Cover
Titel
Rudolf Steiner. Die Biografie


Autor(en)
Zander, Helmut
Erschienen
München 2011: Piper Verlag
Anzahl Seiten
536 S.
Preis
€ 24,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sabine Hering, Department Erziehungswissenschaft und Psychologie, Universität Siegen

Als Nichtgeweihter grundsätzliche Aussagen zum Thema ‚Anthroposophie’ vorzulegen, bedeutet, sich – vielleicht nicht absichtlich, aber wohlweislich – auf vermintes Gelände zu begeben. Man betritt ein Feld, auf dem sich seit Jahrzehnten Apologeten und Dissidenten über die Deutung und Bedeutung der Lehre Rudolf Steiners hitzige Gefechte liefern. Das fordert deshalb unweigerlich dazu heraus, nicht nur ‚schlicht und einfach’ allgemein gehaltene Forschungsergebnisse zu präsentieren, sondern Position zu beziehen, sich also auf die eine oder andere Seite zu schlagen.

Genau dieses aber tut der Autor der neuen Steiner-Biographie, der katholische Theologe und Historiker Helmut Zander, der sich schon seit geraumer Zeit dem Studium der Anthroposophie widmet, nicht.1 Er sagt niemandem den Kampf an, er rechtfertigt sich nicht, er erläutert genau genommen noch nicht einmal seine Interessenlage. Er erweckt stattdessen den Eindruck, das Schlachtfeld lediglich mit den Instrumenten der reinen Wissenschaft zu betreten: als Schutzschild eine eindrucksvolle Fülle an Sachwissen vor sich her tragend; als Waffe seinen mit den zentralen Parametern der Kultur- und Geistesgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts geschärften Verstand einsetzend.

Zander formuliert deshalb die Absichten und Motive, die ihn zur Veröffentlichung ‚der’ Biographie über Rudolf Steiner bewogen haben, eher vage. Er schreibt: „Die vorliegende Biographie ist eine Erzählung, ein Versuch, aus den Trümmern, die wir Fakten nennen, Rudolf Steiner zu verstehen. Mein Versuch ist nicht der erste. Allerdings beanspruche ich, an manchen Stellen anders und kritischer auf diesen Mann geschaut zu haben – kritischer als viele Biographen vor mir, auf deren Schultern ich gleichwohl stehe“ (S. 473).

Die Angaben des Verlages und die Aufmachung des Buches liefern zwar ebenfalls eine Reihe von Hinweisen darauf, dass es hier um eine ‚andere’ und ‚kritischere’ Biographie geht. Bereits das Titelbild des Buches signalisiert, dass uns hier der ‚Vater’ der Anthroposophie „in neuem Licht“ gezeigt werden soll – so der Klappentext. Anstelle der uns geläufigen Portraits eines ernsthaft in die Weite und in die Tiefe schauenden reifen Mannes, eines Denkers und Sehers, blickt uns hier ein jugendlicher, als Bonvivant verkleideter Steiner eher verwegen und spöttisch entgegen. Die Notwendigkeit einer neuen kritischen, sich über mehr als 500 Seiten erstreckenden Darstellung des Lebensweges, der Ideenwelt und der Wirkung Rudolf Steiners wird jedoch lediglich mit dem nicht besonders originellen Argument begründet, man könne den ‚Herzschlag’ der Anthroposophie nicht verstehen, wenn man ihren Vater und Ideengeber nicht kenne. Die Frage, aus welcher Richtung das ‚neue Licht’ auf Steiner scheint und woraus die Kritik sich nährt, bleibt also – so vermute ich jedenfalls – absichtlich offen.

Wie hat Zander diese Biographie nun angelegt? Entlang der Chronologie der Ereignisse und Entwicklungsstufen setzt er mit jedem neuen Kapitel einen bestimmten inhaltlichen Akzent und entfaltet die für die jeweilige Phase herausragende Seite der mannigfaltigen Profile Steiners. Nach Einblicken in die Kindheit ‚in der Provinz’ und in die durch den Übergang von ‚der Welt der Technik in die Welt des Geistes’ geprägte Studienzeit in Wien beginnt Zander mit dem ersten großen Abschnitt unter der Überschrift ‚Der Philosoph’. Hier geht es um die intensive Beschäftigung Steiners mit Goethe, seine erste Begegnung mit den Wiener Theosophen, seine Auseinandersetzung mit Nietzsche sowie um seine Gastrolle im ‚sozialistischen Milieu’ und in der legendären Berliner Arbeiter-Bildungsschule.

Der zweite und größte Abschnitt der Publikation ist unter das Thema ‚Der Theosoph’ gestellt. Unter dieser Überschrift versammeln sich eine ganze Reihe von Abhandlungen – nicht nur über die Ideengeschichte und die vielfältigen Organisationsstrukturen der Theosophie, sondern ebenso über den ‚Kampf um das esoterische Christentum’, die Freimaurerei und die Ästhetik der Anthroposophie. Nicht ganz nachvollziehbar ist die Zuordnung der Themen ‚Mysteriendramen’, ‚Eurythmie’ und ‚Architektur’ im Rahmen dieses insgesamt eher geistesgeschichtlich angelegten Abschnitts. Vice versa werden in dem folgenden Abschnitt ‚Praxis’, in dem es erwartungsgemäß vor allem um die Waldorfschulen, die Medizin und die Landwirtschaft geht (und in den auch die zuvor diskutierten praxisbezogen Aspekte gut hineingepasst hätten) Themen abgehandelt, die man eher im Kontext des ‚Überbaus’ erwartet hätte: Die Haltung der Anthroposophie zum Ersten Weltkrieg, die grundsätzlichen gesellschaftspolitischen Positionierungen und die Neuorientierungen in der Nachkriegszeit. Hier gerät das Prinzip, Chronologie und Themenschwerpunkte zu kombinieren, offensichtlich an seine Grenzen; die Systematik verschwimmt, die Perspektiven vermischen sich – aber das hat sich bei einer Steiner-Biographie, in der es um die Vielfalt der Orientierungen, die Differenzierungen in seiner Auffassung und Widersprüche in seinem Selbstverständnis am Anfang und am Ende seines Lebens geht, wohl kaum vermeiden lassen.

Am Ende kommt die von Insidern sicherlich bereits mit Spannung erwartete Schlussapotheose: Der Tod Rudolf Steiners. Zander schickt sich jedoch nicht an, die Geheimnisse um die Vorgänge und die Diagnose der Todesursache aufzudecken, sondern legt – wie auch an anderen Stellen der Biographie des Anthroposophen, die oft mythisch überformt wurden – die verschiedenen Lesarten dar und weist auf offensichtliche Widersprüche hin. Den Kampf um das Erbe, der unmittelbar nach Steiners Tod ausbrach, versucht er möglichst sachlich darzustellen und sich nicht auf die üblichen Anekdoten zu beschränken, etwa auf den Streit zwischen der letzten Geliebten des Toten, der Ärztin Ita Wegmann, und seiner letzten Ehefrau Marie über die Frage, wo die Urne zu positionieren sei.

Soweit der knappe Überblick über den inhaltlichen Aufbau des Buches. Interessanter als die Frage danach, was Zander über Steiner schreibt, ist jedoch die nach dem Blickwinkel, aus dem heraus er das Leben beschreibt. Dazu einige grundsätzliche Überlegungen: Es ist in der Historiographie eine bekannte Tatsache, dass Lebenserinnerungen mit Vorsicht zu genießen sind. Sie sagen mehr darüber aus, wie die jeweilige Autorin oder der Autor sich der Nachwelt darstellen möchte als darüber, wie das entsprechende Leben tatsächlich verlaufen ist. Deshalb befremdet es, mit welchem Nachdruck Zander in den Selbstdarstellungen Steiners nach ‚der Wahrheit’ sucht, wobei er ihm wiederholt ‚Halbwahrheiten’ unterstellt und ihn – teilweise mit süffisanten, teilweise mit bösen Worten – fast durchgehend einer ‚Geschichtsklitterung’ bezichtigt.

Natürlich hat Steiner mit großer Energie seinen eigenen Mythos zu gestalten versucht – und natürlich musste er dabei häufig Kehrtwenden vollziehen und die jeweils überholten Profilbildungen revidieren. Es ist keine mutige und auch keine innovative Tat, dies festzustellen. Es stellt sich deshalb die Frage, ob Zander nicht in den Sog seines eigenen Forschungsgegenstandes geraten ist: dem ‚Wahrheitswahn’ der Theosophie. Trotzdem darf man nicht verkennen, dass es Zander im Zuge seiner Dekonstruktion der Selbstdarstellungen Steiners ebenso wie der apologetischen Steinerdeutungen stellenweise in überraschender Weise gelingt, aus der Analyse von ‚Halbwahrheiten’ Erkenntnisse zu generieren, welche tatsächlich – über die üblichen Grenzen des Verstehens hinweg – ein tiefer gehendes Verständnis für Rudolf Steiner ermöglichen.

Zum Schluss noch drei kurze Anmerkungen ‚am Rande’: Als nachgerade ärgerlich erscheint der chronische Mangel an Nachweisen und Belegen mit dem Hinweis auf deren Existenz in den beiden Zanderschen Anthroposophiebänden. Man wird also genötigt, außer den 500 Seiten über Steiner auch noch die beiden dicken Wälzer aus den Jahren 2007/2008 zu lesen oder zumindest zur Hand zu haben. Nett lesen sich hingegen die Einblicke in die „Werkstatt des Autors“ am Ende des Buches. Und schließlich besonders lobenswert: Die kürzeste Widmung aller Zeiten: „uxori“. Für Nichtlateiner: „der Ehefrau“.

Anmerkung:
1 Vgl. Helmut Zander, Anthroposophie in Deutschland. Theosophische Milieus und gesellschaftliche Praxis. 2 Bde., Göttingen 2007/2008.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension