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Titel
Umkämpfte Erinnerungen. Die Bedeutung lateinamerikanischer Erfahrungen für die spanische Geschichtspolitik nach Franco


Autor(en)
Elsemann, Nina
Reihe
Globalgeschichte 8
Erschienen
Frankfurt/M. 2010: Campus Verlag
Anzahl Seiten
372 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Walther L. Bernecker, Universität Nürnberg-Erlangen

Bücher zur Aufarbeitung der verbrecherischen Vergangenheiten in Spanien und in Lateinamerika sind inzwischen Legion. Die meisten vorliegenden Studien sind jedoch nationalgeschichtlich ausgerichtet, wagen allenfalls in einzelnen Fällen eine komparatistische Perspektive. Anders die Studie von Nina Elsemann, die im Untertitel bereits zu erkennen gibt, worum es ihr geht: Um die Bedeutung lateinamerikanischer, insbesondere argentinischer Erfahrungen für die spanische Geschichtspolitik nach Franco.

Die Verfasserin geht einleitend der Frage nach, wieso in Spanien lange Zeit eine öffentliche Debatte über die Vergangenheit unterblieb und erst Ende des 20. Jahrhunderts um sich griff. Insbesondere interessiert sie sich für die Frage, wann und in welchem Zusammenhang der im lateinamerikanischen Kontext geprägte Begriff der desaparecidos (die "Verschwundenen") in den spanischen Kontext transportiert und dort adaptiert wurde. Ausgangspunkt der Studie ist die Annahme, dass das spät aufgetretene Interesse an einer Vergangenheitsaufarbeitung nicht nur, zumindest nicht primär auf innenpolitische und demographische Gründe zurückzuführen ist, sondern dass zur Erklärung eine globale Perspektive erforderlich ist und die zunehmend grenzüberschreitenden Erinnerungs- und Aufarbeitungsdiskurse und –praktiken zu berücksichtigen sind, insbesondere die Verfolgung der lateinamerikanischen Menschenrechtsverletzungen durch die spanische Justiz und die spanische Debatte über die lateinamerikanischen "Verschwundenen". Am Beispiel des Transfers und der Übersetzung des im lateinamerikanischen Kontext geprägten Begriffs der desaparecidos "soll eine transnationale Kontextualisierung der spanischen Erinnerungsdebatte vorgenommen werden" (S. 14).
Im ersten Hauptkapitel wird eine knappe Geschichte des "Verschwindenlassens" im 20. Jahrhundert präsentiert und herausgearbeitet, wie der Begriff der desaparecidos sich aus dem lateinamerikanischen Kontext zu einer internationalen Menschenrechtsnorm und einem globalen Diskurs entwickelt. Sodann wird das in Südamerika entwickelte Instrument der Wahrheitskommissionen und die transnationale Dimension des Umgangs mit der Vergangenheit anhand des "Falls Pinochet" und dessen Auswirkungen auf die Auseinandersetzung mit der franquistischen Vergangenheit in Spanien diskutiert. Im nächsten Kapitel werden die Rückwirkungen der öffentlichen Debatte über den "Fall Pinochet" auf den Umgang der spanischen Gesellschaft mit ihrer eigenen Diktatur- und Bürgerkriegsvergangenheit aufgezeigt. Ausgehend von dem neuen Diskurs der Opfer untersucht das sich anschließende Kapitel die spanische Erinnerungspraxis und ihre zentralen Akteure im Zuge der lateinamerikanischen, insbesondere der argentinischen Erfahrung. Im letzten Kapitel wird herausgestellt, dass und wie es den zivilgesellschaftlichen Vereinigungen in Spanien gelungen ist, eine öffentliche Debatte über die jüngste Vergangenheit loszutreten.

Die Schlussbetrachtung stellt die Frage nach der "Argentinisierung" der Vergangenheitsaufarbeitung in Spanien und unterstreicht damit abermals die globale Dimension des spanischen Erinnerungs- und Aufarbeitungsprozesses und die Bedeutung des Transfers von Erinnerungs- und Aufarbeitungspraktiken. Spätestens seit der Jahrtausendwende fungierte Lateinamerika immer wieder als bedeutsamer Referenzrahmen der spanischen Debatte. Die Autorin verweist abschließend darauf, dass die durch die Erinnerungsinitiativen der letzten Jahre veränderte Deutung der Vergangenheit im Kontext der Zirkulation und des Austauschs von Konzepten und Erfahrungen der Vergangenheitsaufarbeitung entstanden und als spezifisch lokale Auswirkung der Globalisierung des spanischen Prozesses zu verstehen ist (S. 328).

Die Dissertation von Nina Elsemann zeichnet sich durch eine ausgesprochen differenzierte Argumentation sowohl der lateinamerikanischen, insbesondere der argentinischen Aufarbeitungspraktiken, als auch des spanischen Falls und seiner Wandlungen im Laufe der letzten dreißig Jahre aus. Es ist die erste Studie, die systematisch den Transfer geschichtspolitischer Diskurse und Erfahrungen thematisiert und damit die nationalhistorische Perspektive durchbricht. Gewisse Redundanzen waren dabei ebenso unvermeidlich wie die erneute Darlegung von Diskursen und Argumentationszusammenhängen, die gerade für Spanien schon intensiv aufgearbeitet worden sind. Dies tut aber der Gesamtqualität dieser sehr gelungenen Studie keinen Abbruch, trägt vielmehr zur Abrundung des monographischen Charakters der Untersuchung bei. Obwohl die Verfasserin keinen Zweifel an ihrer liberalen Position zu Gunsten einer umfassenden Aufarbeitungspolitik aufkommen lässt, werden auch die konservativen Gegenargumente ausführlich zu Papier gebracht und fair gewürdigt. Die Studie ist ein Musterbeispiel dafür, wie auf der Grundlage eines nationalgeschichtlich bereits umfassend bearbeiteten Themas eine transnationale und globale Perspektive vielfache neue Erkenntnisse hervorbringen kann. In diesem Sinn ist das Buch ein wesentlicher Beitrag zur Weiterentwicklung der geschichtspolitischen Diskurse; es dürfte in Zukunft obligater Bezugspunkt bei weiteren Studien dieser Art sein. Um in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit möglichst bald und umfassend bekannt zu werden, ist der Untersuchung eine baldige Übersetzung ins Spanische zu wünschen.

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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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