E. Noël (Hrsg.): Dictionnaire des gens de couleur dans la France moderne

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Titel
Dictionnaire des gens de couleur dans la France moderne. Paris et son bassin


Herausgeber
Noël, Erick
Reihe
Bibliothèque des Lumières 77
Erschienen
Anzahl Seiten
578 S.
Preis
€ 47,08
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Leslie Brückner, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Das 2011 erschienene Dictionnaire des gens de couleur dans la France moderne macht erstmals den Versuch, die Minderheit der „Farbigen“ im Frankreich des Ancien Régime in ihrer ganzen Breite zu erfassen und zu dokumentieren. Der Begriff „gens de couleur“ entstammt dem historischen Sprachgebrauch des 18. Jahrhunderts und bezeichnet diverse Nicht-Europäer afrikanischer, karibischer, amerikanischer oder asiatischer Herkunft. Die statistische und soziologische Erfassung dieser Minderheit in Frankreich erschien bisher, gerade im Vergleich mit der britischen Forschung, als ein Forschungsdesiderat.
Unter der Leitung des Herausgebers Eric Noël hat ein Team von Wissenschaftlern im französischen Nationalarchiv in Paris sowie in mehreren regionalen Archiven, vor allem in Le Havre und in der Bretagne, recherchiert. Melderegister, Register über freigelassene Sklaven, Militärarchive, Akten diverser Strafprozesse, aber auch Bildquellen wurden zusammengetragen und ausgewertet. Neben zeitgenössischen Berichten gingen auch die Ergebnisse aktueller Studien in die Darstellung ein.

Überzeugend und umfassend gelingt diese Dokumentation vor allem für das achtzehnte Jahrhundert, wo sich durch restriktive Gesetze gegen die „gens de couleur“ in Frankreich die Quellenlage erheblich verbessert. Für den Zeitraum von 1715 bis 1792 bietet das Lexikon eine eindrucksvolle Materialfülle: Auf gut 500 Seiten werden über 3000 Einzelschicksale dokumentiert. Für den Zeitraum vor 1715 liegen hingegen, aufgrund der mangelhaften Quellenlage, vergleichsweise wenig Ergebnisse vor.
Das Lexikon bietet ein Stück „Geschichte von unten“: Mit wenigen Ausnahmen dokumentiert es die Geschichte jener Diener und Dienerinnen, Sklavinnen und Sklaven, die von ihren Herren nach Frankreich mitgebracht wurden und von denen oft nur noch der Vorname bzw. der christliche Taufname bekannt ist. In den Lexikoneinträgen werden die Personen jeweils mit dem Datum der ersten Erwähnung in einer französischen Urkunde, meist mit der Ankunft in Frankreich, erfasst und chronologisch geordnet. Ein ausführlicher Index am Ende des Bandes ermöglicht dem Benutzer die Suche nach namentlich bekannten Personen, sowohl unter den „gens de couleur“ als auch unter ihren Dienstherren.

In der Fülle der dokumentierten Einzelschicksale zeichnen sich wiederkehrende Muster ab. Vor 1715 sind es vor allem Menschen anderer Erdteile, etwa Ureinwohner Südamerikas, die als „Kuriosität“ nach Frankreich mitgebracht wurden oder schwarze Dienerinnen und Diener, die adeligen Damen als exotisches „Accessoire“ dienten. Für das 18. Jahrhundert stellt das Lexikon verschiedene Aspekte der Kolonialgeschichte und ihrer Rückwirkungen auf die französische Gesellschaft dar. Viele Einträge belegen erstens die verbreitete Praxis der Kolonialherren, junge Sklaven und Sklavinnen, oft noch im Kindesalter nach Frankreich mitzubringen, damit sie eine kurze Ausbildung absolvierten und die Grundlagen der katholischen Religion erlernten, bevor sie zum Dienst in die Kolonie zurückkehrten.
Manche von Ihnen versuchten in Frankreich die Flucht. Andere stellten Anträge auf Freilassung, die ihnen auf französischem Boden zustand, oder führten sogar Prozesse gegen ihre Herren. Wieder Anderen gelang durch die erlernten Handwerksberufe die Integration in die französische Gesellschaft. Für die Emanzipation dieser „citoyens de couleur“ im Zusammenhang mit der französischen Revolution stehen etwa Marie-Thérèse Lucidor, eine Pariser Weißnäherin kreolischer Herkunft,die1794 eine Rede zur endgültigen Abschaffung der Sklaverei hielt oder Jeanne Odo/Audotteaus Port-au-Prince, die 1791 in einem Porträt der „Société des gens de couleur“ als Symbol der „Menschlichkeit der Schwarzen“ verewigt wurde.

Eine zentrale Rolle spielten zweitens die familiären Beziehungen der Kolonialherren. Zahlreiche Einträge berichten von natürlichen Söhnen und Töchtern der Plantagenbesitzer mit schwarzen Sklavinnen. So wurde beispielsweise Guillaume Lethière (1774–1832), von seinem Vater, einem französischen Plantagenbesitzer in Guadeloupe, auf die Zeichenschule in Rouen geschickt und entwickelt sich zu einem berühmten Maler und Mitglied der Académie Française. Neben solchen positiven Beispielen stehen düstere Lebenswege – zwischen den Zeilen der Amtssprache lassen sich Einzelschicksale von großer Tragik erahnen.
Eine dritte wichtige Gruppe bilden die farbigen Soldaten in der französischen Armee, die manchen einen gesellschaftlichen Aufstieg ermöglichte. Eine außergewöhnliche Militärkarriere absolvierte etwa Abraham Petrovitch Hannibal, der Adoptivsohn Zar Peters und Urgroßvater Puschkins. Ein anderes Beispiel bietet Joseph Bologne, chevalier de Saint-George: Der Sohn eines adeligen Kolonialherren wurde zuerst als Fechter und Soldat, dann als Musiker, Komponist und galanter Adeliger eine schillernde Gestalt am französischen Hof des Aufklärungszeitalters. Eine herausragende Militärlaufbahn durchlief unter Napoleon auch Thomas Alexandre Dumas Davy de la Pailletterie, der Vater des Dichters Alexandre Dumas père.

Das Dictionnaire des gens de couleur dans la France moderne dokumentiert nun den soziologischen Kontext, in dem solche Einzelfiguren, die im kulturellen Leben eine herausragende Rolle spielten, standen. Es leistet somit einen wichtigen Beitrag zur französischen Kolonialgeschichte, die, vor allem für das 18. Jahrhundert, bislang unzureichend erforscht ist.
Einige Aspekte erscheinen jedoch problematisch. So bringt die Kategorie der „gens de couleur“ rassistische Implikationen mit sich. Das Vokabular der Quellen – „un sauvage“, „une négresse“, „un mulâtre créole“ – wird im Lexikonunkommentiert reproduziert. Die Lektüre setzt somit eine umfassende Vorbildung über die Bedingungen der Kolonialgeschichte voraus. Die Präsentation der Forschungsergebnisse in Lexikonform, die in der Reihe Bibliothèque des Lumières in der Tradition der französischen Aufklärung steht, birgt ebenfalls einige Nachteile. Der Anspruch, jede Person einzeln zu erfassen, führt bisweilen zu etwas manierierten Reihungen. Gerade angesichts der großen Mehrheit von Personen, über die nur ein einzelner Aktenvermerk Auskunft gibt, stellt sich die Frage nach der Handhabbarkeit des Lexikons. Bei Dienern und Dienerinnen desselben Herren oder Familienbeziehungen wäre eine Darstellung als Gruppe möglicherweise hilfreich gewesen. Auch zur Gliederung der Ergebnisse nach französischen Regionen wären Alternativen, etwa eine durchgehend chronologische Ordnung, nach Herkunftsländern oder soziologischen Gesichtspunkten, denkbar gewesen.
Insgesamt stellt das Dictionnaire des gens de couleur allerdings, durch die große Fülle der hier zusammengetragenen Einzelschicksale, eine nützliche und reichhaltige Quellensammlung für weitere Studien zur französischen Kolonialgeschichte dar. Mit der Aufarbeitung der Archive aus Paris, der Île de France und der Normandie leistet es einen bedeutenden Beitrag zur Grundlagenforschung. Diese breite Materialbasis kann nun im Rahmen weiterer statistischer und monographischer Einzelstudien aufgearbeitet und für die Forschung fruchtbar gemacht werden.

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