Die arabische Literaturgeschichte ist reich an Reise- und Pilgerberichten. Herausragende Beispiele – Ibn Battuta, Ibn Jubayr – sind weltbekannt, oft ediert und übersetzt. Dabei reicht das literarische Spektrum dieser Gattung vom romanhaften Abenteuerbericht bis zur trockenen Aufzählung von Wegmarken. Das in der Leipziger Universitätsbibliothek verwahrte Unikum der Pilgerfahrt eines marokkanischen Gelehrten von Fez nach Mekka und Medina in den Jahren 1727-1728 ist inhaltlich zwischen diesen beiden Extremen einzuordnen. Der Autor Ibn al-Tayyib (1698-1757) war einer der geachtetsten Philologen seiner Generation und hatte über ein breites Netzwerk bedeutender Schüler immensen Einfluss auf die zeitgenössische Gelehrtenwelt des Mittleren Ostens.
Der Text kann sich also berechtigte Hoffnungen auf das Interesse einer breiteren Öffentlichkeit machen. Der Entschluss des renommierten Londoner Verlages I.B. Tauris, ihn ohne den Umweg einer kritischen Edition in Übersetzung herauszugeben, ist also auch aus wirtschaftlicher Sicht – und besonders im Hinblick auf den Preis des Werkes – durchaus nachvollziehbar. Dass dies ein sowohl wissenschaftlich wie literarisch lohnendes Unterfangen sein kann, hat jüngst Richard Blackburns „Journey to the Sublime Porte“ eindrucksvoll bewiesen.1
Wer sich aber der vorliegenden Übersetzung mit Kenntnis des Originals zuwendet, gerät bereits beim Anblick des Bändchens ins Stocken. 123 Seiten großzügigen und mit unzähligen (erfundenen) Überschriften durchsetzten Druckes stehen 130 eng beschriebene Blätter (ergo 260 Seiten) an arabischem Originaltext gegenüber. Tatsächlich wird eine Menge sprachlichen Ballasts an redundanten Synonymenketten abgeworfen (eine Quelle ist nur noch „süß“ statt „klar, rein, kühl, belebend und süß“), was dennoch einer Rechtfertigung, zumindest einer Erwähnung durch die Übersetzer bedurft hätte. Es werden aber auch substantielle Teile des Textes fortgelassen, ganze Seiten übersprungen. S. 29 zum Beispiel sind die Pilger zwar tatsächlich in Panik vor einer Gruppe Beduinen, doch nicht diese halten sie vom Besuch eines Heiligengrabes ab, sondern ein dramatisch geschilderter, in der Übersetzung jedoch nicht zu findender Sturm. Es folgen sechs Doppelverse eines Gedichtes auf das Grab, das die Übersetzer nicht aufnehmen, indem sie es für „lost“ erklären! In Tripoli (S. 37) lesen wir „prices of food are not high“, obwohl das Gegenteil der Fall ist. Nur die – nicht übersetzte – Abwesenheit der Flotte schaffte hier kurzzeitigen Rückgang.
Es ist oft nicht leicht nachzuvollziehen, welche Teile einer Seite nun in einem Satz zusammengewürfelt wurden. Manches ist auch schlicht Erfindung, offenbar mangelndem Verständnis und etwa der verzweifelten Suche nach einem Subjekt geschuldet, das gerade der editorischen Schere zum Opfer gefallen ist. Ein System meine ich vielleicht darin zu erkennen, dass sprachlich schwierigere Passagen gerne übergangen werden. Auch den angenommenen Geschmack des Lesers wollten die Übersetzer wohl treffen: Eine mehrseitige Diskussion über Urin (eigentlich S. 28) hat man ihm erspart, das gleiche musste ein Bericht über Kaffee nicht befürchten. Viele Streichungen betreffen die unzähligen Gedichte, welche fast gänzlich wegfallen. Dies ist umso erstaunlicher, erfahren wir doch bereits S. 2, die Reise sei „an important literary reference in terms of the poetry […] that it contains“. Tatsächlich aufgenommene Verse werden von den Übersetzern ihrem Autor Ibn al-Tayyib sogar abgesprochen (Verfasser sind angeblich „poets“) (S. 27).
Wenn eine Zusammenfassung auch keine Übersetzung ist, so könnte sie doch immerhin die faktischen Beobachtungen Ibn al-Tayyibs vermitteln. Wer mit dem Pathos des Umschlagtextes jedoch ein Buch, „unique […] for the sheer volume of detail“, erwartet, dürfte enttäuscht werden. Denn wie in vielen arabischen Reiseberichten der Zeit ging es auch hier nicht darum, biographische, soziale oder wirtschaftliche Nachrichten en détail auszubreiten. Der Text sollte vielmehr den Autor als einen Gelehrten darstellen, der spitzfindige Diskussionen mit seinesgleichen zu führen verstand und dafür natürlich viel Lob – nicht zuletzt von sich selbst – erntete, der recht inhaltsleere doch sprachlich bedeutsame Reimprosa schreiben konnte und dem die einzelnen Stationen des Weges Stichwortgeber für eigene oder erinnerte Gedichte waren. Diese hauptsächlich sprachlichen Qualitäten waren entscheidend für den Erfolg eines solchen Textes – den man sich hier nach Ausweis einer einzigen erhaltenen Handschrift übrigens auch nicht allzu groß vorstellen sollte.
Seines poetischen Kleides beraubt, teilt uns der Text oft nicht mehr mit, als dass der Autor von A nach B aufbrach, dort aß, trank, betete und schlief. Auch die Beschreibung einer bedeutenden Metropole wie Kairo gerät nicht zum lebhaften Stadtpanorama, das mehr als Stereotype liefert. Dass man auch solche Texte mit sozialgeschichtlichem Gewinn lesen und verwerten kann, hat etwa Ralf Elger mehrmals gezeigt.2 Eine ähnliche Bearbeitung hätte man sich hier ebenfalls gewünscht.
Wie steht es nun um die Qualität des tatsächlich übersetzten Textbestandes? Die Übersetzung ist durchweg ungenau oder fehlerhaft. Oft finden sich Anachronismen. So erstaunt es, wenn Ibn al-Tayyib „Egypt“ verlässt, nur um wenige Zeilen weiter in einem heutigen Vorort von Kairo sein Nachtlager aufzuschlagen (S. 116). Misr, der Name des modernen Staates Ägypten, bezeichnete früher nämlich meist nicht mehr als die Metropole Kairo. Notabeln heißen in der Übersetzung auch schon einmal „VIPs“ (S. 61), Franken werden zu Franzosen (S. 41) und Emire werden durchweg zu einem „prince“, auch wenn dies die hier vollkommen verkehrte Bedeutung der erblichen Nobilität heraufbeschwört. Es wird auf jeder Seite greifbar, dass die Übersetzer keine historischen Kenntnisse der Epoche besitzen.
Dass das Übersetzer-Triumvirat aus arabischsprachigen Arabisch-Lektoren besteht, lässt das teilweise oberflächliche Verständnis des Textes nur noch unbegreiflicher erscheinen. Dem sauberen Kopisten der Handschrift sind schwere Verlesungen von ihrer Seite kaum anzulasten (zum Beispiel al-Bakuri zu al-Khuri, „Priester“, S. 24). Sprachlich strapaziert das Buch den Leser ohnehin zu sehr, und hier stellt sich besonders dringlich die Frage, für welche Arbeit der Verlag eigentlich meint, 60 britische Pfund zu verdienen. Formale Nachlässigkeiten durchziehen das gesamte Buch. Die Umschrift ist nicht nur oft falsch, besonders bei Eigennamen (Zabidi wird zu Zubaydi, Suyuti zu Sayyuti etc.), sie ist noch nicht einmal in sich stimmig. In kaum einem Abschnitt wird man den gleichen Ort zwei Mal auf dieselbe Weise widergegeben finden. Wenn, wie betont wird, Ibn al-Tayyibs Informationen über Gelehrte so wichtig sein sollen – was tatsächlich kaum der Fall ist –, wäre ein Namenindex, in einem Reisebericht aber zumindest ein geographischer Index angebracht gewesen. Bei den vielen Verlesungen wäre dessen Nutzen jedoch sowieso sehr eingeschränkt. Geographisch Interessierte dürfen sich aber weiterhin getrost dem den Übersetzern unbekannten Aufsatz Gustav Flügels zuwenden.3
Es wird nach dem Gesagten nicht überraschen, wenn auch der lange „Commentary“ nicht überzeugen kann. Es gibt aber immerhin das Bemühen, dem Leser eine literarische und historische Einordnung des Textes und seines Autors an die Hand zu geben, freilich ohne Rekurs auf relevante Literatur. Einzig die Bibliographie des Autors ist als Zusammenstellung brauchbar. Die Biographie hingegen ist ohne eine der wichtigsten Quellen geschrieben.4 Lobenswert ist immerhin der Versuch, auf die bekannten Vorbesitzer der Handschrift einzugehen, deren Identifizierung dem Text die Dimension seiner sonst unbekannten Rezeptionsgeschichte hätte geben können. Dass keiner der erhaltenen Besitzeinträge richtig entziffert wurde, liegt teilweise an deren fragmentarischem Zustand. Korrekte Analysen sind aber im Rahmen des seit 2008 laufenden Leipziger Refaiya-Projekt im Internet publiziert.5
Dort ist auch die Handschrift verfügbar, die Arabisten konsultieren sollten. Alle des Arabischen nicht Mächtigen können sich damit trösten, dass ihnen hier nicht die von den Übersetzern angepriesene literarische Entdeckung entgangen ist.
Anmerkungen:
1 Richard Blackburn (Übers.), Journey to the Sublime Porte. The Arabic Memoir of a Sharifian Agent’s Diplomatic Mission to the Ottoman Imperial Court in the Era of Suleyman the Magnificent. The relevant text from Qutb al-Din al-Nahrawali’s al-Fawa’id al-saniyah fi al-rihla al-madaniyah wa al-rumiyah, Würzburg 2005.
2 Siehe zuletzt Ralf Elger, Glaube, Skepsis, Poesie. Arabische Istanbul-Reisende im 16. und 17. Jahrhundert, Würzburg 2011.
3 Gustav Flügel, Zwei Reisewerke der Refaîja auf der Universitätsbibliothek Leipzig, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft XVIII, 1864, S. 537-569.
4 Muhammad Khalil al-Muradi, Silk ad-Durar, ed. Muhammad Abd al-Qadir Shahin. Bd. IV, Beirut 1997, S. 105-108.
5 <http://www.refaiya.uni-leipzig.de/receive/RefaiyaBook_islamhs_00002509> (03.02.2012).