E. Harding: Landtag und Adligkeit

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Titel
Landtag und Adligkeit. Ständische Repräsentationspraxis der Ritterschaften von Osnabrück, Münster und Ravensberg 1650 bis 1800


Autor(en)
Harding, Elizabeth
Reihe
Westfalen in der Vormoderne 10
Erschienen
Münster 2011: Aschendorff Verlag
Anzahl Seiten
327 S.
Preis
€ 44,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Axel Flügel, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Die frühneuzeitlichen Landtage fanden in der politischen Geschichte in erster Linie ein – allerdings immer nur sporadisch aufflackerndes – Interesse als traditionelle Organe der Landesrepräsentation, der Gesetzgebung und der Steuerbewilligung. Die politische Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts betrieb ihr Fach vor allem als Entwicklungsgeschichte, die nach den zugrunde liegenden herrschaftlichen oder genossenschaftlichen Prinzipien der politischen Teilhabe oder nach den konstitutionellen, am Ende dann auch demokratischen Vorgeschichten der bestehenden parlamentarischen Einrichtungen fragte. Mit Vorliebe behandelte sie die Entstehung regelmäßiger ständischer Versammlungen im 15. Jahrhundert und ihre Hochzeit im 16. Jahrhundert. Die Landesgeschichte folgt ihr darin bis heute gerne. Die Phase nach der Schlacht am Weißen Berg oder nach dem Westfälischen Frieden galt dagegen als Verfallsperiode des Ständetums und brachte den Sieg des Fürstenstaates. Entsprechend erlahmte die historische Beschäftigung mit den Landtagen dieses Zeitraums.

Mit der neueren Kulturgeschichte sind derartige konventionell politische Fragen und Ansichten, welche die komplexen frühneuzeitlichen Verhältnisse der Landtage auf die streng beurteilte Funktion eines mehr oder weniger effizienten Beschlussorgans reduzierten, wegen ihres anachronistischen Reduktionismus abgetan. Die Stelle der – notabene vermeintlichen – historischen Tradition oder Kontinuität ist jetzt ersetzt durch die Einbettung der Versammlungen in den historischen Kontext, durch die Orientierung an der Bedeutung der Landtage für die zeitgenössischen Akteure und den milden Blick der zurückblickenden Historiker auf die vormoderne Alterität: auf Sitzordnung und Zeremoniell, festliche Prozessionen und heftige Rangstreitigkeiten, Rhetorik und Theatralität.

In die aktuelle kulturgeschichtliche Richtung reiht sich die Münsteraner Dissertation von Elisabeth Harding zu „Landtag und Adligkeit“ ausdrücklich ein. Anhand der drei Ritterschaften in den Fürstbistümern Münster und Osnabrück sowie in der preußisch beherrschten Grafschaft Ravensberg entfaltet sie ihr Programm, die ständische Repräsentationspraxis der Ritterschaften in der Zeit von 1650 bis 1800 zu untersuchen und die Praktiken vorzustellen, mit denen in der Frühen Neuzeit gegenüber der sozialen Umwelt und den Peers Adligkeit behauptet wurde. Zu diesem Zweck stellt sie am Anfang die Grundzüge der korporativen Organisation und die Verfahren der Ritterschaften in ihren drei Territorien vor, die alle ohne permanent im Lande residierenden Landesherrn und Fürstenhof auskommen mussten. Darauf folgen die beiden Hauptkapitel zur Autorität und zur Repräsentation der Ritterschaften.

Unter dem Stichwort „Autorität“ geht es vor allem um den Gebrauch der adligen Ahnenprobe und der Aufschwörung, das heißt der Aufnahme in den Kreis der landtagsfähigen adligen Rittergutsbesitzer, für die Erzeugung der adligen Standesqualität. Die Ritterschaften besaßen eine von den Landesherren weitgehend unbehelligte Autonomie, die Bedingungen der Mitgliedschaft in ihrer Korporation festzulegen und missliebige Personen auszuschließen oder fernzuhalten. Die Forderung, in einer Ahnenprobe über vier Generationen hinweg unstrittig adlige Vorfahren nachzuweisen, nahm eine Schlüsselrolle für den Nachweis der lukrativen Adligkeit ein. Diese Kompetenz und Autorität der lokalen Korporationen wird vielen Ritterschaften, besonders in den Stiften, um 1800 den berechtigten Vorwurf des Kastengeistes eintragen.

Das Kapitel zur „Repräsentation“ geht der Sichtbarmachung und Darstellung der Ritterschaften durch eigene Siegel, durch die Aufnahme der Landtagsmitglieder in die Amtskalender und der nach 1750 häufiger werdenden Verleihung einer Landtagsuniform nach. Außerdem werden der Auftritt der Ritterschaften bei Huldigungen oder die Entsendung von ritterschaftlichen Gesandtschaften behandelt.

Den Ertrag ihrer Untersuchung sieht Elisabeth Harding zum einen in dem Nachweis, in welchem Maße die Landtage für den lokalen Adel nicht Orte politischer Entscheidungen waren, sondern Orte der Standeskonstituierung. Zum anderen hebt sie nachdrücklich hervor, dass die adligen Interaktionsmuster, die sich durch Konkurrenz untereinander und ein Streben nach Standeserhöhung des eigenen Hauses auszeichneten, die Ausbildung der korporativen Organisation und weitergehende adlige Partizipationsansprüche im Fürstenstaat nachhaltig störten. Wie manche andere neuere Studie leistet die Untersuchung einen wichtigen Beitrag zu einer nüchternen Einschätzung der Befähigung des frühneuzeitlichen Adels, eine gesellschaftliche Führungsrolle wahrzunehmen. Wenn sie allerdings jede kleine Abweichung und jeden Unterschied in der Organisation der drei ausgewählten Ritterschaften oder im Handeln der Adeligen als bedeutend und bedeutsam interpretiert, bleibt Skepsis angebracht. Manche Merkmale und historischen Unterschiede sind sowohl für die Zeitgenossen als auch für den historischen Beobachter schlicht belanglos.

Mit ihrem Nachdruck auf die wichtige Rolle der Landtage für die Visualisierung, die Behauptung und die Erringung der adligen Standesqualität der beteiligten Rittergutsbesitzer aus (alt-)adligen, nobilitierten oder auch bürgerlichen Häusern erweitert Hardings Untersuchung nachhaltig und in sehr positiver Weise unsere Vorstellung von den frühneuzeitlichen Landesversammlungen nach 1648. Vermutlich müsste man die Abhaltung der Landtage in der Stadt als Gelegenheit zum Rittergutshandel, zu Kreditgeschäften und zu Heiratsverabredungen, zur Bewerbung um Amtsstellen, zu Theater- und Musikaufführungen oder zum Bücherkauf noch hinzunehmen, um das ganze Bild solcher frühneuzeitlichen Ereignisse zu gewinnen. Außerdem braucht sie nur knapp dreihundert Seiten, um ihre insgesamt runde Argumentation zu entfalten.

Dennoch sollte mit dieser Dissertation nicht bloß eine Forschungslücke geschlossen sein. Vielmehr ist zu wünschen, dass mit der Publikation eine Diskussion beginnt. So stellt sich zum Beispiel die Frage nach den Proportionen und nach dem Einfluss der Zahlenstärke auf die Beurteilung der Sachverhalte. Für den Juristen spielen die Zahlen keine Rolle: Rechte und Kompetenzen der Korporation nehmen auf sie keine Rücksicht. Aber reicht das auch für eine Charakterisierung historischer Verhältnisse? In Osnabrück erschienen nur 15 bis 20 Adlige zum Landtag, in Münster etwa 30 Ritter, in Ravensberg nie mehr als zehn, häufig keine fünf. Manche Schulklasse ist stärker besetzt als diese Ritterkurien, und der Abstand zur Mutter aller Landtage, dem House of Commons, ist nahezu unüberbrückbar. Wenn der alte Otto Hintze von „leerer Form“ gesprochen hat, dann muss man dem für Ravensberg wohl ohne Abstriche zustimmen. Der Anzahl der Landtagsbesucher misst die Kulturgeschichte hier ebenso wenig Bedeutung bei wie Unterschieden im Reichtum oder in der Größe des Grundbesitzes für die Gewichtigkeit der einzelnen adligen Häuser.

Eine weitere Frage betrifft die Ausrichtung der Untersuchung auf die Titel gebende Vorstellung von Adligkeit. Die zentrale Forschungsfrage der Untersuchung lautet, „wie der ritterschaftliche Adel in der Landtagspraxis Adligkeit repräsentierte und fortschrieb“ (S. 22). Was zunächst die Bürger und das Bürgertum historiographisch ereilt hat, trifft jetzt auch den alteuropäischen Adel. An die Stelle der konkreten Bürger trat eine Eigenschaft, Bürgerschaft und Bürgertum als soziale Klassen verdunsteten zur Bürgerlichkeit, die frei flottiert und an den unterschiedlichsten Gruppen und Formen aufgespürt werden kann. In ähnlicher Weise scheint jetzt die Adligkeit die verschiedenen Gruppen des Adels bzw. der Rittergutsbesitzer aus dem Mittelpunkt der historischen Aufmerksamkeit zu verdrängen. Adligkeit ist aber keine empirische vorhandene Eigenschaft, sondern ein recht abstraktes Konstrukt, möglicherweise sogar ein historiographischer Artefakt, eine Schimäre. Die schleichende Tendenz zur Vereigenschaftlichung in den Beschreibungen unserer Vergangenheit wäre eine sorgsame Reflexion wert.

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