Ch. Marsh: Music and Society in Early Modern England

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Titel
Music and Society in Early Modern England.


Autor(en)
Marsh, Christopher
Reihe
Cambridge Studies in Early Modern British History
Erschienen
Anzahl Seiten
624 S., 58 Abb., 1 Audio CD
Preis
ca. € 80,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Philip Hahn, Historisches Seminar, Goethe-Universität Frankfurt am Main

Der Belfaster Historiker Christopher Marsh legt hiermit die erste umfassende Darstellung der gesellschaftlichen Bedeutung von Musik im England des 16. und 17. Jahrhunderts vor. Nach Tim Blannings im vergangenen Jahr in deutscher Übersetzung erschienenem The Triumph of Music1 ist er damit der zweite britische Historiker, der in dieses bislang von der Geschichtswissenschaft vernachlässigte Terrain vordringt. Er verfolgt einen kulturgeschichtlichen Ansatz, der Eliten- und Populärkultur nicht primär als zwei voneinander abgegrenzte Sphären versteht, sondern stattdessen die Vielfalt zeitgenössischer Polaritäten aufzudecken versucht, die das frühneuzeitliche Musikleben in England prägten. Dabei kam der Musik auch im Verständnis der Zeitgenossen eine ambivalente Rolle zu, diente sie doch einerseits der Markierung solcher Abgrenzungen, konnte andererseits aber einheitsstiftend wirken (S. 15-17).

Im ersten Kapitel zeigt Marsh die Komplexität frühneuzeitlicher Vorstellungen von der Wirkung der Musik. Er identifiziert drei wesentliche Strömungen dieses Diskurses – klassisch-kosmologisch, moralisch-theologisch und medizinisch –, kann jedoch im beobachteten Zeitraum keine klare Entwicklungstendenz, etwa eines eindeutigen Niedergangs klassischer Vorstellungen, feststellen. Dies gelte vor allem dann, wenn man neben gelehrten Texten auch Balladentexte, Predigten, archivalisch überlieferte Konflikte über Musik oder etwa auch den weit verbreiteten Brauch der rough music („Katzenmusik“) berücksichtige.

Die nächsten drei Kapitel bieten eine Sozialgeschichte des Musizierens und des Musikerberufs auf der Basis von Informationen zu etwa 1.000 Individuen und Gruppen. Kapitel zwei beschreibt die Situation von Musikern zwischen Kontrolle, Einschränkungen und Verboten seitens puritanisch beeinflusster Funktionsträger einerseits und ihrer Unterstützung und Verteidigung durch musikbegeisterte Adlige oder Gruppierungen innerhalb der Gemeinden andererseits. Marsh, dessen Sympathie unverkennbar auf Seiten der Musiker und ihrer Verteidiger steht, zeichnet hier auf der Basis von Prozessakten aus ganz England ein facettenreiches Bild des Ringens um die Rolle der Musik in der nachreformatorischen englischen Gesellschaft. Das dritte Kapitel ist dem Wandel der Beschäftigungsmöglichkeiten für Musiker zwischen 1500 und 1700 gewidmet, wobei der Verfasser Balladensänger, Stadtpfeifer, Trommler und andere, meist im Nebenberuf tätige Musiker ebenso berücksichtigt wie Musiklehrer, Kirchen- und Hofmusiker. Er argumentiert, dass der Puritanismus keine langfristigen Konsequenzen für die Berufschancen von Musikern gehabt habe, dass aber die gestiegenen Beschäftigungsmöglichkeiten an adligen Höfen nur einer sich zunehmend abgrenzenden, professionalisierten Musikerelite zugänglich waren. Beide Kapitel werden bereichert durch einen akteurszentrierten Blickwinkel, der sowohl die Karrierestrategien von Musikern als auch deren emotionales Leben mit einbezieht. Marsh kommt zu dem von anthropologischen Forschungen inspirierten Schluss, dass sie oft als „cultural brokers“ wirkten (S. 162). Besonders komplex ist hier der Fall des Trommlers, der, am unteren Ende der Musikerhierarchie, dennoch eines der wirkmächtigsten Instrumente bediente (S. 159-161).

Kapitel vier wendet sich den „recreational musicians“ zu, nicht selten Angehörige unterschiedlicher sozialer Schichten, was sowohl zu kulturellem Austausch als auch zu Konflikten führen konnte. Der Verfasser charakterisiert das Musikleben der Zeit insgesamt als eine alle Teile der Gesellschaft einschließende Zirkulation von Instrumenten wie Melodien, die durch professionelle Musiker aller Art aufrecht erhalten wurde. Über die zwei Jahrhunderte lasse sich außerdem, ausgehend von London und verbreitet über Musikdrucke, ein Anstieg der musikalischen Bildung beobachten. In einzelnen Fällen ist der Lernfortschritt anhand von Schülerhandschriften bis ins Detail verfolgbar (S. 212).

Die verbleibenden fünf Kapitel sind vier Genres populärer Musik gewidmet. Auf zwei Kapitel verteilt behandelt Marsh das in der jüngeren englischen Historiographie bereits eingehend erforschte Thema der gesungenen Balladen. Er geht jedoch wesentlich über die bisherige Forschung hinaus, indem er deren musikalische Seite in den Mittelpunkt stellt. Es gelingt ihm nachzuweisen, dass die Melodien meist gezielt zu den Balladen ausgewählt wurden und entscheidend zur Vermittlung ihrer Botschaften beitrugen, da sie von den Zuhörern mit ganz bestimmten Stimmungen und (auch politischen) Situationen in Verbindung gebracht wurden und dem Text weitere Bedeutungsebenen hinzufügten. Deutlich wird dies etwa bei der Auswahl erotisch konnotierter Melodien für Balladen des Lobes auf Wilhelm III. von Oranien: Sie sollten den als farblos wahrgenommenen neuen König populär machen und vermieden zugleich die Assoziation bisher beliebter ‚politischer‘ Melodien mit den Stuarts (S. 311-315).

Im siebten Kapitel – über Tanzmusik – unterstreicht Marsh erneut seine zentrale These der gleichzeitig kohäsiven wie spaltenden Wirkung von Musik auf die Gesellschaft. Die Tanzmusik als in besonderem Maße körperbetonte Sphäre des frühneuzeitlichen Musiklebens erzeugte die am stärksten ausgeprägte Spaltung in (meist geistliche) Gegner und Befürworter, während sich die Tanzweisen der unterschiedlichen sozialen Schichten fortwährend im Austausch befanden, indem etwa der country dance in den Städten beliebt wurde und Tänze aus London oder Frankreich Einzug in die ländliche Musikkultur hielten.

Zwei Aspekte englischer Kirchenmusik in der frühen Neuzeit werden in den letzten beiden Kapiteln beleuchtet. Kapitel acht beschreibt den Aufstieg des Psalmengesangs ab der Mitte des 16. Jahrhunderts. Marsh fasst hier die britische Forschung der letzten Jahre zu diesem Thema zusammen und verweist auch auf die inzwischen erschienene, wichtige Arbeit von Jonathan Willis.2 Doch enthält sein Kapitel auch zahlreiche interessante eigene Beobachtungen, vor allem zur Entwicklung der Psalmmelodien und ihrer Eigenarten (er hat unter anderem eine ‚Hitliste‘ der meistverbreiteten Gesänge erarbeitet), zur Frage, wie das Singen der Psalmen geklungen haben könnte (S. 430-434), und zu den gesellschaftlichen Implikationen des gemeinsamen, einstimmigen und unbegleiteten Singens, das er als musikalische Revolution wertet (S. 23, 437-448).

Ein besonderes Charakteristikum der englischen Klanglandschaft ist das Läuten von Glocken in bestimmter Reihenfolge („Rounds“ und „Changes“). Glocken – ein bislang von Musikwissenschaftlern und Reformationshistorikern vernachlässigtes Thema – überlebten die Reformation trotz ihrer engen Bindung an die vorreformatorische Frömmigkeit und Liturgie, vor allem dank ihrer vielfältigen kommunikativen Einsatzmöglichkeiten und ihrer Unübertönbarkeit. Zwar wandelte sich binnen zweier Jahrhunderte das religiöse Verständnis des Läutens, doch gewannen Glocken zunehmende Bedeutung in der politischen Kommunikation und auch als Instrument freizeitlichen Musizierens. Marsh verdeutlicht dies am Beispiel einiger Konfliktfälle, etwa über das eigenmächtige Läuten zum Tag der Thronbesteigung Elisabeths I. unter Karl I. in der angespannten Situation der 1620er- und 1630er-Jahre, was eine unmissverständliche politische Botschaft darstellte (S. 482f.).

Das umfangreiche Werk schließt mit einer Gegenüberstellung ausgewählter Äußerungen zur Musik aus den Aufzeichnungen eines Londoner Händlers und Schneiders aus den 1550er-Jahren einerseits und aus dem Tagebuch Samuel Pepys’ andererseits, anhand derer er die Entwicklungen des dazwischen liegenden langen Jahrhunderts zusammenfasst. Sie umfassen die Entstehung einer zunehmenden Kluft zwischen professionellen Musikern und Amateuren, die Ursprünge der heutigen Popularmusik sowie eine fundamentale Veränderung der kirchlichen Musik und die zunehmende Säkularisierung des Glockengeläuts. Hinsichtlich der Bedeutung der Musik für die Artikulation des Verhältnisses zwischen Jung und Alt, zwischen den Geschlechtern, Klerus und Laien, Stadt und Land sowie ihres akustischen Beitrags zum nationalen Selbstverständnis offenbart der Vergleich der beiden Fallbeispiele ebenfalls signifikante Verschiebungen.

Marshs Buch zeichnet sich insgesamt durch eine große Vielfalt der ausgewerteten Quellen aus. Insbesondere der Reichtum des aus ganz England zusammengetragenen archivalischen Materials ist beeindruckend und belegt, wie aufwändig und zugleich lohnend eine Geschichte der Musik aus sozial- bzw. kulturhistorischer Perspektive ist. Diese Materialfülle führt jedoch an keiner Stelle zu Redundanz oder Ermüdung des Lesers; vielmehr machen der überaus eloquente Stil und die gelegentlich eingestreuten humorvollen Nebenbemerkungen dieses Buch zu einer fesselnden Lektüre. Beigegeben ist überdies – neben zahlreichen Abbildungen – eine CD mit 48 Hörbeispielen, die von der Rekonstruktion einer rough music über Balladen, Tanzmusik, Psalmengesänge bis zu Glockengeläut die ganze Bandbreite frühneuzeitlichen Musizierens in England zu Ohr bringt. Positiv hervorzuheben ist, dass diese CD nicht bloßes Beiwerk, sondern eng mit dem Buch verkoppelt ist: Alle Hörbeispiele werden von Marsh besprochen, zudem enthält der Anhang des Buches noch eine kommentierte Übersicht der Musiktitel (zum Teil mit Noten).

Es bleibt zu hoffen, dass dieses äußerst empfehlenswerte Buch auch deutsche Frühneuzeit-Historiker dazu anregt, das Thema Musikgeschichte für sich zu entdecken.

Anmerkungen:
1 Tim Blanning, Triumph der Musik: Von Bach bis Bono, übers. v. Yvonne Badal, München 2010 (engl. Orig. 2008).
2 Jonathan Willis, Church Music and Protestantism in Post-Reformation England. Discourses, Sites and Identities, Aldershot 2010.

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