Die Beschäftigung mit dem politischen Denken in der Weimarer Republik ist unweigerlich mit der Suche nach den Gründen für das Scheitern der Demokratie verbunden. Implizit schwingen dabei die Annahmen mit, dass entweder Theorien die Praxis prägen oder dass sich zumindest aus der Interpretation des Gedachten eine Erklärung für die politische Praxis gewinnen lässt. Die Klassiker der ideenhistorischen Aufarbeitungsliteratur von Kurt Sontheimer über Fritz Stern bis Stefan Breuer haben in der Tat eindrucksvoll belegt, wie sich in den 1920er-Jahren eine absurde Melange von antiliberalen, romantischen, autoritären und völkischen Ideologemen verbreitete und von rechtsintellektuellen Kreisen bis weit ins Bürgertum hineingetragen wurde.1 Berücksichtigt man noch den Appeal des sozialistischen Projekts und die den liberalen Staat unterminierende Wirkung der Agitation von links, dann entfaltet die These von der Selbstpreisgabe der Demokratie und der ideellen Selbstaufgabe des Liberalismus ihre zwingende Evidenz, zumeist verbunden mit einer in die Geschichte des 19. Jahrhunderts hineinragenden Erzählung des deutschen Sonderwegs. Die Erosion der DDP und die Zustimmung der verbliebenen Reichstagsabgeordneten aus der Deutschen Staatspartei zum Ermächtigungsgesetz symbolisieren nach dieser Lesart die Hilf- und Wehrlosigkeit eines Liberalismus, der sich den Grundsätzen des Verfassungskonsenses entfremdet hat.
Allerdings hat das Beharren auf den großen ideengeschichtlichen Linien und ihrer Verallgemeinerungsfähigkeit einen Preis. Abgesehen davon, dass derlei Deduktionen kaum je den Kontingenzen, der Offenheit und der Vielfalt des Historischen Rechnung tragen, vernachlässigt eine solche Sichtweise Nischen und Alternativen. Dass die dem Zeitgeist Unterlegenen retrospektiv bisweilen besondere Einsichten vermitteln und einer Wiederentdeckung würdig sind, ist kein Geheimnis. Die Juristin Kathrin Groh, mittlerweile Professorin für Öffentliches Recht an der Universität der Bundeswehr München, hat ihre Habilitationsschrift einer Gruppe gewidmet, die bisher nur als Minorität bzw. in ihrem Einzelgängertum wahrgenommen wurde: den demokratischen Staatsrechtslehrern in der Weimarer Republik. Ihr ist, um dies gleich vorwegzunehmen, eine in ihrer Systematik und in ihrer theoretischen Durchdringung beeindruckende Arbeit gelungen, die demokratietheoretisch und ideengeschichtlich wichtige neue Impulse setzt.
Grohs Synopse der staatsrechtlichen Konzeptionen von Hugo Preuß, Gerhard Anschütz, Richard Thoma, Hans Kelsen und Hermann Heller ist auch deswegen zu begrüßen, weil sie den qualitativen Ertrag liberal-demokratischer Verfassungstheorie gegenüber einer seit einigen Jahren jede Proportion überschreitende Aufmerksamkeit für Carl Schmitt verdientermaßen aufwertet. Abseits des für die Bundesrepublik vermeintlich konstitutiven Dualismus zwischen Schmitt- und Smend-Schule kann man nun mit Kathrin Groh entdecken, dass Bonn keineswegs nur ex negativo die Lehren aus Weimar zog, sondern dass sich durchaus positiv an die Staatsrechtslehre der ersten deutschen Demokratie anknüpfen ließ.2 Oder um es mit der Verfasserin pointiert zusammenzufassen: Schon in der Weimarer Republik formulierte eine demokratisch orientierte Staatsrechtslehre „Input-orientierte Theorien der Demokratie, die auf einer pluralistischen Basis standen“ (S. 579), und sie kam zu der Auffassung, „dass Rechtsstaat, Demokratie und Grundrechte zusammengehören“ (S. 586).
Es würde den Rahmen jeder Rezension sprengen, Grohs begriffssensible Hermeneutik in ihrer Differenzierungsleistung angemessen zu würdigen. Einige Ergebnisse ihrer Untersuchung mögen aber unterstreichen, wie gut es der Autorin gelingt, die Spannweite eines liberalen Verfassungspositivismus, wie ihn Anschütz vertritt, über den demokratisch-organologisch orientierten Ansatz von Preuß bis hin zu einer soziologisch-realistischen Sichtweise Hellers unter dem gemeinsamen Nenner einer demokratisch-staatserhaltenden Verfassungslehre zu plausibilisieren. Ist es doch die interpretative Pluralität einer liberalen Staatslehre, die die Besonderheit der Weimarer Verfassungsgebung als „freieste Verfassung der Welt“ noch einmal unterstreicht. Der common ground einer demokratischen Staatsrechtslehre besteht zunächst einmal darin, dass sie gegen alle zeitgenössischen Widerstände am Parlamentarismus festhielt, die Funktionsweise der repräsentativen Demokratie jedweder Art von direkter Demokratie vorzog und auf die politische Vernunft bzw. die Einigungsfähigkeit der Parlamentarier setzte. Während Carl Schmitt argumentierte, dass Wahrheit und öffentliche Diskussion als vermeintlich konstitutive Prinzipien ausgedient hätten, hielt eine liberaldemokratische Staatslehre an den Geboten der Toleranz, des Kompromisses und des Minderheitenschutzes fest. Gegen Schmitts polemische Entgegensetzung von Demokratie und Parlamentarismus, verteidigte eine liberale Position unbedingte Zusammengehörigkeit von beidem.3 Dass alle Vertreter einer „demokratischen Staatslehre“ liberalen Elitentheorien mehr oder weniger verbunden blieben, wird man ihnen im Lichte heutiger Debatten als Realismus auslegen können.
Groh ist weit davon entfernt, die von ihr behandelten Theoretiker über einen Kamm zu scheren. Sie zeigt, wie das konstitutionelle Erbe des Kaiserreiches auf vielfältige Weise dynamisch transformiert wurde. Der gebremste Etatismus von Anschütz mündete in das fast aristotelisch anmutende Bekenntnis „Der Staat, das sind wir“. Preuß stellte zwar den „Volksstaat“ einer unpolitischen Form der Gesellschaft gegenüber, ließ aber eine zivilgesellschaftliche auszudeutende Konzeption des genossenschaftlichen Self-Governments erkennen. Thoma hingegen verschwieg nicht die „aristokratischen Einbauten“ in moderne Demokratien, verschrieb sich jedoch der Überzeugung, dass mit dem „Kleineleutestaat“ der beste Staat zu machen sei. Für ihn bestand kein Zweifel, dass die Demokratie mit der politischen Emanzipation der Unterschicht verbunden bleiben muss. Sein Eintreten für Privilegienabbau und Gleichheit traf sich mit dem Sozialdemokraten Hermann Heller, dessen „liberal-durchwachsener Sozialismus“ dem Proletariat die Kultursteigerung, das heißt die Erhebung zum Bürger, bringen sollte. Gegen jedes vorurteilsschnelle Verdikt über die normative Enthaltsamkeit des Erfinders der „reinen Rechtslehre“ führt Groh überzeugend an, dass es Kelsen durchaus um eine Anleitung des Bürgers zu Staatspatriotismus und Opferbereitschaft für das Gemeinwesen ging. Allein Grohs luzide Kelsen-Kapitel legen den Gedanken nahe, dass sich Jürgen Habermas viele diskursethische Umwege zu „Faktizität und Geltung“ hätte sparen können, wenn er sich frühzeitig mit Kelsens Demokratietheorie vertraut gemacht hätte – auch dies eine Erkenntnis, die für die Aktualität der damaligen Diskurse spricht.
Sicherlich, auch die Tugendappelle der Staatsrechtler blieben ungehört, und ihre Hoffnung auf „die Integration der Gesellschaft durch den Austrag und die verbindliche Entscheidung von sozialen Konflikten“ (S. 349) setzte voraus, dass der verfassungsmäßige Rahmen von den sich befehdenden Parteien anerkannt wird. Schon damals wusste man, dass die Demokratie „immer von Voraussetzungen kultureller und sozialer Art [lebt], die der freiheitliche Staat nur in begrenztem Maße selbst produzieren darf oder garantieren kann“ (S. 173). Dem grassierenden Antiliberalismus und Irrationalismus ihrer Zeit standen die demokratischen Staatsrechtslehrer letztlich wehrlos gegenüber. Wer will es Heller verdenken, dass auch er über die Möglichkeiten einer kommissarischen Diktatur zur Rettung des Staates nachdachte? Seine klarsichtige Abrechnung mit dem Faschismus (und auch dem Bolschewismus) verdeutlicht auch, dass politische Urteilskraft nicht mit juristischer Systematik gepaart sein muss. Gegenüber den von Groh favorisierten Kollegen Thoma und Kelsen muss Heller doch im Hinblick auf theoretische Inkonsistenzen einiges an Kritik einstecken. Ambivalent bleibt die Einbeziehung und Wertung von Preuß, dessen früher Tod im Jahr 1925 ihm die Abgründe des von ihm modellierten Reichspräsidentenamts ersparte.
Grohs Demokratieverständnis ist im Sinne des heutigen Sprachgebrauchs normativ überformt; nur so kann man vom (begriffslogisch problematischen) Kippen der „identitären“ Demokratie ins „Antidemokratische“ handeln. Inhaltlich sind die Konturen einer liberaldemokratischen Staatslehre evident. Kathrin Groh zeigt nicht nur, dass es in Zeiten tiefster sozialer und politischer Orientierungskrisen Prinzipienfestigkeit und Vernunft gegeben hat. Ihre Arbeit liest sich als eine überzeugend grundsätzliche Begründung der liberalen parlamentarischen Demokratie, deren Existenzrecht auch im Ausnahmezustand zu verteidigen war. Davon kann in heutigen, eher gleichmütig geführten demokratietheoretischen Debatten ein belebender Impuls ausgehen, zumal das Diskussionsniveau der Weimarer Protagonisten einen Maßstab vorgibt, der qualitativ schwer einzuholen ist.
Anmerkungen:
1 Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, 4. Aufl., München 1994 (zuerst 1962); Fritz Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland, Neuauflage Stuttgart 2005 (zuerst 1963); Stefan Breuer, Anatomie der Konservativen Revolution, 2. Aufl., Darmstadt 1995.
2 Vgl. Frieder Günther, Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949-1970, München 2004.
3 Siehe vor allem Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 8. Aufl., (Nachdruck der 1926 erschienenen 2. Aufl.), Berlin 1996.