„Die Arbeit des Gelehrten“, so ist Beate Wagner-Hasels „biographische Reise“ (S. 340) zu Karl Bücher überschrieben, und gelehrte Arbeit wurde hier umfangreich geleistet. Der Ausgangspunkt ist das Interesse an der Bücher-Meyer-Kontroverse über die „Modernität“ der antiken Wirtschaft, die in der althistorischen Forschung bis heute von großer Bedeutung ist. Allerdings geht es der Autorin weniger darum, Büchers Urheberschaft an diesem wichtigen historiographischen Konzept zu beweisen. Das Ziel der Studie ist es vielmehr, „die lebensweltlichen und wissenschaftlichen Prägungen zu ermitteln, die Einfluss auf Büchers Sichtweise der Antike besaßen“ (S. 24f.). So sollen im Fokus der Person die Veränderungen der Wissenschaftslandschaft erfasst werden, um „Aufschluss über die Genese der Moderne zu gewinnen“ (S. 18).
Die Autorin geht von Büchers autobiographischen Lebenserinnerungen aus, zieht über diese stark selbststilisierende Schrift hinaus jedoch weitere Archivalien heran, insbesondere Büchers Korrespondenz und die Briefe seiner Frau Emilie an ihre Familie. Diese breite Quellenbasis erlaubt die Erstellung einer ziemlich lückenlosen Biographie: Der Leser verfolgt Bücher von seiner Herkunft aus einer Bürstenmacher-Familie in Kirchberg bei Limburg über sein Studium der klassischen Philologie und Geschichte in Bonn und Göttingen. Seine – in der Zeit sicher nicht unübliche – Umorientierung weg von der Alten Geschichte hin zu ökonomischen Fragestellungen und sein Eintritt in den „Verein für Socialpolitik“, wo er bedeutende Förderer fand, lässt sich auf seine Zeit als Lehrer an der Frankfurter Gewerbeschule und als Schriftleiter des Wirtschaftsteils der Frankfurter Zeitung datieren. Nach der Habilitation mit einer Arbeit über die mittelalterliche Bevölkerungsstatistik in München erhielt Bücher 1882 seinen ersten Ruf ins estische Dorpat und heiratete mit Emilie Mittermaier die Tochter eines einflussreichen Heidelberger Juristen, was seinen bemerkenswerten sozialen Aufstieg zusätzlich festigte. Weitere Stationen seiner Karriere waren Basel und Karlsruhe, bevor Bücher sich 1892 schließlich in Leipzig niederließ.
Neben dem Biographischen behandelt Wagner-Hasel die Entwicklung von Büchers wissenschaftlichem Werk. Seine wohl bedeutendste wissenschaftliche Leistung ist seine Wirtschaftsstufenlehre, wobei er dieses in der Nationalökonomie beliebte Denkmuster entscheidend weiterentwickelte. Im Fokus seiner Überlegungen steht der Weg, den das Produkt vom Hersteller bis zum Verbraucher nimmt, so dass die Entwicklung der Wirtschaft als zunehmende Trennung von Produktions- und Konsumtionssphäre gedeutet wird. Ganz im Sinne dieser Produzentenorientierung entwickelte Bücher eine Typologie der gewerblichen Organisation in fünf Stufen. In diesem Stufenmodell erscheint die Wirtschaft der Antike, die Bücher selbst zu Beginn seiner Laufbahn noch ganz im Lichte der sozialen Frage seiner Zeit gedeutet hatte, nun geprägt durch die geschlossene Hauswirtschaft, die zwar Arbeitsteilung und Handel kannte, in der aber nicht für den Markt im modernen Sinne produziert wurde. Indem er die Gegensätze zur höheren Entwicklungsstufe der Gegenwart herausstreicht, vertritt Bücher eine „primitivistische“ und anti-modernistische Deutung der Antike: Er weigert sich, wirtschaftliche Phänomene der eigenen Zeit, wie etwa das moderne Fabriksystem, auf die Vergangenheit zurückzuprojizieren. Auf dem Frankfurter Historikertag 1895 wurde diese Position von Eduard Meyer, der die Modernität der antiken Wirtschaft betonte, scharf angegriffen. Meyer und seiner Partei ging es letztlich, so Wagner-Hasel, um die Rettung der antiken Bildung; Bücher wurde in diesem Kontext als Vertreter einer auf Modernisierung ausgerichteten und an den Naturwissenschaften orientierten Wirtschaftswissenschaft verstanden, der den Vorbildcharakter der Antike nicht mehr unangefochten gelten lassen wollte. Im Grunde sei es bei der Bücher-Meyer-Kontroverse „um die Legitimationsfunktion der Alten Geschichte, um ihre Rolle als Deutungswissenschaft für die Gegenwart“ (S. 214) gegangen.
Die Passagen über die Wirtschaftsgeschichtsschreibung sind eindeutig die stärksten des Buches. An zentraler Stelle gelingt es Wagner-Hasel, Büchers Theoriebildung überzeugend mit der Schilderung seiner privaten Lebensumstände zu verknüpfen, wenn sie die wegweisende „Reflexion des sich wandelnden Verhältnisses von Konsumtion und Produktion“ (S. 79) auf seine Erfahrungen im auf Selbstversorgung hin orientierten ländlichen Elternhaus interpretiert. Dazu passen Büchers Selbstdeutung als Junge von bäuerlicher Herkunft in seinen Lebenserinnerungen und seine Begeisterung für bäuerliche Arbeitsgesänge, die er in seinem auflagenstarken Werk „Arbeit & Rhythmus“ edierte. Das Interesse für die Organisation von Arbeit und auch für ihre „lustvollen Seite[n]“ (S. 192) sowie für die Verwirklichung des „Gemeinwohls“ im Staat begleitete Bücher sein Leben lang und setzte ihn als einen Hauptvertreter der Historischen Schule in Gegensatz zur neoklassischen Theorie, die den Menschen als Kosten-Nutzen-Maximierer versteht.
Ansonsten jedoch sind die biographischen Kapitel mit den wissenschaftsgeschichtlichen meist nur oberflächlich verbunden und ihre Einordnung in den Gesamtkontext bleibt unklar. Dies gilt umso mehr, als Bücher das Stufenmodell, das ihn berühmt machte und dem das besondere Interesse der Autorin gilt, schon vor seiner Berufung nach Leipzig entwickelte, wo er sich dann eher Fragen der Wissenschaftsorganisation, der Buchpreisbindung und am Ende seines Lebens der Zeitungswissenschaft widmete. Auch seine Herausgebertätigkeiten, zum Beispiel für die „Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft“, hielten Bücher von neuen fachlichen Forschungen ab. Vielmehr vollendete er in Leipzig viele schon begonnene Arbeiten und publizierte sie. Warum dennoch in großer Detailfülle alle Einzelheiten seines Leipziger Gelehrten- und Privatlebens inklusive des häuslichen Wirkungsfeldes seiner Frau vor dem Leser ausgebreitet werden, bleibt unklar, da sie die Entwicklung seiner Hauptthesen ja schon rein chronologisch gar nicht beeinflusst haben können. Gewiss bieten sich hier viele interessante Detailinformationen über die Alltagspraxis eines Gelehrtenlebens am Ende des 19. Jahrhunderts, über die Netzwerke innerhalb der Nationalökonomie1, die internationalen Kontakte, die Schülerschar Büchers und sein Verhältnis zur Frauenfrage. Doch ohne den roten Faden einer übergreifenden Fragestellung, die diese erdrückend umfangreichen Quellenfunde sinnvoll strukturieren könnte, bleibt die Einordnung schwierig. Auch die Abschnitte über Büchers politische Orientierung (nachdem er schon in den 1890er-Jahren als Stadtverordneter politisch aktiv gewesen war, bot er in der Weimarer Zeit eines jener nicht allzu häufigen Beispiele eines links orientierten, liberalen und republiktreuen Professors) finden trotz der interessanten Befunde keinen wirklichen Platz in der Gesamtkonzeption.
Der Epilog „Antike Wirtschaftsgeschichte im 21. Jahrhundert“ kehrt zur Ausgangsfrage zurück. Er bietet eine fundierte und gut lesbare Übersicht über die (schon vorher immer wieder angerissene) Rezeption und Weiterentwicklung von Büchers Wirtschaftsstufenlehre bei Mauss, Polyani, Finley und vielen anderen. Auch die Weiterentwicklung von Büchers Konzept der „Konsumentenstadt“ wird verfolgt. Der spannende Forschungsüberblick reicht bis an den aktuellen Diskussionsstand heran. Von besonderem Interesse erscheinen etwa die Überlegungen Erik Reinerts, durch den Rückgriff auf Büchers Theorien in der Globalisierungsdebatte die vernachlässigte Produzentenperspektive wieder in den Blick zu bekommen und so die „Verschleierung von Ungleichzeitigkeit im ökonomischen Entwicklungsstand“ (S. 315) zu vermeiden. Die Potentiale der Konzepte Büchers für die (nicht ausdrücklich genannte) neue Institutionenökonomik werden also deutlich. Wie schade, dass diese spannenden Diskurse recht unverbunden neben den vielen Details aus dem Leben des Gelehrten und seiner Frau stehen bleiben.
Anmerkung:
1 Gelegentliche Unsicherheiten bei der Bestimmung der Fronten innerhalb der Nationalökonomie in der Weimarer Zeit sind dem Fehlen einer fundierten Studie zu diesem Thema geschuldet. Diese Lücke schließt in Kürze: Roman Köster, Die Wissenschaft der Außenseiter. Die Krise der Nationalökonomie in der Weimarer Republik (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 198), Göttingen voraussichtlich Oktober 2011.