Noch immer ist die Forschung bezüglich der Transformationsprozesse vom 4. bis zum 8. Jahrhundert in Bewegung. Vor allem der Integrations- und Anpassungsprozess ankommender Barbaren ist noch längst nicht ausreichend erforscht: Was macht einen Franken aus? Wann war ein Gote ein Gote? Und nahm der Gote sich selbst als ein solcher wahr? Wurden die Gallo-Römer frankisiert und die Hispano-Römer gotisiert? Oder passten sich die Ankömmlinge der römischen Mehrheitsbevölkerung an? Der angesichts der Quellenlage äußerst spannenden Frage nach der ethnischen Identität in einem der nachrömischen Königreiche ist nun Manuel Koch nachgegangen. In seiner Paderborner Dissertation untersucht er auf einer soliden Quellenbasis diese Frage im Rahmen des entstehenden Westgotenreiches; sein Text ist unprätentiös und gut lesbar, was wahrlich nicht von jeder Qualifikationsarbeit behauptet werden kann. Die einzige Schwierigkeit beim Lesen ergibt sich aus dem Aufbau des vorliegenden Bandes. Die historische Entwicklung berücksichtigend, werden im zweiten Kapitel das tolosanische und im fünften Kapitel das toledanische Westgotenreich getrennt untersucht. Dazwischen liegen quellen- und methodenorientierte Kapitel. Dadurch werden wesentliche identifikationsstiftende Aspekte, wie Eherecht und Religion, aufgegliedert, wodurch der Erkenntnisfortschritt zunächst unklar bleibt. Erst nachdem man sich an diese Gliederung gewöhnt hat, der Leser also den Querverweisen in den Fußnoten folgt, erschließt sich der Untersuchungsgang des Autors.
Das zu besprechende Werk beginnt mit einer dreigeteilten Einleitung, in der Begrifflichkeit, Forschungsstand und Konzeption dargelegt werden. Koch unterscheidet ein primordialistisches und ein konstruktivistisches Ethnizitätsverständnis. Ersteres habe die Forschung lange Zeit dominiert. In jüngster Zeit folgt die Forschung, und mit ihr auch der Autor, der soziologischen Vorstellung, dass Ethnizität sich durch eine jederzeit variable Loyalität zu einer Großgruppe konstruiere. Die jeweilige Auffassung der Ethnizität wird bei der Beurteilung der Forschungsliteratur immer wieder aufgegriffen. Die Forschungsgeschichte umfasst die zu erwartende Darlegung der Ethnogenese, von der Abstammungsgemeinschaft über Wenskus’ Traditionskern bis zu den jüngeren Ethnogenese-Modellen von Herwig Wolfram und Walter Pohl. Neben diesen Thesen der „Wiener Schule“ wird die Kritik der angelsächsischen Forschung, allen voran von Walter Goffart, diskutiert. Entscheidenden Anteil an der jüngsten Diskussion schreibt Koch dabei der Dissertation von Patrick Amory zu, der gezeigt habe, dass die gegensätzlichen Positionen der beiden Forschungsströmungen in Einzelfragen durchaus vereinbar seien.1 Diesen Anspruch hat Koch auch für seine eigene Arbeit, in der er die westgotische Identität und deren vermeintliche Differenzierung von der römischen untersucht (S. 24). Dies bedeutet aber zugleich: Wer etwas über Basken, Sueben und Juden im Westgotenreich erfahren will, braucht nicht zu diesem Buch zu greifen.
Die eigentliche Untersuchung beginnt mit einer historisch angelegten Darstellung der Migrations- und Siedlungsgeschichte der Westgoten im 6. Jahrhundert. Auch dieses zweite Kapitel ist dreigeteilt, es betrachtet die Vorgeschichte bis zur Ansiedlung der Westgoten in Südfrankreich, charakterisiert das tolosanische Reich und erörtert die Stellung der Römer und Goten in diesem Staat. Wozu die Vorgeschichte bis zur Ansiedlung dargelegt werden musste, erschließt sich dem Rezensenten nicht; die Thesen zur Ansiedlung (Landzuweisung oder Anteil an der Steuerquote) hätten auch ohne diese erörtert werden können. Die politische Entwicklung des tolosanischen Westgotenreiches behandelt Koch aufgrund der unzureichenden Zeugnisse zu Recht nur kurz und leitet dann schnell zum Kernthema des Kapitels über, in dem die rechtliche und soziale Stellung der Goten und Römer in diesem Herrschaftsbereich sowie deren Haltung und Handlung untersucht werden. Wesentlich für das spätere Ergebnis ist hierbei die Einschätzung der Rechtslage. Trotz aller Vorsicht entscheidet sich Koch für die territoriale Geltung der Westgotenrechte. Dabei kann das Breviarium Alarici mit Sicherheit als ein Zugeständnis an die gallo-römische Bevölkerung in Gallien und die Lex Visigothorum als die Fortführung der kaiserlichen Rechtsprechung angesehen werden. Ob diese Gesetzbücher aber nun territoriale oder personale Gültigkeit besaßen, ist entscheidend für die Frage der rechtlichen Identität. Die Westgoten finden im Breviar keine Berücksichtigung. Dies heißt aber keineswegs, dass sie nicht nach diesem Gesetzbuch veranlagt sein konnten. Das Westgotenrecht behandelt hingegen vorwiegend Rechtsfragen, welche die Goten betrafen. Es ist daher wenig überzeugend, diese rechtliche Trennung, wenn sie schon nicht von den gesetzgebenden Königen beabsichtigt war, dann doch als faktische Unterscheidung anzuerkennen. Anders als Koch annimmt, scheint sich in der jüngeren Forschung eine Tendenz zur Anerkennung der personalen Gültigkeit durchzusetzen.2
Unabhängig von der Rechtsgeltung stellt sich im Detail die Frage, ob Goten und Römer aufgrund eines Ehegesetzes getrennt waren3, hätte dies doch eine Separierung der ethnischen Gruppen bis hin zur Endogamie zur Folge gehabt. Wie schon angedeutet, muss der Leser in dieser Frage zwei Abschnitte der Untersuchung Kochs im Blick haben (S. 67–71 u. 389–394): Koch kommt in Übereinstimmung mit der jüngeren Forschung zu dem ansprechenden Ergebnis, dass dieses Gesetz keinerlei Relevanz für die westgotische Gesellschaft hatte und damit auch kein Faktor darstellte, durch den ethnische Gruppen voneinander getrennt wurden. Vielleicht hätte der Vergleich mit den rechtlichen Bedingungen in den anderen nachrömischen Königreichen noch zur Präzisierung in dieser Detailfrage beigetragen. So hätte man mit Hinblick auf die politische Praxis in den Königreichen der Ostgoten und Burgunder weiterführende Schlussfolgerungen treffen können. Denn auch im Burgunder- und Ostgotenreich musste der Konflikt um Integration und Nachkommenschaft gelöst werden. Dort bestand kein Eheverbot. Ehen mussten lediglich standesgemäß sein, und die erbrechtlichen Folgen waren zu beachten.4 Dies stützt die These Kochs, dass im Westgotenreich kein Eheverbot bestand.
Im dritten Kapitel werden anhand der schriftlichen (Consularia Caesaraugustana) und archäologischen Quellen der Entstehungsprozess des toledanischen Westgotenreiches besprochen, bevor im vierten Kapitel wieder die Untersuchungsfrage nach der ethnischen Identität aufgegriffen und anhand der erzählenden Quellen – etwa des in jüngster Zeit so gescholtenen Isidor von Sevilla – diskutiert wird. Die Analyse der Konzilsakten und der Leges bilden den Abschluss der Untersuchung im fünften Kapitel. In keiner Quellengattung konnte Koch eine sich gegenseitig ausschließende Relevanz der ethnischen Kategorien feststellen, und zwar weder in den historiographischen noch in den normativen Texten. Es seien vielmehr auf verschiedenen Ebenen komplizierte Zuordnungen zu der einen oder anderen Ethnie und deren rasche Verschmelzung zu konstatieren, sodass man sich wohl von der lieb gewonnenen Vorstellung einer sich über Jahrhunderte aufrechterhaltenden polyethnischen Gesellschaft verabschieden muss.
Das gesamte Werk zeichnet sich durch eine intensive Diskussion der Sekundärliteratur aus, die angesichts der komplizierten Quellen- und Forschungslage auch angeraten ist. Die Westgotenforschung ist seit jeher international und interdisziplinär orientiert, entsprechend mussten neben den deutschsprachigen auch englisch-, französisch- und spanischsprachige Arbeiten, neben den historischen auch die juristischen und archäologischen Forschungsergebnisse berücksichtigt werden. Dies gelingt dem Autor, und er kommt zu gut begründeten und plausibel dargelegten Ergebnissen. Koch hat zweifellos ein Referenzwerk geschrieben, und zwar nicht nur hinsichtlich der Frage nach der römisch-gotischen Identität im toledanischen Westgotenreich, sondern auch hinsichtlich vieler Detailfragen der westgotischen Ansiedlung.
Anmerkungen:
1 Patrick Amory, People and Identity in Ostrogothic Italy (489–554), Cambridge 1997.
2 Vgl. zur älteren Forschung Hansgünther Schmidt, Zum Geltungsumfang der westgotischen Gesetzgebung, Münster 1978, S. 8–11, bes. S. 11, Anm. 84 und Harald Siems, Art. „Lex Romana Visigothorum“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte 2 (1978), Sp. 1941 sowie in jüngerer Zeit Detlef Liebs, Art. „Lex Romana Visigothorum“, in: Reallexikon der germanischen Altertumskunde 18 (2001), S. 323–326.
3 Cod. Theod. 3,14,1 (373) = L. Rom. Vis. 3,14,1 interpr. (506) und L. Vis. 3,1,1.
4 Vgl. Ed. Theod. 64; 65; 66; 67; 69; L. Burg. 12,5; 100.