Zweiten Weltkriegs interessant als auch für die Frage nach der Transformationsfähigkeit nationaler Versöhnungskonzepte.
Nicht zuletzt zeigt Legerer die problematischen Seiten von Versöhnungsarbeit im transnationalen Kontext auf. So waren beispielsweise israelische Unterstützer von Aktion Sühnezeichen wie Schalom Ben Chorin wenig erfreut, als Aktion Sühnezeichen West in Polen aus politischen Gründen zeitweise dem dort dominierenden Narrativ folgte, das sich auf die polnischen Opfer des Holocaust konzentrierte und damit die jüdischen Opfer marginalisierte (S. 244ff.).
Anton Legerers Dissertation bietet ein erkenntnisreiches, durch profunde Quellenstudien erarbeitetes Panorama der Geschichte von Aktion Sühnezeichen, das er durch einen transnationalen Blick auf die österreichischen Gedenkdienste sinnvoll ergänzt. Weitere Forschungen zu Versöhnungsaktivitäten zivilgesellschaftlicher Akteure, gerade auch in ihren transnationalen Bezügen, können auf seinen Ergebnissen aufbauen.
Anmerkungen:
1 Die bislang einzige Publikation zur gesamtdeutschen Aktion Sühnezeichen ist die Dokumentation von Gabriele Kammerer, Aktion Sühnezeichen Friedensdienste. Aber man kann es einfach tun, Göttingen 2008 (siehe hierzu die Rezension von Philipp Springer, in H-Soz-u-Kult, 9.1.2009: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-1-019>). Aus dem Kreis der (ehemaligen) Freiwilligen oder Mitarbeiter stammen Publikationen zu Sühnezeichen West: Ansgar Skriver, Aktion Sühnezeichen. Brücken über Blut und Asche, Stuttgart 1962; Karl-Klaus Rabe, Umkehr in die Zukunft – Die Arbeit der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste, Göttingen 1983; Christian Staffa, Die „Aktion Sühnezeichen“. Eine protestantische Initiative zu einer besonderen Art der Wiedergutmachung, in: Hans Günter Hockerts / Christiane Kuller (Hrsg.), Nach der Verfolgung. Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in Deutschland?, Göttingen 2003, S. 139-156. Zu Aspekten der Arbeit von Aktion Sühnezeichen in der DDR liegen vor: Merrilyn Thomas, Communing with the Enemy. Covert Operations, Christianity and Cold War Politics in Britain and the GDR, Oxford 2005; Edit Király, An der Grenze des Erlaubten. Ungarische Kontakte der Aktion Sühnezeichen in den 1980er Jahren, in: Journal of Modern European History 8 (2010), S. 221-242.
2 Zum Sühnezeichen-Gründungsvater siehe Konrad Weiß, Lothar Kreyssig – Prophet der Versöhnung, Gerlingen 1998.
3 Aspekte der Auslandstätigkeiten wurden in folgenden Studien analysiert: Johanna Pütz, In Beziehung zur Geschichte sein. Frauen und Männer der dritten Generation und ihre Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 1999; Jonathan Huener, Antifascist Pilgrimage and Rehabilitation at Auschwitz: The Political Tourism of Aktion Sühnezeichen and Sozialistische Jugend, in: German Studies Review 24 (2001), S. 513-532; Lilach Marom, On Guilt and Atonement. Aktion Sühnezeichen Friedensdienste and Its Activity in Israel, in: Yad Vashem Studies 35 (2007), S. 187-220. Nicht mehr berücksichtigen konnte Legerer: Christine Gundermann, Leiden ohne Täter? Deutsch-niederländische Kommunikation über die nationalsozialistischen Verbrechen, in: Birgit Hofmann u.a. (Hrsg.), Diktaturüberwindung in Europa. Neue nationale und transnationale Perspektiven, Heidelberg 2010, S. 132-150.