Diese umfangreiche Monographie umfasst zwei große Untersuchungen: zum einen eine ethnologische Feldforschung auf den Philippinen unserer Tage zu den „Selbst-Kreuzigern“, zum anderen eine gründliche Aufarbeitung der Diskurs-Geschichte, wie und wie wesentlich sich in der christlichen Passionsfrömmigkeit ein Sado-Masochismus repräsentiert, ja Religion als solche das Selbstzufügen von Schmerzen bedeutet. In der Verbindung beider Teile bildet diese Arbeit ein Musterbeispiel für eine religionswissenschaftliche Religionsgeschichte, in der die vergleichende Perspektive eurozentrische Vorurteile ablöst.
Im kolonialen Kontext war das iberische Christentum zunächst ein Teil der Herrschaftsstruktur, aber in der Aneignung – etwa in den Ritualen der Selbstkreuziger – wird es zu einer Teilhabe an der kolonialen Macht, bemächtigt Individuen, verlängert aber zugleich auch die Machtstrukturen hinein in die postkoloniale Epoche. Die „Vorbemerkungen“ stellen sich der Frage, was, wenn man nicht voyeuristisch auf andere blickt, das Ergebnis einer solchen Untersuchung sein kann. Peter J. Bräunlein zeigt hier, dass man nicht eine schwarze Folie Mittelalter gegen die strahlende Epoche der Aufklärung oder Dritte Welt gegen Europa stellen kann, ohne sich selbst zu betrügen. Religionsgeschichte soll vielmehr „als kulturelle Selbstaufklärung“ (S. 37–41) dienen. Die Veränderung in der Forschungslandschaft – nach der writing-culture-Debatte in der Ethnologie – ist auch in dem kleinen Fach Religionswissenschaft angekommen (S. 25–37).
In drei Teilen analysiert Bräunlein das Problem der Passionsfrömmigkeit als Selbstverletzung. Der Teil I behandelt Selbstgeißelungen und Selbstkreuzigungen in der europäischen Religionsgeschichte. Wichtige Stationen von der ‚Bußathletik‘ bis hin zur Selbstgeißelung sind hier beschrieben, Leidensmystik bei Seuse und Elsbeth von Oye, die spätmittelalterlichen Geißlerzüge und ihre Ziele, Jesuitische Geißelpropaganda. Jeweils sind durch die Forschungsgeschichte immer auch schon die Diskurse über die Pathologisierung von Religion verknüpft (S. 43–126). Selbstkreuzigungen sind an den Stigmata des Franz von Assisi1 und deren Tradition analysiert. Der Teil endet mit wichtigen Reflexionen zur Körpergeschichte (S. 156–183).
In einem Teil II „Verortungen“: Zur Lokalisierung und Übersetzung des Katholizismus auf den Philippinen (S. 185–239) fragt Bräunlein nun nach der Funktion der ethnographischen Beschreibung im postkolonialen Diskurs. „Kolonialgeschichte als Verlust-Geschichte“ der Kolonisierten zu entwerfen, ist überholt, vielmehr ist sie als ein Prozess des Aushandelns und des Gebens und Nehmens multiperspektiv zu sehen; dies gilt insbesondere auch für die Religion. Das nennt Bräunlein – in Antithese zum „clash of civilizations“ – den „clash of spirits“, der nicht destruktiv, sondern in einem gemeinsamen Diskursuniversum die Kulturen verbindet (S. 205), von einer in die andere „übersetzt“ und zur Überbietung reizt. Wichtige philippinische Theoretiker führt Bräunlein ein – neben der virtuos beherrschten Theoriegeschichte westlicher postkolonialer Konzepte. Begriffe wie „Konversion“ und „Synkretismus“ werden neu entfaltet und erhalten ihren Sinn, wenn sie als Prozess und vor allem als dialogischer Vorgang verstanden werden (S. 227), in dem es die aktive Rolle des kolonialen Subjekts zu entdecken gilt. Was die Journalisten, von protestantischen Lehrern ausgebildet, als Verlängerung der Erniedrigung durch Selbsterniedrigung anprangern, was als „die missverstandene und archaische Frömmigkeitsübung“ des „tieffrommen und gleichzeitig masochistischen Filipino“ gilt, ist „ethnographisch gesehen, eine falsche Repräsentation“. Ebenso deutlich kann Bräunlein die These widerlegen, die Selbstkreuziger hätten als Nativismus uralte philippinische Rituale (etwa die Selbstverletzung einer Initiationswunde) in der postkolonialen Identitätsfindung substituiert: Hier wird „keine autochthone Praxis durch eine äußerlich ähnliche fremde ersetzt“ (S. 526; vgl. 529). Die Interviews vor Ort zeigen eine selbstbewusste und den eigenen sozialen Status fördernde Haltung der Selbstkreuziger. Mit William Christians schafft „catholicism in practice“ sowohl eine lokale Verortung der Weltreligion als soziale Praxis in der Gesellschaft und eine Verbindung zu anderen Praktizierenden der gleichen Religion, so anders und fremd sie auch erscheinen mag (S. 238).
Teil III zu Flagellanten, Kreuzigerinnen und Kreuziger und dem Kult des Sto Cristo in Kapitangan stellt die ethnographische Feldforschung dar (S. 241–491). Die Beobachtungen sind überaus sorgfältig und stützen sich auf eine Vielzahl von Interviews. Arbeitshypothesen des Beobachters werden in den Befragungen mit den Interviewten diskutiert und entsprechend revidiert. Die eigenen Beobachtungen des Ethnographen Bräunlein sind in mehreren Feldforschungsreisen über drei Jahre hinweg dokumentiert und werden mit Gewährsmännern (-frauen) aus unterschiedlichen sozialen und lokalen Perspektiven befragt. Die Tatsachenbehauptungen der Interviewten sind überprüft, nachgezählt, aber für die Innenperspektive nicht als Falsifikation des besser wissenden Europäers in Anspruch genommen. Antiklerikalismus und kirchliche Ordnungsvorstellungen bleiben nebeneinander stehen. Der Priester ist eher eine ‚a-soziale‘ Figur; für den ‚Heiler‘ bedarf es eines Ortes in der kirchlichen Ordnung. Die Mimesis des Leidens ist nicht Selbstzweck oder Ziel der Handlung. Es geht vielmehr um „eine Transformation des Leidens“. Im Unterschied zur europäischen Dichotomie von Körper und Seele, die den Körper quälen mag, um damit die Seele zu befreien, verstehen die Filipinos den Körper, der sich selbst befreit.
Mit dem Ritual der Selbstkreuzigung (S. 378–435) ist insofern ein wichtiges anderes Untersuchungsfeld eröffnet, als es sich dabei um ein neu eingeführtes Ritual handelt, „die Erfindung einer lokalen Tradition“ (S. 379). Ausführlich hat Bräunlein die Frau interviewt, die damit begonnen hat. Wieder zeigt sich, dass kein Masochismus sie motivierte und dass sie aus dem ex voto einen Gewinn erhalten hat darin, dass sie nun eine – wohlhabende – Heilerin geworden ist. „Die Selbststigmatisierung wandelt sich in Charisma, welches für die Anhänger als Heil-Kraft verfügbar wird“ (S. 487). 63 Photos illustrieren die Befunde der ethnologischen Untersuchungen.
Exzellent auch der zusammenfassende Schluss (S. 492–514). Die Methodendiskussion wird noch einmal aufgenommen und mit den Ergebnissen der Untersuchungen konfrontiert. Viktor Turners Überlegungen zu Ritual und Theatralität sind der Ausgangspunkt für eine Religionswissenschaft, die sich von der Philologie sakraler Texte und von der religiösen Norm weg bewegt zu gelebter Religion. Dies nicht in kritischer Haltung zu einer exotischen Frömmigkeitspraxis von Volksreligion, sondern – darum musste der historische Teil I sein – als Beschreibung von praktizierter Religion, wie sie auch für die Europäische Religionsgeschichte angewendet werden muss. Besonders auf den Körper legt Bräunlein Wert, der in der Religionswissenschaft – oft programmatisch – nicht berücksichtigt worden ist. Religion ist dann „Verhandlungssache“: nicht gegeben, offenbart oder als normative Religion der Theologen (learned religion) und völlig verschieden von populärer Religion, Volksreligion, Aberglauben und anderem. Das seien irreführende Gegensätze.
Dieses Buch sollte Schule machen für einen neuen Umgang mit Religionsgeschichte. Nicht mehr an den Normen zu messen und zu werten, sondern die Praxis, die Kontexte beschreiben, die sich wandelnden Grenzen, was als Religion in einer Gesellschaft gilt, immer in der Aushandlung zwischen denen, die sie leben, und denen, die sie zu normieren versuchen.
Anmerkung:
1 Zu den Stufen der Entstehung der Stigmata-Legende des Franziskus jetzt Paul Bösch, Zwischen Orthodoxie und Häresie, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 17 (2009), S. 121–147.