Je mehr sich eine konfessionell geprägte Kirchengeschichte zu einer Geschichte des Christentums wandelt, desto weniger spielen auch alte Fachzuständigkeiten eine Rolle. Die Zeiten, in denen sich Pastoraltheologen katholischer wie evangelischer Ausrichtung noch mit historischen Fragen beschäftigt haben, noch dazu mit solchen des durch Kirchenreformen und -reformationen ‚überwundenen‘ Mittelalters, sind ohnehin lange vorbei. Aber die Fragen sind nicht obsolet. Wer sich mit dem kirchlichen Leben vor der Reformation befasst, muss deshalb den vorliegenden Sammelband fast wie eine Offenbarung empfinden, wie die Stimme aus einer anderen Welt: Ein Sammelband mit Beiträgen englischer, amerikanischer, kanadischer und niederländischer Theologen, Religions- und Literaturwissenschaftler sowie Historiker über Probleme der Seelsorge im späten Mittelalter! Unter den unzähligen nutzlosen, weil unüberlegt zusammenkomponierten Sammelbänden, die den wissenschaftlichen Buchmarkt überschwemmen, ragt dieses Buch zweifellos heraus. Aber ist es ein wirklicher ‚Wegbegleiter‘ im Sinne der Reihe?
Nach einer knappen Einführung in die Gesamtkonzeption durch den Herausgeber Ronald J. Stansbury würdigt zunächst Joseph Goering den Kirchenhistoriker und einstigen Präfekten der Vatikanischen Bibliothek, Leonard E. Boyle OP (1923–1999), als wegweisenden Erforscher der spätmittelalterlichen Pastoralgeschichte und kommentiert seine einschlägigen Arbeiten1, die sich vor allem auf die weit verbreiteten pastoralen Handreichungen des 13. und 14. Jahrhunderts von Thomas von Aquin, Wilhelm von Pagula und Wilhelm Durandus konzentrierten. Die weiteren 15 Beiträge dieses Buches betrachten Probleme der Seelsorge im perspektivischen Wechsel, indem zunächst der Klerus (Teil 1), dann die Laien (Teil 2) und schließlich die Religiosen (Teil 3) im Mittelpunkt stehen.
Im ersten Teil beschäftigt sich der Herausgeber (Preaching and Pastoral Care in the Middle Ages) trotz des allgemeinen Titels fast nur mit dem Predigtwesen maßgeblicher Pariser Theologen der zweiten Hälfte des 12. und des frühen 13. Jahrhunderts wie Maurice de Sully, Alanus von Lille und anderen, während sich Andrew Reeves (Teaching the Creed and Articles of Faith in England) ganz auf die Entwicklung des 13. Jahrhunderts nach dem IV. Laterankonzil von 1215 beschränkt, indem vor allem Synodalstatuten herangezogen, aber auch praktische Fragen wie das Bildungsniveau des Pfarrklerus erörtert werden. Aus einer anderen Perspektive beleuchtet C. Colt Anderson die normativen Anforderungen an die Priester (Ritual Purity and Pastoral Reform in the Thirteenth Century) vor allem anhand der weit verbreiteten Reformschrift Stella clericorum des 13. Jahrhunderts. Die pastoraltheologischen Vorstellungen eines bedeutenden englischen Theologen dieser Zeit, der zeitweilig auch Bischof von Lincoln war, stellt James R. Ginther vor (Robert Grosseteste’s Theology of Pastoral Care). Eine der bekanntesten Handreichungen für Priester, das Manipulus curatorum des Guido de Monte Rocherii von 1333, das bis ins ausgehende Mittelalter auch mehrfach gedruckt wurde, analysiert Anne T. Thayer.
Der zweite Themenblock über die Laien wird von William J. Dohar eröffnet (The Sheep as Shepherds: Lay Leadership and Pastoral Care in Late Medieval England), der zahlreiche Belege seit dem 13. Jahrhundert anführt, um zu zeigen, dass sich Laien keineswegs nur als Patronatsherren für Belange der Seelsorge einsetzten, sondern sich auch als Kirchenpfleger, Mitglieder von Bruderschaften und Stifter von Vikarien für ihre Pfarrkirche engagierten. Dass sich die Interessen von Geistlichen und Laien nicht immer bruchlos zusammenfügten, sondern bis hin zu tödlichen Konflikten eskalieren konnten, zeigt anschaulich Michelle Armstrong-Partida (Conflict in the Parish: Antagonistic Relations between Clerics and Parishioners), die vor allem Visitationsprotokolle des 14. Jahrhunderts aus den katalonischen Diözesen Girona und Barcelona auswertet. Hierzu passt thematisch auch die Studie von Beth Allison Baar (Three’s a Crowd: Wives, Husbands, and Priests in the Late Medieval Confessional), die anhand englischer Quellen des 15. Jahrhunderts die Schwierigkeiten von Geistlichen und Laien mit dem Bußsakrament verdeutlicht, vor allem, wenn Priester und Frauen im Beichtstuhl (und anderswo) einander begegneten. Die Seelsorgetätigkeit des einzigen englischen Birgittenklosters im 15. und frühen 16. Jahrhundert wird von Alexandra da Costa und Ann M. Hutchinson untersucht (The Brethren of Syon Abbey and Pastoral Care), die zeigen, dass die dortigen Brüder vor allem durch Predigten und Beichttätigkeit, im 16. Jahrhundert aber auch durch das Abfassen pastoralen Schrifttums auf die Gläubigen wirkten.
Die Seelsorge an Mönchen und Nonnen steht ganz im Mittelpunkt des dritten Themenschwerpunkts. Neben den allgemeineren Ausführungen von Greg Peters (Religious Orders and Pastoral Care in the Late Middle Ages), der auf die Bedeutung des IV. Laterankonzils von 1215 auch für die monastische Seelsorge verweist, werden mehrere thematisch sehr weit ausfächernde Fallstudien geboten: C. Matthew Phillips über die Wirkung von Predigten in hochmittelalterlichen Konventen („Crux a cruciatu dicitur“: Preaching Self-Torture as Pastoral Care in twelfth-century Religious Houses), Susan M. B. Steuer über religiöse Gelübde von Frauen (Practical Pastoral Care: Vowesses in Northern England in the Later Middle Ages), Laura Michele Diener über die ‚privaten‘ Meditationspraktiken weiblicher Religiosen (Entering the Bedchamber of our Soul: How Religious Women learned the Art of Monastic Meditation), Mathilde van Dijk über pastoraltheologische Unterweisungen junger Klosterzöglinge aus der Sicht des Thomas von Kempen („Persevere! … God will help you!“. Thomas a Kempis’s Sermons for the Novices and his Perspective on Pastoral Care) und schließlich Sabrina Corbellini über das Seelsorgehandbuch eines Geistlichen, der als Beichtvater für die Franziskanerinnen von St. Agnes in Amersfort zuständig war (The „Manual fort he Young Ones“ by Jan de Wael (1510): Pastoral Care for Religious Women in the Low Countries).
Die Autoren dieses Bandes greifen die Impulse auf, die Leonard Boyle als wegweisender Erforscher der Pastoraltheologie gegeben hat, und erweitern in förderlicher Weise die Perspektive, indem sie sich nicht nur mit pastoralen Handreichungen und normativen Vorgaben der Amtskirche beschäftigen, sondern mehrfach auch versuchen die tatsächlichen Seelsorgeprobleme zu erfassen, sei es konzentriert auf die institutionellen Ebenen der Pfarreien und der Ordenskonvente oder auf die kommunikativen Schnittstellen von Geistlichen und Laien bzw. Religiosen. Auch Genderaspekte kommen dabei durchaus erkenntnisfördernd zum Tragen. Mehrfach wird zudem neues Quellenmaterial erschlossen. Die Lektüre ist durchaus anregend, doch verspricht der weitgespannte Titel des Bandes mehr, als dann eingelöst wird. Mit Ausnahme einiger weniger Beiträge über die Niederlande und Spanien sind alle Aufsätze auf England konzentriert und zeitlich auf das 13. und 14. Jahrhundert, nur vereinzelt aber auch auf die Zeit der Vorreformation des 15. und frühen 16. Jahrhunderts ausgerichtet.2 Was auf diesem Feld von der deutschsprachigen Forschung vor allem in den letzten 20 Jahren geleistet wurde, wird hier leider nicht deutlich.3 Aber auch die ältere Forschung hat hier manches zu bieten, wenn sie nur genützt würde. Wer kennt heute zum Beispiel noch die grundlegenden Arbeiten von Florenz Landmann, der gewiss kein Pater Boyle war, aber sehr substantielle Quellenforschung betrieben hat.4 Der vorliegende Band bietet viele interessante Facetten und methodische Anregungen, aber der umfassende Wegweiser zur Geschichte der cura animarum des späten Mittelalters in allen ihren Dimensionen müsste wesentlich breiter angelegt werden, eben nicht nur west-, sondern auch mittel-, ostmittel- und nordeuropäisch.
Anmerkungen:
1 In Auswahl nachgedruckt in: Leonard E. Boyle, Pastoral Care, Clerical Education and Canon Law, 1200–1400, London 1981.
2 Dazu näher Enno Bünz, „Vorreformation”. Ein Forschungskonzept zwischen Landesgeschichte und regionaler Kirchengeschichte, Mittelalter- und Frühneuzeitforschung, in: Hans Otte u.a. (Hrsg.), Landeskirchengeschichte. Konzepte und Konkretionen, Leipzig 2008, S. 13–32.
3 Siehe zum Beispiel die Beiträge in: Enno Bünz und Klaus-Joachim Lorenzen-Schmidt (Hrsg.), Klerus, Kirche und Frömmigkeit im spätmittelalterlichen Schleswig-Holstein, Neumünster 2006; Nathalie Kruppa (Hrsg.) unter Mitwirkung von Leszek Zygner, Pfarreien im Mittelalter. Deutschland, Polen, Tschechien und Ungarn im Vergleich, Göttingen 2008; Andreas Meyer (Hrsg.), Kirchlicher und religiöser Alltag im Spätmittelalter, Ostfildern 2010; Enno Bünz und Gerhard Fouquet (Hrsg.), Die Pfarrei im späten Mittelalter, Ostfildern 2013 (im Druck).
4 Zum Beispiel: Florenz Landmann, Drei Predigt- und Seelsorgsbücher von Konrad Dreuben, einem elsässischen Landpfarrer aus der Mitte des 15. Jahrhunderts, in: Archiv für elsässische Kirchengeschichte 8 (1933), S. 209–240, und zahlreiche weitere einschlägige Studien.