Titel
Lebenserinnerungen.


Autor(en)
Moeller, Richard; hrsg. von Kasten, Bernd
Reihe
Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Mecklenburg 9
Erschienen
Anzahl Seiten
XII, 206 S.
Preis
20,00 EUR
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Lukas Möller, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Kassel Email:

Richard Moeller (1890-1945), Politiker, Historiker und Pädagoge, gehört nicht zur Prominenz der deutschen Politikerlandschaft der Weimarer Jahre. Er ist Teil jener Personengruppe der zweiten und dritten Reihe, die mit der überwältigenden Mehrheit aller Menschen das Schicksal teilen, sukzessive oder abrupt von der Bildfläche der Geschichte zu verschwinden.1 Seine „Lebenserinnerungen“ nun, die von der Familie Moellers – die Namensähnlichkeit zum Rezensenten ist übrigens zufällig – in dessen Nachlass entdeckt wurden, eröffnen den seltenen Blick auf einen politischen Protagonisten jenseits der großen Namen.

Der autobiografische Bericht über die Jahre 1906 bis 1940 wurde von der Historischen Kommission für Mecklenburg als Band 9 der Reihe „Quellen zur mecklenburgischen Geschichte“ veröffentlicht. Der verantwortliche Herausgeber Bernd Kasten ist Mitglied dieser Kommission und zugleich Direktor des Stadtarchivs Schwerin. Für ihn ermöglichen Moellers Lebenserinnerungen „tiefe Einblicke in die politische Geschichte Mecklenburgs in der Weimarer Republik“. Sie zeigen zudem „welches Weltbild 1940 ein überzeugter Gegner des NS-Regimes wie Moeller hatte“ (S. VIII). Dass dieses Weltbild heute durchaus befremden kann, legt Kasten in seinem Vorwort mit Blick auf einen von Moeller ebenfalls geteilten antisemitischen Zeitgeist dar. Dabei nimmt Kasten Moeller bisweilen stärker in Schutz als unbedingt notwendig. Dies lässt sich vielleicht damit erklären, dass die hohe Sensibilität gegenüber der Thematik den Blick auf den Wert der Gesamtbiografie für das Verständnis des demokratischen (Neu-)Anfangs in der Weimarer Republik verstellen kann.

Kastens Anmerkungen zum Selbstzeugnis Moellers sind zurückhaltend, trotzdem in jeder Hinsicht hilfreich für ein umfassendes Textverständnis. Sein Vorwort hat eine angemessene Länge, ist informativ und deutet mit Blick auf den angesprochenen Antisemitismus eine analytische Betrachtung der aufgeschriebenen Erinnerungen Richard Moellers an.

Die Adressaten der autobiografischen Schrift Moellers lassen sich indes nicht eindeutig benennen. Kasten vermutet, dass der Text aufgrund einer teils oppositionellen Haltung zum Nationalsozialismus nicht zur Publikation gedacht war und möglicherweise zur Bilanzierung des eigenen Lebens diente, vielleicht noch als Vermächtnis für Freunde und Familie aufgeschrieben wurde (vgl. S. VII).

Die Lebenserinnerungen, die vielmehr Lebensabschnittserinnerungen sind, lassen sich grob in vier Teile aufschlüsseln. In Kapitel 1 berichtet der Stadtmensch Moeller über Erlebnisse auf dem Land im Jahr 1906. („Ich bin ein Stadtkind, […] aber ich verachte die Stadt.“ S. 6) In dem in blumiger, romantisierter Sprache verfassten Kapitel deutet Moeller eine Reflexion über den Wert eines institutionell ungebundenen Glaubens an Gott an, der für ihn selbst in den Erlebnissen des Ersten Weltkriegs an Kraft gewinnen wird und für seinen weiteren Lebensverlauf bedeutend bleibt.

Kapitel 2 (1907-1914) thematisiert Moellers Studienjahre, die er als relativ unbeschwert beschreibt. Durch eine frühe Heirat ist er gezwungen, statt der wissenschaftlichen Karriere „eine schnellere bürgerliche Versorgung ins Auge zu fassen“ (S. 31). Er ergreift den damals von ihm ungeliebten Beruf des Lehrers (vgl. S. 28). In seiner Erinnerung gleitet er in dieser Zeit einer ungewissen Zukunft entgegen, die durch den Krieg bald eine handfeste Gewissheit bekommt.

Dem Ersten Weltkrieg sind die nächsten drei Kapitel gewidmet (Kapitel 3, 4 und 5; 1915-1917). Für seine Generation typisch betont er in einem ausführlichen Kriegsbericht die hohe Bedeutung des Kameradschaftsgeistes, vor allem im Gegensatz zur apokalyptischen Stimmung und Realität im Feld. Bemerkenswert ist zudem die Interpretation des Krieges und dessen Zerstörungskraft als göttliches Erziehungsmittel. Das Böse sei Gott vielleicht „das Hauptmittel seiner Erziehung aller Kreaturen“ (S. 32).

Der umfassendste Teil der autobiografischen Skizze ist das 6. Kapitel (1918-1940). Dort geht Moeller besonders auf seinen politischen Werdegang ein. Politik, so bekennt er, spielt in seinem Leben bis 1918 überhaupt keine Rolle. Zu seiner politischen Verortung schreibt er: „Hätte ich [im Deutschen Reich; L.M.] wählen können, so würde ich wohl nationalliberal gewählt haben, aber nur der Komponente national zuliebe, denn liberal war ich nicht im geringsten“. (S. 96) Der Partikularismus demokratischer Systeme ist ihm während des Krieges und in den ersten Jahren nach dem Krieg suspekt. Eine „starke Monarchie auf dem Boden des Einheitsstaates unter stärkster Betonung des bäuerlichen Charakters“ (S. 97) ist für Moeller in den Kriegsjahren die beste Variante für die Zeit danach.

Die Wochen der Novemberrevolution beschreibt er als „die grauenhafteste Zeit unseres Lebens“ (S. 98). Moeller muss jedoch bald feststellen, dass die Monarchie „sich selbst das Grab gegraben“ hat (S. 100). Dem „Notanker des Deutschen Volkes“ (S. 101) – damit meint er die Demokratie – schließt er sich als „Vernunftdemokrat“ (S. 100) an. In seinen Augen ist das eine „kalt[e] und verstandesmäßig[e]“ Entscheidung, da es „keine andere Rettung vor dem Bolschewismus geben könne“ (S. 101). Schlimmeres als die Millionen Toten des Weltkrieges und ein zerrüttetes Volk könne auch eine Demokratie nicht anrichten.

Doch Richard Moeller wird zu einem überzeugten Demokraten. „Es war der Wendepunkt meines Lebens!“ (S. 100) Über die Jahre festigt er sein demokratisches Dasein. Dem Anschluss an die Deutsche Demokratische Partei (DDP) folgt eine politische Karriere im Parlamentarismus Mecklenburg-Schwerins. Auch das Jahr 1933 kann an seiner demokratischen Gesinnung nichts ändern.

Warum ist der Demokrat Moeller über den Systemwechsel hinaus ein Demokrat im heutigen Sinne geblieben ohne sich mit dem Nationalsozialismus zu arrangieren – gar von ihm zu profitieren? Diese Haltung lässt sich wohl nicht verstehen, wenn man die immense Bedeutung der institutionell ungebundenen Religiosität Moellers übersieht. Am Ende seiner abrupt abbrechenden Lebenserinnerungen schreibt er: „Der Nationalsozialismus nennt sich gottgläubig, ist er aber nicht […]. Er ist genauso irreligiös wie der Bolschewismus, mit dem er von Jahr zu Jahr mehr Wesensähnlichkeit gewinnt.“ (S. 198) Vielleicht war die Demokratie mit ihrem fehlenden Absolutheitsanspruch, dem Dulden des Anders-Denkens und dem Raum für alternative Weltanschauungen für Moeller der einzige schmale Pfad zu einer Welt nach seinen Vorstellungen.

Richard Moellers Lebenserinnerungen erinnern an mehr als ein individuelles Leben. Zwar geben sie zuallererst Auskunft über biografische und regionalgeschichtliche Entwicklungen in Mecklenburg, sie weisen jedoch gleichzeitig weit darüber hinaus. Neben einem individuellen Lebensverlauf muss Moellers innerer und äußerer Werdegang – natürlich mit Einschränkungen – als beispielhaft für eine Generation gelten, die als staatstreue Monarchisten sozialisiert und in eine neue politisch und gesellschaftlich veränderte Welt gestoßen wurde. Moeller erklärt die ihm gegenwärtigen Phänomene wie Demokratisierung und Hitlerismus aus der Mitte seiner eigenen Geschichte heraus. Und gerade weil das Gefühl jener Entscheidungen für ihn noch greifbar ist, enthält sein Lebensbericht so eine große Erklärungskraft über seine Zeit hinaus. Plastisch wird dieses unmittelbare Empfinden Moellers besonders, wenn er zu Beginn des 6. Kapitels (S. 95ff.) seinen Weg in die Demokratie beschreibt.

Es ist für die Aussagekraft des Textes zentral, dass Richard Moeller ihn 1940 verfasst. Ein Text aus den Jahren nach 1945 hätte die verblüffende Wahrnehmung von der Demokratie als „Notanker“ (S. 100f.) sicherlich verschwiegen oder stark abgemildert (vgl. auch S. VIIf.). Auch der Wunsch vieler bürgerlich sozialisierter Menschen nach einer Monarchie wäre in einem Text der späten 1940er-Jahre sicher beträchtlich der Schere im Kopf zum Opfer gefallen. So aber können wir Zeugen eines inneren Widerstreits der Systeme werden.

Richard Moeller, so darf man wohl sagen, ist aus einer Unsicherheit vor der zukünftigen Entwicklung und aus der Not und Zerrissenheit im Angesicht einer gescheiterten Monarchie, eines verlorenen Krieges und eines verstörten Volkes schrittweise zu einem überzeugten Demokraten geworden. Ihm auf dieser heute so fern wirkenden Reise zur Demokratie zu folgen, ist eine persönliche Bereicherung und eine wertvolle Quelle für die wissenschaftliche Betrachtung dieser Zeit.

Anmerkung:
1 Vgl. Alain Corbin, Auf den Spuren eines Unbekannten, Frankfurt am Main, 1999, S. 8f.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/