Die Reformation in den Reichsstädten gehört zu den beliebtesten Themen der Reformationsgeschichtsforschung. Die Stadt Augsburg bietet hier, nicht zuletzt dank der guten Überlieferungslage, schon seit Jahrzehnten einen besonders geeigneten Untersuchungsgegenstand für unterschiedliche Fragestellungen. Mit dem Ziel, die „Vielfalt der Strukturen“ und „die Kontingenz der Geschehnisse“ (S. 49) zu untersuchen, beleuchtet der vorliegende Sammelband die Augsburger Reformation eine Ebene unter den traditionellen Kategorien von Rats- und Gemeindereformation: Er nimmt die einzelnen Kirchengemeinden in den Blick und beleuchtet die „materiellen und räumlichen Verwirklichungen, Verwurzelungen und Verkörperungen“ der Reformation im mittelalterlichen Kirchenwesen (S. 13).
Ein solches Vorhaben erscheint im Zuge der kulturgeschichtlichen Neuorientierung der Reformationsforschung der letzten Jahrzehnte unmittelbar einleuchtend, umso mehr verwundert jedoch die Einschätzung der Herausgeber, die Frühneuzeitforschung habe das Christentum bislang nur aus der Perspektive kanonisierter Texte betrachtet, während die Mediävistik sich mit Akteuren und Praktiken beschäftigte (S. 13). Denn nicht nur die „kulturelle Reformation“1, sondern auch der Ansatz, die Reformation vom Mittelalter aus zu denken, wurde in der Reformationsforschung bereits breit diskutiert.2 So fügt sich der Band eher in einen bereits vorhandenen Forschungskontext ein und leistet dazu mit der vergleichenden Perspektive auf die Augsburger Gemeinden einen interessanten Beitrag.
Acht Gemeinden sowie die Täufer als „Kirche ohne Gemeinde“ werden untersucht. Dies geschieht jeweils durch eine sorgfältige Auswertung von Inventaren, Rechnungsbüchern und anderen Quellen der Pfarreien, die jenseits normativer Kirchenordnungen Schlüsse auf die Praxis zulassen. Durch diese Perspektive treten auch neue Akteure in den Vordergrund: Eine Schlüsselrolle kam den so genannten Zechpflegern zu, die von den Klöstern und Stiften zunächst als Verwalter eingesetzt worden waren, jedoch schon im späten Mittelalter als Vertreter der Pfarrgemeinden agierten und das Bindeglied zur reformatorischen Gemeinde bildeten. Den Aufsätzen vorangestellt sind eine konzeptionelle Einführung Lee Palmer Wandels und eine kurze ereignisgeschichtliche Zusammenfassung Rolf Kießlings. Den Forschungsstand resümierend bietet letztere eine hilfreiche Periodisierung anhand der großen (reichs-)politischen Ereignisse, die in den folgenden Beiträgen wieder aufgegriffen wird. Dies bringt zwar eine gewisse Einförmigkeit der Darstellungen mit sich, erleichtert jedoch den allgemeinen Überblick und den Vergleich der Gemeinden untereinander. Mit einer Benediktinerabtei, einem Augustinerchorherrenstift, mehreren Kollegiatstiften, einem Franziskaner-, einem Dominikaner- und einem Karmeliterkloster fanden, so zeigt Lee Palmer Wandel, bereits im mittelalterlichen Augsburg sehr unterschiedliche Formen religiösen Lebens neben- und miteinander statt. Gegenüber dieser sakralen Vielfalt sei die reformationsgeschichtliche Forschung stets von einer „katholischen Einheit der spätmittelalterlichen Stadt“ ausgegangen und habe die besonderen Identitäten der verschiedenen Orden und Stiftungen und deren Einbindung in die städtischen Wirtschafts- und Herrschaftsverhältnisse kaum beachtet (S. 25). Gegen diese Einschätzung wäre etwa auf die Arbeiten Berndt Hamms zu Nürnberg zu verweisen.3
Anschließend an diese Grundannahme betonen mehrere Beiträge in Abgrenzung zu Bernd Moellers Beschreibung der reformatorischen Stadt als „Corpus Christianum im Kleinen“ die Unterschiede in der Entwicklung in den einzelnen Gemeinden. Thomas Max Safley vergleicht so die Augsburger Gemeinden Zu den Barfüßern und bei St. Georg, Rolf Kießling untersucht mit St. Moritz und St. Anna zwei Hauptkirchen, die schließlich zu einer Doppelkirche der bikonfessionellen Stadt wurden. Beide betonen den Einfluss der sozialen Verortung der Gemeinde und ihrer Lage in der Stadt, sowie den Einfluss einzelner Prediger. Während die Reformation in der Barfüßergemeinde im wohlhabenden Handwerkerviertel an eine Tradition von Bußpredigern anknüpfen konnte, war sie im Armenviertel um das Stift St. Georg eng mit der Person des Predigers Schilling verbunden, der durch seine soziale Auslegung des Evangeliums beliebt war. Für St. Anna und St. Moritz als Begräbnis- und als Pfarrkirche ist hingegen ein starker Einfluss der städtischen Oberschicht der ratsfähigen Bürger und reichen Kaufleute festzustellen. Nach der Rückkehr des Klerus in das Stift St. Moritz zog die Gemeinde in die evangelisch verbleibende Kirche St. Anna um, die so zu einer der evangelischen Hauptkirchen Augsburgs wurde. Die Entstehung einer Doppelgemeinde, nämlich St. Ulrich und Afra, untersucht Stefanie Armer, die den Einfluss der Zeche stark betont. Diese gab der Gemeinde schon früh große Unabhängigkeit, etwa durch den Bau eines Predigthauses im 15. Jahrhundert. Im Gegensatz zu St. Moritz konnte man sich hier nach der Rückkehr des katholischen Klerus in das Predigerhaus zurückziehen und die Kirche bestand fortan als Doppelkirche. Armer hebt die wichtige Rolle der Zechpfleger für das Fortbestehen der Gemeinde hervor, die auch nach ihrer Absetzung im Zuge des Interims weiterhin Suppliken verfassten und als Ansprechpartner der Gemeinde agierten. Ganz anders verlief die Reformation in der von Emily Fisher Gray untersuchten St. Ottmarskapelle zum Heiligen Kreuz. Die ursprüngliche Nebenkapelle der Augustinerchorherren wurde bereits 1526 von einer Gruppe reformatorisch Gesinnter als Ort des evangelischen Gottesdienstes übernommen, die ihren Prediger aus Spenden finanzierte. Bindeglied zur alten Ordnung war auch hier der Zechpfleger, der schon unter den Augustinerchorherrn die Kapelle verwaltet hatte. Die Identität der evangelischen Gemeinde war eng mit der St. Ottmarskapelle verbunden, so dass die Gemeinde auch nach dem Auszug des katholischen Klerus nicht in die größere und besser ausgestattete Stiftskirche umziehen wollte.
Mit dem Dom und St. Stefan untersucht Dietmar Schiersner die „gescheiterte Reformation“ zweier Institutionen, deren Verankerung in der städtischen Identität aufgrund der starken Abhängigkeit von Bischof und Domkapitel schon im Mittelalter eher gering war. In St. Stefan entwickelte die Pfarrgemeinde zwar zeitweise ein eigenes Selbstbewusstsein, mit dem sie sich gegenüber den Stiftsdamen durchsetze. In beiden Kirchen „scheiterte“ die Reformation jedoch mit dem Interim, was Schiersner mit der geringen Bedeutung der Kirchen für die städtische Identität und der Rücksichtnahme auf den Bischof begründet. Eine „Gemeinde ohne Kirche“ untersucht schließlich Michelle Zelinsky Hanson mit den Augsburger Täufern. Deren Organisationsweise ohne feste Verwaltungsstrukturen war eng mit ihren zentralen Prinzipien verbunden, die innere Spiritualität höher bewerteten als äußere Zeremonien. Trotz fehlender äußerer Strukturen gelang es den Täufern zeitweise, eine „spirituelle Gemeinde“ zu gründen, die sich in privaten Wohnungen und im Freien versammelte und eigene Vorsteher wählte. Unter der Verfolgung durch die Obrigkeit schrumpfte die Gemeinde jedoch ab 1528 schnell und konnte sich nicht dauerhaft halten.
In einem ausführlichen Fazit halten die Herausgeber schließlich einige Neubewertungen der Augsburger Reformation fest und stellen etwa die Abfolge von Gemeinde- und Ratsreformation durch die auch in späterer Zeit wichtige Rolle der Gemeinde in Frage. Auch die Chronologie der Ereignisse wird einer Neubetrachtung unterzogen: Aus Sicht der Augsburger Gemeinden war die Reformation bereits 1526 etabliert, während der Reichstag von 1530 kaum einen Einschnitt bildete. Die Reformation des Rates von 1534/37 bildete so nur eine Bestätigung der bereits vorhandenen Gemeinden. Deren 1548 und 1555 erfolgte Infragestellung rief daher erheblichen Widerstand hervor und führte zum Untergang der weniger stabilen, wie dem Dom und St. Stefan. Auch später, etwa im Vokationsstreit 1582 und im Dreißigjährigen Krieg, widersetzten sich die Gemeinden und verteidigten ihre Autonomie. Die Kraft, solche Krisen zu überwinden, schöpften sie, so der Schluss der Herausgeber, aus ihrer lokalen Verwurzelung und Identität. Die Tradition der lokalen religiösen Vielfalt habe schließlich auch den Weg in die Bikonfessionalität ermöglicht. Der Sammelband zeichnet so insgesamt für alle Phasen der Augsburger Reformation ein anschauliches Bild der Verhältnisse in den Pfarreien, das zahlreiche bislang unbekannte Details der liturgischen Praxis enthält. Vergleichend betrachtet machen die Beiträge darüber hinaus die Vielfalt der Entwicklungslinien und -möglichkeiten der Reformation deutlich, die sowohl durch die Strukturen der Stadtviertel wie auch das Handeln der Prediger, Zechpfleger und Gemeinden geprägt waren.
Anmerkungen:
1 Vgl. etwa Bernhard Jussen / Craig Koslofsky (Hrsg.), Kulturelle Reformation. Sinnformationen im Umbruch (1400–1700), Göttingen 1999, sowie die Arbeiten Robert W. Scribners.
2 Unterschiedliche Positionen resümiert etwa: Thomas A. Brady (Hrsg.), Die deutsche Reformation zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit, München 2001.
3 Zusammenfassend: Berndt Hamm, Bürgertum und Glaube. Konturen der städtischen Reformation, Göttingen 1996.