Mitchells Studie „The Devil’s Captain: Ernst Jünger in the Nazi Paris, 1941–1944“ ist ein Addendum zu seinem großen, 2008 erschienenen Buch „Nazi Paris“.1 Der Titel der Studie verdankt sich, wie leicht erkennbar ist und wie der Verfasser zu Beginn des Vorworts bestätigt, Carl Zuckmayers Drama „Des Teufels General“, das bekanntlich einen Teufelskerl von Fliegeroffizier zwischen den Versuchungen des Nazismus und den Forderungen des Widerstands zappeln lässt. Mitchell las es während seiner Studienzeit am Middlebury College in Vermont, wo Zuckmayer von 1941 bis 1946 lebte und „Des Teufels General“ schrieb. Die Figur des Zuckmayerschen Generals muss sich Mitchell so tief eingeprägt haben, dass er während seiner Beschäftigung mit Jüngers Pariser Tagebüchern begann, den Autor vor dem Hintergrund dieser Gestalt zu sehen. Mit dem ersten Abschnitt des Vorworts räumt Mitchell dann aber auch gleich ein, dass die Differenzen größer als die Ähnlichkeiten sind. Jünger erreichte nie einen höheren Rang als den eines Hauptmanns, und sein Verhalten unterschied sich deutlich von der Rolle des Zuckmayerschen Generals in der deutschen Widerstandsbewegung. Damit ist aber auch gleich gesagt, dass der Titel der Jünger-Studie allenfalls berechtigt wäre, wenn er mit einem Fragezeichen versehen und solchermaßen als Ausdruck einer Fragestellung gekennzeichnet wäre. In der jetzigen Form, die man als Feststellung versteht, ist er unangemessen und irreführend, freilich auch dazu angetan, der Studie Aufmerksamkeit zu verschaffen.
Die reißerische Titelgebung ist allerdings das einzige, was an diesem Buch zu monieren ist; alles weitere besticht durch Gründlichkeit, Umsicht und Ausgewogenheit. Ob damit auch wesentlich neue Einsichten verbunden sind, ist indessen eine andere Frage.
„The Devil’s Captain“ ist in zehn Kapitel (und ein „Postscript“) untergliedert, die der Chronologie von Jüngers Leben folgen, aber zweimal durch eher systematische Ausführungen unterbrochen werden. Das erste Kapitel „The Loner“ skizziert auf sechseinhalb Seiten die Entwicklung Jüngers von der Geburt bis zum Jahr 1939 und charakterisiert ihn als einen Mann mit einer starken Tendenz zum Einzelgängertum, das sich Vereinnahmungsversuchen entzog. Kapitel zwei, „The Road to Paris“, beschreibt minutiös Jüngers Weg von Kirchhorst bei Hannover über den Westwall und die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs nach Paris. Kapitel drei, „Man about Town“, schildert Jüngers Erkundung der Stadt Paris und sein dienstliches und außerdienstliches Leben im Hauptquartier und in exklusiven Salons: Georgs-Runde, Exekution eines Deserteurs, Geisel-Affäre, Liebschaften usw. Das vierte Kapitel, „Dreaming and Musing“, unterbricht den Lebensbericht und widmet sich den auffallend vielen Traumnotaten und Reflexionen, die sich in Jüngers Pariser Tagebüchern finden. Sie kreisen vor allem um fünf Themenbereiche: um den Übergang (oder Abstieg) Europas zum Automatismus oder Amerikanismus; die wachsende Bedeutung der Religion; das Schwanken zwischen der Vorliebe für bürgerliche Häuslichkeit einerseits und Abenteuerlust andererseits; die Probleme mit der zunehmenden Macht der Partei auch in Paris; die unentwegte und beunruhigende Beschäftigung mit dem Tod. Hinsichtlich der denkerischen Dignität von Jüngers Darlegungen stellt Mitchell fest: „Truth to tell, Jünger’s waking thoughts were not appreciably more coherent than his dreams. He cannot be said to have developed an identifiable philosophy or political theory, either of which would have stood in contradiction to his inveterate and self-acclaimed individualism. Furthermore, his favorite mode of expression, the daily journal, militated against any systematic elaboration of a single intellectual scheme“ (S. 32). Dass sie Reduzierungen Jüngers auf ein Schema oder einen Begriff – Proto- oder Präfaschist zum Beispiel – durchweg vermeidet, gehört zu den Vorzügen dieser Studie.
Das fünfte Kapitel folgt Jünger im Winter 1942/43 mit den Kaukasischen Aufzeichnungen nach Russland, wo alles so ganz anders ist als in Paris (S. 37): „Obviously Russia was for Jünger everything that Paris was not.“ Das folgende sechste Kapitel behandelt die Zeit nach der Rückkehr nach Paris und gibt Anlass, nach Jüngers Beziehung zum Nationalsozialismus und zu Hitler zu fragen; der Blick geht zurück bis in die 1920er-Jahre und fällt auf die wichtigsten Berührungspunkte. Dann richtet er sich allerdings auch wieder auf Paris und registriert die Verschärfung der Situation im Jahr 1943, um im siebten Kapitel „The Plot Against Hitler“ die Pariser Verschwörung gegen Hitler zu beschreiben und Jüngers Rolle zu bestimmen. Das Fazit der Beobachtungen lautet: „Jünger was not in fact implicated in the conspiracy, and he would not support a plot to neutralize the SS in French capital“ (S. 49). Und: „Ernst Jünger played no part in the dramatic events of 20 July 1944“ (S. 53). Die Gründe dafür sieht Mitchell in Jüngers Einzelgängertum, in seiner bereits in den „Marmorklippen“ bekundeten Verwerfung des Attentats als Fehlweg und im Misstrauen der Verschwörer gegenüber dem nicht ganz durchschaubaren Jünger.
Das siebte Kapitel schließt mit Jüngers Rückkehr nach Kirchhorst, das achte – „Telling Omissions“ – fragt dann nach den Auslassungen in Jüngers Pariser Tagebüchern. Mitchell registriert sie vor allem in vier Bereichen: „Sex“, „Common people“ (inclusive „Jews“), „Condemnation“ und „Commitment“. Den Grund für die beiden letzten ‚Defizite‘ sieht Mitchell in Jüngers Vorurteilslosigkeit und in seiner „great curiosity about nature and the human condition“ (S. 60). Eine wichtige Ausnahme im unverbindlichen Verhalten Jüngers entdeckt Mitchell zurecht in seinem Verhältnis zur „army, to which he remained faithful throughout the second Thirty Years War from 1914 to 1945“ (S. 60).
Die beiden letzten Kapitel gelten der Zeit nach Paris, genauer: der unmittelbaren Auseinandersetzung mit den Pariser Erfahrungen in den Aufzeichnungen von der Rückkehr nach Kirchhorst bis zum Kriegsende (Kapitel neun) und in den Korrespondenzen mit Gefährten aus der Pariser Zeit und anderen Briefpartnern wie Martin Heidegger und Carl Schmitt (Kapitel zehn). Dann das „Postscript“ unter der Überschrift „Liebe Sophie“: auf der Basis der erstmals einsehbaren Briefe von Jüngers Pariser Geliebter Sophie Ravoux eine prägnante Darstellung nicht nur der Beziehung zwischen Jünger und Sophie Ravoux, für die Jünger der Mann des Lebens war, sondern auch zwischen Jünger und Banine sowie Florence Gould. Hier wird alles, was man wissen kann oder begründeterweise vermuten darf, gesagt, so zum Beispiel über Jünger und die langbeinig, blond und blauäugig strahlende Florence Gould: „From what is known, it is possible but not certain that they shared, at least briefly, a sexual episode“ (S. 83).
In der „Introduction“ beklagt Mitchell, dass Jüngers Pariser Zeit, die er für die wichtigste Zeit in Jüngers Erwachsenenleben hält, in den beiden jüngsten Biographien von Heimo Schwilk und Helmuth Kiesel (beide 2007) etwas zu knapp abgehandelt wird.2 Über Kiesel schreibt er (S. 5): „Like Schwilk, he glides over Jünger’s four Paris years in less than thirty-five pages, hardly more space than is accorded to his unsuccesseful postwar novel Heliopolis.“ Was dabei ungesagt blieb, ist jetzt in Mitchells minutiöser Studie nachlesbar. Wesentliches ist es meines Erachtens nicht, doch bin ich hier Partei, und wissenswert sind oft auch die Begleitumstände des Wesentlichen.
Anmerkungen:
1 Allan Mitchell, Nazi Paris. The History of an Occupation, 1940–1944, New York 2008.
2 Heimo Schwilk, Ernst Jünger. Ein Jahrhundertleben, München 2007; Helmuth Kiesel, Ernst Jünger. Die Biografie, München 2007.