C. Westerhoff: Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg

Titel
Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg. Deutsche Arbeitskräftepolitik im besetzten Polen und Litauen 1914–1918


Autor(en)
Westerhoff, Christian
Reihe
Studien zur Historischen Migrationsforschung 25
Erschienen
Paderborn 2011: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
377 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mark Spoerer, Institut für Geschichte, Universität Regensburg

Die Geschichte der Zwangsarbeit im Dritten Reich hat seit dem Klassiker von Ulrich Herbert (1. Auflage 1985, 2. Auflage 1999) eine Vielzahl von regional-, lokal- und unternehmenshistorischen Studien nach sich gezogen. Nach und nach kamen außerdem immer mehr Gebiete des besetzten Europas in den Fokus der Forschung, so dass man heute, wollte man eine Synthese schreiben, Studien für das ganze deutsch besetzte Europa (außer Tunesien) heranziehen könnte.

Herbert selbst hatte schon die Frage aufgeworfen, inwieweit der Zwangsarbeitereinsatz im Zweiten Weltkrieg auf Erfahrungen des Ersten Weltkriegs beruhte1. Die Spezialforschung zu diesem Thema blieb jedoch lange sehr dünn. Jochen Oltmer untersuchte den Kriegsgefangeneneinsatz und 2008 legte Jens Thiel seine Arbeit über die Zwangsrekrutierung belgischer Arbeitskräfte 1916/17 vor2. Die größte Lücke war jedoch von Beginn an der Kriegsschauplatz im Osten. Hier hatten die Deutschen im Zweiten Weltkrieg besonders gewütet, und für diesen Raum war eine Vergleichsstudie für den Ersten Weltkrieg immer schon ein Forschungsdesiderat, was auch an der schwierigen Quellenlage liegen dürfte.

Diese Lücke hat nun Christian Westerhoff geschlossen. Er untersucht die deutsche Arbeitskräftepolitik in den besetzten Gebieten Polens und Litauens, die einerseits zum Generalgouvernement Warschau und andererseits zum Verwaltungsgebiet des Oberbefehlhabers Ober-Ost gehörten. In der Behandlung der besetzten Bevölkerung und der Frage, ob und wie sie zur Arbeit für deutsche Zwecke eingespannt werden sollte, macht Westerhoff deutliche Unterschiede zwischen dem zivil verwalteten Generalgouvernement und dem militärisch verwalteten Gebiet Ober-Ost aus.

Im Generalgouvernement setzten die Besatzer zunächst auf Anwerbung und waren damit recht erfolgreich – hier spielten auch Kontinuitätslinien zur traditionellen saisonalen Arbeitskräftewanderung in der Landwirtschaft eine Rolle. Die freiwillig ins Reich gegangenen Arbeitskräfte wurden dort jedoch an der Rückkehr gehindert, so dass der Erfolg der Anwerbung zurückging. Die wenigen Zwangsrekrutierungen, die im Generalgouvernement ab Herbst 1916 stattfanden, betrafen 5.000 überwiegend jüdische Arbeitskräfte aus dem Raum Lodz, die nicht, wie man bisher annahm, nach Deutschland deportiert wurden, sondern nach Ober-Ost. Diese Maßnahme diente wohl vor allem als Drohkulisse zur Förderung der Anwerbung und fand keine Fortsetzung.

In Ober-Ost dagegen benötigte die Militärverwaltung Arbeitskräfte für den Aufbau der Infrastruktur und die Ausbeutung des Landes, insbesondere die Holzgewinnung. Die Anwerbung für das Reich war daher halbherziger und wenig erfolgreich, zumal sie von Beginn an von Zwangsrekrutierung für Arbeiten vor Ort begleitet war. Im Herbst 1916 fand eine Radikalisierung statt, in deren Rahmen die zwangsverpflichteten Arbeitskräfte nun fernab ihrer Heimat in bis dahin oft menschenleeren Gebieten eingesetzt wurden. In den neu gegründeten Zivilarbeiterbataillonen herrschten miserable Zustände und eine erhöhte Sterblichkeit. Während die zeitgleich eingeleitete Radikalisierung der Arbeitskräftepolitik in Belgien und dem Generalgouvernement nach einigen Monaten wegen internationaler Proteste bzw. offensichtlicher Dysfunktionalität nicht fortgesetzt wurde, setzte die Militärverwaltung in Ober-Ost bis Kriegsende auf Gewalt.

Westerhoff identifiziert eine Reihe von Gründen für die unterschiedliche Arbeitskräftepolitik in den beiden östlichen Besatzungsgebieten. Im Generalgouvernement konnte die Besatzungsverwaltung auf die Tradition der grenzüberschreitenden Saisonarbeit zurückgreifen. Dies war in Ober-Ost nicht der Fall, wo die Bevölkerung ganz überwiegend auf ihren eigenen Bauernhöfen arbeitete und kein Arbeitskräfteüberschuss existierte. Außerdem herrschte in der dortigen Verwaltung eine militärisch geprägte Kultur, wohingegen die zivile Verwaltung im Generalgouvernement flexibler war. Doch selbst in Ober-Ost kann Westerhoff keine ausgeprägt antisemitische Grundhaltung feststellen.

In Hinblick auf die vieldiskutierte Frage, inwieweit es Kontinuitätslinien der Arbeitskräftepolitik vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg gab, kommt Westerhoff zu einem differenzierten Ergebnis. Personelle Kontinuitäten gab es auf höherer Ebene keine und auch sonst lassen sich nur wenig direkte Bezugnahmen feststellen. Einen ganz wesentlichen Unterschied kann Westerhoff überzeugend anführen: Die Brutalität des deutschen Vorgehens im Zweiten Weltkrieg wäre im Ersten undenkbar gewesen, sowohl in Hinsicht auf die nichtjüdische als natürlich auch in Hinblick auf die jüdische Bevölkerung. Westerhoff schlägt daher vor, nicht wie Herbert von einem „Probelauf“ zu sprechen, der Kontinuität suggeriert, sondern von einem „Erfahrungshorizont“ (S. 330).

Insgesamt hat Westerhoff eine überzeugende Studie vorgelegt, die sich intensiv mit der Forschungslage auseinandersetzt und diese konstruktiv und differenziert argumentierend voranbringt.

Anmerkungen
1 Ulrich Herbert, Zwangsarbeit als Lernprozeß. Zur Beschäftigung ausländischer Arbeiter in der westdeutschen Industrie im Ersten Weltkrieg, in: Archiv für Sozialgeschichte 24 (1984), S. 285–304.
2 Jochen Oltmer, Bäuerliche Ökonomie und Arbeitskräftepolitik im Ersten Weltkrieg. Beschäftigungsstruktur, Arbeitsverhältnisse und Rekrutierung von Ersatzarbeitskräften in der Landwirtschaft des Emslandes 1914-1918, Sögel 1995; Jens Thiel, "Menschenbassin Belgien". Anwerbung, Deportation und Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg, Essen 2004.