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Title
Dissonant Lives. Generations and Violence Through the German Dictatorships


Author(s)
Fulbrook, Mary
Published
Extent
528 S.
Price
€ 44,33
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Armin Nolzen, Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus

Mary Fulbrook, Professorin am University College London und Expertin für die Weimarer Republik, den Nationalsozialismus und die DDR, hat ein ambitioniertes Buch geschrieben. Sie will wissen, auf welche Art und Weise sich Menschen an die NS-Diktatur und das SED-Regime anpassten, wie sie sich dabei verhielten und welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede dabei bestanden. Fulbrook geht es um eine vergleichende Verhaltensgeschichte in den beiden „deutschen Diktaturen“, die sie zudem systematisch mit deren innerem Strukturwandel verknüpfen will. Zu diesem Zwecke postuliert die Autorin eine neue Herangehensweise, die sie „history from within“ nennt. Diese hebt darauf ab, Erfahrungen und Perzeptionen „normaler Menschen“ über einen längeren Zeitraum zu rekonstruieren und mit Erwartungen, die von außen an sie herangetragen werden, zu korrelieren. Die „history from within“ soll es ermöglichen, Erfahrung und Erwartung, subjektive Wahrnehmungen und gesellschaftliche Strukturen innerhalb eines integrierten Analyserasters zu behandeln. Sie soll sich weder in Alltags- und Erfahrungsgeschichte noch in Oral History erschöpfen, sondern mehr sein: „The focus is collective, and it is a focus precisely on the complex intersection of wider structures and key historical events on the one hand, and the constantly changing constructions and reconstructions of the individual’s ‚inner‘ thoughts, perceptions, and representations of their interactions with the ‚outer‘ world at particular stages of life, on the other” (S. 480).

Um ihren Anspruch einer vergleichenden Verhaltensgeschichte von NS-Zeit und DDR einzulösen, hat die Autorin eine Vielzahl an Ego-Dokumenten aus Archiven und privatem Besitz zusammengetragen, darunter zeitgenössische Korrespondenzen, Tagebücher, Feldpostbriefe, Memoiren, eigene narrative Interviews und ein Fragebogen, den Fulbrook im Jahre 2005 erstellte und an über 300 Personen in und um Berlin sowie in Eisenhüttenstadt verschickte. Auffällig sind die rudimentären Informationen über die Entstehungskontexte dieser Quellen, denen sie nur wenige Fußnoten widmet (z. B. S. 33, Fußnote 30, S. 173, Fußnote 12, sowie S. 381, Fußnote 60), sowie die unzureichende Reflexion über deren analytische Reichweite. Das Schrifttum offizieller Institutionen und Verwaltungsbehörden, also die Seite der Herrschaft, fehlt fast vollständig; auch ein Quellenverzeichnis sucht der Leser vergeblich. Die Sekundärliteratur wird in den Fußnoten in der Regel nur summarisch und ohne Seitenzahlen zitiert; die Auseinandersetzung mit anderen Historikern und deren Hypothesen unterbleibt. Lediglich mit Kritikern, die ihre bisherigen Interpretationen zur DDR-Geschichte zu bezweifeln wagen, geht Fulbrook ins Gericht. Allerorten lässt sie durchblicken, dass Ego-Dokumente eine „wahrere“ und „bessere“ Geschichtsschreibung ermöglichten.

Der Erkenntniswert von historischen Quellen entscheidet sich an den Fragen, die man an sie stellt, und an den Konzepten, mittels derer sie interpretiert werden. In der Einleitung postuliert die Autorin drei Begriffe, die ihre Analyse strukturieren sollen: Generationen, Gewalt und Mobilisierung. Diese Begriffe verwendet sie jedoch nie durchgängig, sondern sprunghaft und unsystematisch. Ein überzeugender Rückbezug auf die Empirie fehlt. In einem ersten Teil ihres Buches, in dem es um den Imperialismus des Kaiserreichs und die innenpolitische Radikalisierung in der Weimarer Republik geht (Kapitel 2 und 3), operiert die Autorin mit einer vagen Formel von „gesellschaftlicher Gewalt“, die nicht trennscharf genug ist, um etwa die Terrorakte der Freikorps von der stillschweigenden Akzeptanz von Gewaltanwendung, geschweige denn von den Leiden jener Personen, die vorsätzlich und gezielt verletzt wurden, zu unterscheiden. In Kapitel 4 über das „Dritte Reich“ der Vorkriegszeit benutzt die Autorin fast ausschließlich Ego-Dokumente exilierter deutscher Juden, deren Aussagekraft für die Frage nach dem Anpassungsverhalten der deutschen Mehrheitsbevölkerung eher begrenzt ist. Kapitel 5, das Krieg und Genozid zwischen 1939 und 1944/45 behandelt, basiert größtenteils auf Feldpostbriefen deutscher Soldaten, die zwar massenhaft Stereotypen über die unterjochte polnische und sowjetische Bevölkerung enthalten, jedoch kaum Hinweise auf individuelles Verhalten. Durch das gesamte Buch zieht sich eine Diskrepanz zwischen Erkenntnisinteresse und -möglichkeiten. Anders ausgedrückt: die aufgeworfenen Fragen sind auf der Basis von Ego-Dokumenten schlichtweg nicht zu beantworten.

Dies zeigt sich auch in den Kapiteln 6 bis 11 über die DDR, welche fast die Hälfte des vorliegenden Buches umfassen und der Autorin nicht wirklich besser gelungen sind. Sie beginnt mit einer knappen Analyse der dominanten Alterskohorten und arbeitet die Bedeutung der so genannten „1929er“, also der Aufbaugeneration der zwischen 1926 und 1932 Geborenen, für die Aufrechterhaltung der SED-Diktatur heraus. Im Vergleich zur KZ-Generation (den Jahrgängen zwischen 1900 und 1914) und zu der in der Regel nach 1950 geborenen FDJ-Generation waren die „1929er“ im öffentlichen Leben der DDR deutlich überrepräsentiert. Anstatt die Wege dieser drei Alterskohorten mit der Geschichte der DDR-Institutionen zu verzahnen, reiht die Autorin dann nur noch Einzelerzählungen aneinander, bei denen Generationenzugehörigkeit und Gewalterfahrungen kaum mehr eine Rolle spielen. Zu lesen sind persönliche Konversionsgeschichten vom NS-Staat zur DDR, allgemeine Ausführungen über die Sozialisation von Jugendlichen im Kalten Krieg, die in den 1960er-Jahren verfassten „Veteranenberichte“ von Altkommunisten, die vor dem Ersten Weltkrieg geboren und in der Weimarer Zeit politisiert worden waren, und individuelle Reaktionsweisen auf die Ereignisse von 1989/90. Eine Typologie des kollektiven Verhaltens in der DDR, das die gesamte Spannbreite zwischen Täterschaft, Unterstützung, vorauseilendem Gehorsam, Loyalität, Rückzug, Dissens und Widerstand umfasst, sucht man vergeblich.

Befremdlich mutet auch die titelgebende Hypothese von den „dissonant lives“ an, die sich subkutan durch dieses Buch zieht, ohne dass sie einmal ausführlicher expliziert würde. Offenbar stand der Autorin dabei die Theorie der kognitiven Dissonanz des amerikanischen Sozialpsychologen Leon Festinger Pate, die in erster Linie darauf abhebt, dass Menschen, die sich widersprechende Wahrnehmungen, Gedanken und Meinungen entwickeln, eher für psychische Störungen disponiert sind als andere. Fulbrook spricht etwas dunkel von der Herausbildung zweier Welten in den beiden „deutschen Diktaturen“. Gemeint ist offenbar, dass ein Großteil der Bevölkerungen sich bloß äußerlich angepasst habe, wohingegen sie innerlich voller Skrupel, wenn nicht gar ablehnend gegenüber den Anforderungen der beiden Regime geblieben seien. Dieses Narrativ, das stark an die Lügen des deutschen Bürgertums während der Entnazifizierung erinnert, resultiert zum einen aus den Ego-Dokumenten, die ja nachträgliche kommunikative Konstruktionen darstellen und nicht das individuelle Verhalten in actu widerspiegeln. Zum anderen reproduziert die Autorin mit ihrer These von den „dissonant lives“ die abendländische Mythologie von der Person, die durch ein „falsches“ gesellschaftliches Äußeres und ein „wahres“ individuelles Inneres gekennzeichnet sei, in dem der eigentliche Charakter des Menschen zum Ausdruck komme. Sie überschätzt die Geschichtsmächtigkeit von Erfahrungen und spielt Formen und Konsequenzen von Handlungen und Unterlassungen über Gebühr herunter.

Die beiden Hauptkennzeichen der vorliegenden Monografie sind die unreflektierte Quellenverwendung und eine Inflationierung von Analysekonzepten, die nicht genügend mit der Empirie zusammengebracht werden und alles in allem wenig durchdacht sind. Die benutzten Ego-Dokumente leisten einer halbierten Geschichte beider „deutscher Diktaturen“ Vorschub, welche die Erfahrungsebene privilegiert, die Seite der Herrschaft hingegen vernachlässigt. Was das NS-Regime und die SED-Diktatur eigentlich erwarteten, wie Individuen diese Erwartungen perzipierten, unterliefen oder erfüllten, woran sie sich überhaupt anpassten, erfährt man nicht. Der Mobilisierungs-Begriff, den die Autorin, wie auch ihre anderen Konzepte, mit Verve einführt, um ihn dann verkümmern zu lassen, hätte sich vielleicht angeboten, die Interdependenz zwischen Erfahrungen und Erwartungen zu exemplifizieren, etwa anhand der Beteiligung an jenen Organisationen in Verwaltung, Parteien, Militär und Polizei, von denen die beiden „deutschen Diktaturen“ getragen wurden. Die Autorin ist jedoch einen anderen Weg gegangen und lässt sich voll und ganz von ihren Ego-Dokumenten mitreißen, deren Authentizität sie niemals in Frage stellt. Von jener vergleichenden Verhaltensgeschichte der beiden deutschen Diktaturen, die sie dem Leser eingangs schmackhaft gemacht hat, ist dabei nur wenig geblieben. Ihr ambitioniertes Projekt einer „history from within“ muss als gescheitert gelten.

Commentaries

Von Fulbrook, Mary02.07.2012

It is arguably flattering to be so comprehensively savaged by a reviewer. At least Armin Nolzen recognizes that my book, Dissonant Lives, is an ‘ambitious’ undertaking, that introduces ‘with verve’ important conceptual tools and an innovative theoretical approach; clearly the work is sufficiently significant to prompt this attempt at total destruction. But Nolzen chose to focus his critique on my use of sources as though I had been aiming to write a quite different book.

Nolzen fundamentally misrepresents the book. I was not trying to write a typological comparative analysis of support, accommodation, resistance and opposition; nor did I want to indulge in rehearsal of by now widely familiar material and debates based on official sources.

Rather, my focus was on how succeeding age cohorts variously experienced and were differentially available for mobilisation across regimes. What did it mean, for example, to be 16 rather then 36 in 1945; and why did so many ‘1929ers’, socialised under Nazism, disproportionately become pillars of the subsequent communist dictatorship, in contrast to those just a few years younger, born during the Third Reich? What were common, changing strategies of self-representation among people experiencing an unsettling sense of dissonance about their own lives before and after a major historical rupture? (And no: I do not draw on Festinger’s theory in the way Nolzen crudely suggests.)

For this endeavour, the primary material has of course to be ego-documents – not because, as Nolzen alleges, I naively believe that they constitute a ‘truer’, ‘more authentic’, or ‘better’ source for writing history, but because – was this really so difficult to understand? – in order to explore how people represent their lives, one has to look at how they represent their lives.

So I selected as wide a range of ego-documents as feasible. Not only the sources Nolzen mentions – and oddly seeks to discredit – but many others. What incidentally is wrong with also discussing the reflections of people exiled from Germany, recounting experiences of discrimination and exclusion in the process of the formation of ‘two worlds’ – a concept Nolzen also misunderstands – when set alongside contrasting sources such as the diary of a provincial Nazi, or the writings of others who remained in Germany? Does Nolzen really want to suggest – thus perpetuating Nazi categories – that unwilling emigrants are not ‘really’ part of this generation of Germans; that processes of exclusion should only be recounted through official sources or from the perspective of people included in the self-proclaimed Volksgemeinschaft, and actively party to processes of social exclusion? And what is wrong with also discussing the often awkward attempts of a wide range of East Germans to constrain their life stories into the mould provided by what I explicitly call the ‘model lives’ provided in the ‘veterans’ reports’ of communists (not just ‘old’ ones), alongside many others?

Throughout the book I was trying to strike a balance between acknowledgement of a kernel of individuality across time – as in the case of Hans Paasche (how can Nolzen accuse me of ignoring the suffering of victims of Free Corps violence?!) – and the impact of changing circumstances, as individuals were both shaped by and helped to shape the times through which they lived. Thus registering the ‘stereotypes’ in which soldiers communicated their experiences, and the equally stereotypical language of Führer, Volk and Vaterland in which people initially framed their war-time sufferings and were later no longer able to deploy, is crucially part of the enterprise.

This is a difficult, complex undertaking. I chose to focus on selected sources conveying aspects of age-related experiences and patterns of self-representation of different social generations across time. There are many other possible methodological strategies. One of the explicit conclusions is that behaviour does indeed, and of course, count for more in explaining what actually happened than do any inner doubts at the time or later attempts to explain away an uncomfortable past (as in the obvious example of denazification, to which Nolzen makes a snide allusion as if I were effectively giving credence to cover-up attempts). This is the whole point of emphasising structural as well as cultural availability for mobilisation rather than merely individual motives. But additionally, logging people’s discomfort across transitions helps us understand responses to succeeding regimes. Crucial here is a diachronic focus – exploring variations within individual lives across time – rather than merely taking a synchronic typological focus on responses to a particular regime with no consideration of where people ‘are coming from’.

I would be the first to admit that trying to write something ambitious and exploratory, across such a broad canvas, is open to critique; and every book could potentially have been written in a different way. Debate is essential if we are to take the discussion further; so it is important to gain clarity about what precisely are the issues at stake. It is a shame that Nolzen was apparently so blinkered by rather traditional assumptions concerning what the project should in his view have looked like that he so signally failed to understand what I was actually trying to do.


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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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