Lange Zeit als ein Randthema betrachtet, hat sich die historische Suizidforschung in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich als ein eigenständiges Feld innerhalb der historisch-kulturwissenschaftlichen Forschung etabliert. Alexander Kästner – so viel kann hier schon vorweggenommen werden – leistet mit der vorliegenden Studie, die als Dissertation von der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Dresden approbiert wurde, einen wichtigen Beitrag zu diesem sich rasch entwickelnden Forschungsfeld.
Kästner schreibt eine Geschichte der Selbsttötung im Kursachsen der Frühen Neuzeit. Der zeitliche Rahmen ist weit gesteckt und erstreckt sich von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zum Wiener Kongress, allerdings mit einer deutlichen Schwerpunktsetzung auf das 18. Jahrhundert. Damit gerät eine Periode in den Blick, die in der historischen Suizidforschung oft als ein Wendepunkt angesehen wird. Im Verlauf der Frühen Neuzeit, so der Tenor, habe sich ein grundlegender Wandel im Umgang mit Selbsttötung vollzogen. Die Verdammung des Suizids sei einem verständnisvolleren Umgang gewichen, Kriminalisierung und Stigmatisierung seien durch die Aufklärung zunehmend von einem Prozess der Medikalisierung abgelöst worden. Kästner will diesem Fortschrittsnarrativ nicht folgen und stellt in seiner Studie die Frage aufs Neue: Wie hat sich der Umgang mit Selbsttötungen im Verlauf der Frühen Neuzeit verändert (S. 3)? Darüber hinaus geht es ihm auch darum, den praktischen Umgang mit Suizident/innen an die in diesem Kontext erlassenen Normen bzw. deren Durchsetzung und Umsetzung im Alltag rückzukoppeln. Integriert in diese übergreifende Fragestellung sind in seiner Untersuchung aber auch viele spannende Partikularfragen, die den Umgang mit Suizident/innen in der lebensweltlichen Praxis beleuchten.
Wie der Titel „Tödliche Geschichte(n)“ bereits suggeriert, ist es keine geradlinige, monokausale Geschichte der Selbsttötung, die Kästner hier vorlegt. Vielmehr verweist er auf die Mehrdeutigkeiten, Verzweigungen und mitunter Widersprüche, die er aus den verwendeten Quellen herausfiltert. Kästner wertete für seine Studie ein beachtliches Quantum an ungedruckten Quellen aus, die in erster Linie in der landesherrlichen Zentraladministration überliefert sind. Darunter befinden sich Materialien, die zum ersten Mal für die historische Suizidforschung fruchtbar gemacht wurden. Die Ebene der niederen Gerichtsbarkeit wurde hingegen kaum berücksichtigt.
Teil A der in drei Abschnitte gegliederten Studie ist quellenkritischen und methodischen Überlegungen gewidmet. Indem Kästner die schematische Verfahrensweise nach Selbsttötungen in Kursachsen sowie die involvierten Akteure und Akteurinnen vorstellt, geht er auf die Besonderheiten der in diesem Kontext produzierten Quellen ein. Trotz – oder gerade aufgrund – der ihm zur Verfügung stehenden, umfassenden Quellen betont Kästner immer wieder die Grenzen von deren Interpretationsmöglichkeit. Er warnt vor vereinfachenden, monokausalen Erklärungsansätzen und plädiert dafür, alternative Deutungen mitzudenken. „Die historische Erzählung sollte da keine Eindeutigkeiten suggerieren, wo Mehrdeutigkeiten oder Unwägbarkeiten die Quellen prägen.“ (S. 54) Kästner bietet Deutungsangebote, keine Diagnosen (S. 53). In diesem Sinn grenzt er sich deutlich von einer retrospektiven, psychohistorischen Interpretation ab und reflektiert sehr genau darüber, welche Fragen anhand der Quellen beantwortet werden können und welche Annahmen einer genaueren Betrachtung nicht standhalten.
Der zweite und dritte Teil der Studie sind sowohl thematisch als auch chronologisch untergliedert. Teil B rückt, mit einem zeitlichen Fokus auf das 16. und 17. Jahrhundert, die Frage nach den normativen Bestimmungen und Zuständigkeiten für das Delikt Suizid ins Zentrum. Mit Martin Luther und Benedict Carpzov geraten dabei zwei herausragende Persönlichkeiten in den Blick, deren Positionen weit über Kursachsen hinaus für den Umgang mit Suizident/innen von Bedeutung waren.
Kästner zeigt, dass es in Kursachsen bis zu Beginn des 18. Jahrhunderts keine territorialen Gesetze gab, die das Verfahren nach einem Suizid bzw. die rechtlichen Konsequenzen geregelt hätten. Kompetenzstreitigkeiten zwischen weltlichen und kirchlichen Obrigkeiten und eine generelle Unsicherheit im Umgang mit Suizidfällen waren die Folge. Geregelt wurden Suizidfälle indem man sich auf spezifische kurfürstliche Schreiben, die theologische Responsenliteratur oder die strafrechtlichen Kompendien von Benedict Carpzov berief. Basierend auf diesen Texten, die durchaus normativen Anspruch hatten und nicht selten auf Einzelfälle zurückgingen, wurde unter Beachtung der individuellen Begleitumstände entschieden, wobei vor allem der Kategorie „Lebenswandel“ ein hoher Stellenwert zukam. Kästner betont, dass diese flexible Strafzumessung, die bei der Begräbnis- und Sanktionspraxis einen beachtlichen Spielraum bedeutete, nicht als ein Gegensatz von Norm und Praxis zu sehen ist, sondern als ein integrativer Teil der frühneuzeitlichen Jurisdiktion. Daraus ergibt sich für ihn aber auch, dass es keine einheitliche Verurteilung aller „Selbstmörder“ gab, sondern von Einzelfall zu Einzelfall entschieden wurde. Das Strafspektrum war breit gestreut und reichte von einem stillen Begräbnis auf dem Kirchhof bis zu schändlichen „Hundsbegräbnissen“ außerhalb des Friedhofs.
Der dritte Teil bildet das Hauptstück der Arbeit und beschäftigt sich mit der Implementierung von Normen zum Suizid im 18. Jahrhundert. Hier gelingt es Kästner, den Suiziddiskurs mit medizinalpoliceylichen Aspekten, den Themenbereichen Anatomie, Lebensrettung und Fürsorge zu verknüpfen. Dieser Abschnitt ist es auch, in dem Kästner am überzeugendsten argumentiert und die historische Suizidforschung um wichtige neue Erkenntnisse zu ergänzen vermag. Neben der schändlichen Behandlung durch den Scharfrichter und einer stillen Beisetzung auf dem Friedhof gerät im 18. Jahrhundert mit der Ablieferung von „desparaten Selbstmördern“ an die anatomischen Theater eine weitere Option in den Blick, wie mit den Leichen von Suizident/innen verfahren werden konnte. Mit einem Register der Dresdner Anatomie, das die von 1754–1817 abgegebenen Leichen verzeichnet, kann Kästner zudem eine bisher unbeachtete Quelle auftun. Auch wenn Kästner in der anatomischen Sektion nicht per se einen allgemeinen Strafanspruch verwirklicht sieht, gibt er zu bedenken, dass in weiten Teilen der Bevölkerung die Abgabe von Suizident/innen an die Anatomie dennoch Strafcharakter hatte. Ebenfalls im Kontext medizinalpoliceylicher Bemühungen verortet Kästner das im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zunehmende Einschreiten bei Unglücksfällen und Suizidversuchen. Die Verpflichtung zur Lebensrettung stellte gerade in Bezug auf Selbsttötung einen wichtigen Perspektivenwechsel dar. Sollte früher der „Tatort“ nicht verändert werden bzw. bestanden – nicht selten aufgrund magischer Vorstellungen – Abscheu und Widerwille, Suizident/innen zu berühren, sollten die Zeitgenossen nun aktiv einschreiten und retten. Suizid, so Kästners Folgerung, wurde fortan nicht mehr ausschließlich als ein kirchen- und strafrechtliches Problem angesehen, sondern als gesellschaftliches Problem, das auch eine gesellschaftliche Reaktion erforderte.
Im letzten Kapitel zeigt Kästner anhand eines 1779 erlassenen „Selbstmordmandats“ noch einmal eindrücklich, dass auch gegen Ende des 18. Jahrhunderts von einer generellen Entkriminalisierung des Suizids nicht die Rede sein kann. Vielmehr wurde eine bereits seit dem 16. Jahrhundert bestehende Praxis verfestigt, indem weiterhin entlang der Kategorien Lebenswandel, Geisteszustand, Grad der Vorsätzlichkeit und sozialem Status entschieden wurde. Kästner beobachtet, dass der Fürsorge suizidaler Individuen gegen Ende der Untersuchungsperiode ein höherer Stellenwert zukam und stille Beisetzungen häufiger wurden. Gleichzeitig gibt er zu bedenken, dass unehrliche Begräbnisse allein deshalb seltener vorkamen, weil die Körper jener, die davon in erster Linie betroffen waren, häufig an die Anatomie abgeführt wurden. In Kursachsen blieb Suizid bis ins 19. Jahrhundert kriminalisiert.
Alexander Kästner weist die These, wonach es im Verlauf der Frühen Neuzeit zu einer sukzessiven Entkriminalisierung der Selbsttötung gekommen wäre, somit klar zurück. In den untersuchten Normen sieht er primär einen formalen Wandel, der dazu diente die administrativen Abläufe nach Selbsttötungen zu präzisieren und Kompetenzstreitigkeiten zwischen kirchlichen und weltlichen Gerichten zu regeln. Zwar wurde Suizid im 18. Jahrhundert zunehmend Gegenstand medizinalpoliceylicher Überlegungen und rückte verstärkt ins Zentrum gesellschaftlicher Aufmerksamkeit, dies bedeutete allerdings keinen Einstellungswandel gegenüber Suizid.
Mit „Tödliche Geschichte(n)“ hat Alexander Kästner eine bemerkenswerte Studie vorgelegt. Bestechend ist nicht nur die Fülle an Quellenmaterial, die er dafür auswertete, sondern auch die methodische Sorgfalt seiner Analyse. Die gewählte Vorgehensweise, bestimmte Teilfragen an einem spezifischen Quellenkorpus zu erarbeiten, erscheint aufgrund der Quellenlage sinnvoll. Die Summe der einzelnen Teile ergibt am Ende ein konzises Bild. Bedauerlich ist lediglich, dass Kästner auf eine systematische Beachtung von genderspezifischen Aspekten verzichtet. Merkwürdig mutet mitunter an, dass er dänische oder schwedische Zitate nicht übersetzt. Ansonsten ist das Buch jedoch sehr leser/innenfreundlich konzipiert. Der umfangreiche Anhang ermöglicht es den Leser/innen, sich selbst ein Bild von einigen wichtigen Quellen zu machen. Ein Register erlaubt zudem einen schnellen Zugriff auf bestimmte Themenbereiche. Begrüßenswert ist außerdem, dass jedes Kapitel über eine kurze Zusammenfassung verfügt.