In seiner 2009 angenommenen Habilitationsschrift untersucht Dirk Rupnow die „Judenforschung“ im „Dritten Reich“. Es geht um die Frage, inwieweit die Wissenschaft an einer Ausgrenzung der Juden mitwirkte und ihre Ermordung mit vorbereitete. Paradoxerweise initiierte gerade die nationalsozialistische Diktatur eine intensive wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Judentum und versuchte die Artefakte jüdischen Lebens zu bewahren – um den „Gegner“ zu durchschauen und um durch eine intensive Darstellung der jüdischen Geschichte die eigene „Heldentat“ der vollständigen Vernichtung der Juden für künftige Generationen zu dokumentieren. Diese antijüdische Forschung ist die vergessene Vorgeschichte der heutigen Jüdischen Studien; Rupnow ordnet sie in ein Spannungsfeld aus Wissenschaft, Propaganda und Politik ein.
Dazu skizziert er zunächst die Institutionen, in denen dieser Forschungszweig entwickelt wurde. Dessen Hochphase dauerte von 1936 bis 1943; er entstand „als neue transdisziplinäre Forschungsrichtung“ (S. 63) an außeruniversitären Institutionen, gewann in Universitäten Dignität, dann wurde versucht, Lehrstühle einzurichten. Rupnow beschreibt es „als ein dissidentes Projekt, das sich gegen den etablierten universitären Habitus von Wissenschaft und Wissenschaftlern absetzen wollte“ (S. 124). Allerdings war die Anerkennung dieses Feldes durch die Universitäten eine wichtige Voraussetzung für dessen Etablierung. Die Errichtung von Lehrstühlen scheiterte jedoch vor allem an finanziellen und hochschulpolitischen Rahmenbedingungen. Wegen des Krieges kam das Fach insgesamt nicht über die Aufbauphase hinaus.
Im folgenden Kapitel geht es um die Funktionen der antijüdischen Forschung. Dem Reichssicherheitshauptamt diente die „Judenforschung“ als Gegneranalyse; den Kirchen bot die Forschung wahlweise ein „entjudetes“ – durch Tilgung aller jüdischen Spuren in den heiligen Schriften – oder ein antijüdisches Christentum an, und zwar durch Neuinterpretation des Alten Testaments als „israelitisch“, während das „Judentum“ als Rasse erst später entstanden sei. Dabei musste die Forschung eine Gratwanderung meistern. Einerseits durften Bedeutung und Einfluss der Juden nicht überbewertet werden, denn sonst hätte man sie nicht aus der europäischen Geschichte herausforschen können. Andererseits musste „das Judentum“ hinreichend gefährlich erscheinen, um seine Vernichtung rechtfertigen zu können. Die paradoxe Aufgabe lautete damals, jüdische Kultur historiographisch zu konservieren, um sie dadurch auszugliedern, denn in der Geschichte sei die weltgeschichtlich notwendige Tat zur Vernichtung der Juden begründet. Historisierung durch die Wissenschaft und Vernichtung (bzw. Vertreibung) durch die Politik deutet Rupnow als Pendant. Als Grundlage dieser Forschung dienten unter anderem Bibliotheken, die bei Emigranten und in jüdischen Institutionen geplündert wurden. Sie überdauerten dadurch tatsächlich vielfach den Krieg und ermöglichten den Protagonisten der „Judenforschung“ nach 1945 die Selbstrechtfertigung, als ihr eigentliches Ziel vor 1945 die Bewahrung der jüdischen Kultur angestrebt zu haben. Unklar bleibt in diesem Kapitel, warum Rupnow im konventionellen Referat von Texten einen „Denkstil“ nach Ludwik Fleck auszumachen meint, also verborgene Dispositionen, die den Blick auf einen Gegenstand kollektiv formatieren. Tatsächlich verwendet er den offenbar attraktiven wissenschaftssoziologischen Begriff, ohne jedoch analytische Konsequenzen zu ziehen; Flecks „Denkzwang“ entschärft er zu bloßen „Vorannahmen“.
Es waren die Qualifikationsarbeiten an den Universitäten, in denen das Programm der „Judenforschung“ zu großen Teilen vollzogen wurde. Zugleich zeigen diese Arbeiten zweierlei: nämlich zum einen, welch eine enge Symbiose Wissenschaft und Politik in der „Judenforschung“ eingegangen waren, zum anderen aber auch, dass es immer wieder zu Konflikten kam, weil die Wissenschaft sich den propagandistischen Ansprüchen des Regimes entziehen musste, um die Regeln der Wissenschaft nicht zu verletzen. Der wissenschaftliche Nachwuchs hatte die üblichen Standards einzuhalten, selbst wenn das auf Kosten der politischen Verwertbarkeit ihrer Arbeit ging. „Ein Blick auf die Qualifikationsarbeiten und ihre Begutachtung zeigt die NS-Judenforschung als ein sich neu etablierendes, dabei aber normal funktionierendes Wissenschaftsfeld: Vor allem die teilweise durchaus zurückhaltenden oder auch negativen Benotungen der einschlägigen Dissertationsschriften bestätigen nur, dass die Regeln der Wissenschaft in diesen Fällen zur Anwendung kamen – nicht zuletzt insofern, als die Arbeiten aus Gründen politischer Opportunität nicht überbewertet wurden.“ (S. 225)
Pragmatisch ging die „Judenforschung“ auch mit den Ergebnissen der jüdischen Studien seit der Frühen Neuzeit sowie mit jüdischen Wissenschaftlern um. Teilweise wurden deren Forschungsergebnisse zu Kultur und Geschichte der Juden ignoriert, teilweise baute die „Judenforschung“ auf ihnen auf, verschleierte aber die Herkunft dieser Ergebnisse. Selbst vor einer Zwangsverpflichtung jüdischer Wissenschaftler für die „Judenforschung“ schreckte man nicht zurück. Auch hier zieht Rupnow deshalb eine Parallele zur nationalsozialistischen Vernichtungspolitik: „Nicht zuletzt diese Instrumentalisierung der Opfer für die gegen sie gerichteten Maßnahmen bindet die ‚Judenforschung‘ an die nationalsozialistische Vernichtungspolitik an, innerhalb derer dieses Vorgehen nicht nur eine Voraussetzung für ein reibungsloses Funktionieren darstellte, sondern darüber hinaus eine besondere Form der Erniedrigung.“ (S. 255)
Die letzten vier Kapitel umkreisen zwei Fragen, nämlich einmal die Nähe der Wissenschaft zur Politik und die Frage der Wissenschaftlichkeit der „Judenforschung“, zum anderen Brüche und Kontinuitäten im fraglichen Feld in der Nachkriegszeit. Rupnow arbeitet heraus, dass die „Judenforschung“ trotz oder wegen ihrer Nähe zur Politik nicht einfach als „Pseudowissenschaft“ abqualifiziert werden sollte, da eben Interessen und Vorgaben des politischen Feldes nicht umstandslos in die Wissenschaft adaptiert wurden. Wissenschaft, so Rupnow, war im „Dritten Reich“ durchaus möglich und wurde gefördert, man sollte wegen der Komplizenschaft der Wissenschaftler mit den nationalsozialistischen Verbrechen nicht deren Wissenschaftlichkeit in Frage stellen, und zwar weil „gerade die Nationalsozialisten ein wissenschaftliches Interesse am Judentum hatten“ (S. 426). Trotzdem lässt sich keine klare Trennlinie ausmachen. Die „Judenforschung“ publizierte nämlich eine ganze Reihe politischer Pamphlete, die allerdings stets mit der Autorität der Wissenschaft untermauert wurden. Zugleich folgte das Forschungsfeld der Radikalisierung der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik, das heißt eine immer schärfere Darstellung der jüdischen Geschichte legitimierte immer drastischere Maßnahmen gegen Juden. Dabei kam es dann zu Überschneidungen mit dem Feld der Rassenbiologie und „zu einer transdiziplinäre[n] Zusammenarbeit zwischen Geistes- und Naturwissenschaftlern“ (S. 286). Antisemitismus und Rassismus wurden durch die „Judenforschung“ nicht verwissenschaftlicht, sondern diese war eine Wissenschaft unter einer konsequent antisemitischen Perspektive. Die „Judenforschung“ profitierte von der Rassenpolitik des „Dritten Reiches“, legitimierte sie und nahm direkt beratend teil.
Am Ende dieser Geschichte stehen noch einmal die geraubten Bibliotheken. Sie hatten vor 1945 als Fundament der antijüdischen Forschung gedient; seit den späten 1950er-Jahren wurden darauf – teilweise von den alten Protagonisten – die heutigen Jüdischen Studien aufgebaut. Der Antisemitismus initiierte im „Dritten Reich“ die Erforschung des Judentums, das führte zur Bewahrung vieler Bibliotheken durch Raub, das wiederum bildete die Grundlage für die wissenschaftliche Judaistik nach 1945, die sich immer mehr von einer Verengung auf Antisemitismusstudien befreiten – so schließt die tragische Entwicklung auf eine recht bizarre Weise.