„The Quest for Mental Health“, das ist für den kanadischen Historiker Ian Dowbiggin zugleich eine Erfolgsgeschichte und eine Geschichte des Scheiterns: Einerseits betrachtet er die Gegenwart als Höhepunkt eines seit zwei Jahrhunderten stetig mehr Lebensbereiche umfassenden Strebens nach psychischer Gesundheit. Andererseits konstatiert er das weitgehende Ausbleiben dieser Gesundheit, bei zunehmender Prägung der Selbstdeutungen der Menschen durch den psychomedizinischen Diskurs und damit einhergehenden hohen ökonomischen Kosten für die jeweiligen Gesellschaften. Was auf den ersten Blick als klassische Medikalisierungsthese daherkommt, ist bei näherem Hinsehen anders gelagert. Dowbiggin geht es darum, dass man „The Quest for Mental Health“ nicht als Kolonisierung der Lebenswelt durch Staat und Experten sehen solle, sondern dass das psychomedizinische Wissen auch seitens der „Betroffenen“ adaptiert, in Erwartungshaltungen umgemünzt sowie in den politischen und medizinischen Diskurs wiedereingespeist werde.
Der Autor durchschreitet seinen Untersuchungszeitraum – die Jahre von circa 1800 bis heute – chronologisch und episodenhaft; er befasst sich mit so heterogenen Themen wie der Entstehung des modernen Asyls, dem Degenerations- und dem Neurastheniediskurs der Jahrhundertwende, der Psychoanalysebewegung des 20. Jahrhunderts, der pharmakologischen Revolution der Nachkriegszeit und den „Memory Wars“ um Traumatisierungen durch sexuellen Missbrauch in den 1990er-Jahren. Die Teilkapitel können hier nicht im Einzelnen zusammengefasst werden, zumal das, was in der Danksagung als Kulmination jahrelanger Beschäftigung mit dem Thema präsentiert wird, eher ein eklektisches Kondensat der Forschungsliteratur ohne eigene Archivarbeit darstellt. Das Buch wirkt streckenweise wie eine Einführung in die Geschichte der Ideen und Institutionen der „Psy“-Wissenschaften, wobei meist Einzelpersonen im Zentrum stehen – etwa Johann Peter Frank, Dorothea Dix oder Sigmund Freud.
Innovativ ist an Dowbiggins Darstellung, dass sie sich oft an die Basis der beschriebenen Diskurse und Praktiken begibt, etwa wenn es um die Zusammenarbeit von Familien und Ärzten in den Asylen des 19. Jahrhunderts geht oder um die Nachfrage von Patienten nach Lobotomien im 20. Jahrhundert (Hirnoperationen gegen starke Schmerzen oder psychische Erkrankungen, mit der Folge von Persönlichkeitsveränderungen). Allerdings läuft diese Beweisführung auf die These hinaus, „Mental Health“ habe sich seit der Aufklärung zum Gegenstand von Anspruchshaltungen einer wachsenden Zahl von Menschen entwickelt. Daran überzeugt zwar zunächst, dass keine Bösewichte präsentiert werden, doch lassen sich nicht alle Teilkapitel sinnvoll auf die These beziehen – auch weil unter „Mental Health“ zu viel subsumiert wird. Unterscheiden sich der Mesmerismus des 18. und die Elektroschocktherapie der Mitte des 20. Jahrhunderts, das „Family Counceling“ und der Benzodiazepin-Einsatz in den 1960er-Jahren nicht zu sehr, um sie als Ausdruck eines übergreifenden „Quest for Mental Health“ zu betrachten? Und belegen Phänomene wie der Spiritualismus des Fin de siècle oder der eugenische Diskurs um erbliche Geisteskrankheit wirklich die These vom Anspruch auf individuelles emotionales Heil? Eigenartig ahistorisch-generalisierend ist auch Dowbiggins Begriffsverwendung: So gab es aus seiner Sicht schon im 18. Jahrhundert „Psychologen“ (S. 28). Begriffe wie „Antipsychiatrie“ oder „Therapeutic State“ beziehen sich mal auf den ganzen Untersuchungszeitraum, mal auf bestimmte Zeitabschnitte im 20. Jahrhundert.
Ohne durchweg Absicht unterstellen zu wollen, so erwecken derartige begriffliche und konzeptionelle Rückverlängerungen den Eindruck, dass hier letztlich der „New Egalitarianism“ (so der Titel des ersten Großkapitels) der westlichen Gesellschaften ab Ende des 18. Jahrhunderts in Gänze für die Dominanz des psychomedizinischen Diskurses in der Gegenwart in Haftung genommen werden soll. Dazu passt, dass Dowbiggin anfangs Beispiele aus verschiedenen Regionen einbezieht – aus Großbritannien, Frankreich und den deutschsprachigen Gebieten –, sich in den Abschnitten zum späten 20. Jahrhundert aber auf kanadische und US-Entwicklungen konzentriert, was der Argumentation eine politische Note verleiht.1 Letztlich wirft Dowbiggin Regierungen und Wissenschaftlern, Unternehmen und einer manipulationsanfälligen Öffentlichkeit vor, sie befänden sich in einem populistischen Überbietungswettbewerb, der von den Massenmedien noch beschleunigt werde: Durch Verbreitung immer neuer Theorien zum Ursprung psychischen Leids und zu dessen Heilbarkeit entstehe kontinuierlich Interventionsbedarf. Was die Ursachen dieser Entwicklung anbelangt, schwankt Dowbiggin zwischen einer Abkömmlichkeitsthese („natürliche“ emotionale Lagen werden erst bei geringer materieller Not zum Thema und damit zur „Medical Condition“) und der Kopplung des „Mental Health“-Versprechens an die innerweltliche Heilserwartung der Menschen in den überwiegend säkularen Massendemokratien.
Nun ist es nichts Neues, auf den Konstruktionscharakter psychischer Erkrankungen hinzuweisen. Es überrascht aber, dass Dowbiggin den von derart historisierbaren Zuständen betroffenen Personen zwar nicht den Leidensdruck abspricht, wohl aber ihren Anspruch auf Freiheit von bestimmten „age old feelings“ (S. 59) und „emotional condition[s] as old as time itself“ (S. 170) ablehnt. Er empfiehlt demgegenüber Tugenden wie „self-reliance and emotional toughness“ (S. 192). Man fragt sich, von welchem (außermedizinischen?) Standpunkt aus er zu seiner Differenzierung zwischen tatsächlich Kranken und jenen Menschen kommt, die sich zusammenreißen und ihre Opferrolle aufgeben sollen. Zynisch mutet es an, wenn die Ausweitung der Diagnose „Posttraumatische Belastungsstörung“ von Vietnamveteranen auf Vergewaltigungsopfer unter der Überschrift „Milking the System“ abgehandelt und sogar zum Ausdruck einer „politics of reimbursement“ hochgerechnet wird (S. 189), die darin bestehe, dass bestimmte Interessengruppen den Individuen ständig neue Leidenskategorien zur Identifikation anböten, um den chronisch legitimierungsbedürftigen Wohlfahrtstaat zu schröpfen.
In seiner Behauptung, dass der Anspruch auf psychisches Wohlbefinden unangemessen sei, blendet Dowbiggin aus, dass sich dieser Anspruch auch als verinnerlichte Forderung an die Individuen interpretieren lässt. So übergeht er die von Nikolas Rose angestoßene Forschung, die die Bedeutung der „Psy“-Wissenschaften gerade der letzten Jahrzehnte als Faktor der Fokussierung aufs Subjekt als Garant seines eigenen Glücks analysiert – und damit als Korrelat des (neo)liberalen Kults der Eigenverantwortung. Gleiches gilt für Arbeiten Alain Ehrenbergs zum „erschöpften Selbst“, zur Depression als Kulturkrankheit des Gegenwartskapitalismus.2 Dowbiggin verschließt sich der Frage, inwiefern „The Quest for Mental Health“ nicht just die Kehrseite jenes Imperativs „Toughen up!“ ist, den er selbst formuliert. Das erklärt vielleicht, warum der wichtigste Vordenker der Forschung zum psychomedizinischen Komplex, Michel Foucault, nur in einer Passage zu den antipsychiatrischen Diskursen im Frankreich der 1960er-Jahre auftaucht – Diskurse, die Dowbiggin übrigens mit der Gewaltsamkeit der Protestkultur dieser Zeit in Verbindung bringt.
An dieser Stelle kommt der Rezensent nicht umhin zu erwähnen, dass Dowbiggin dem politischen Katholizismus zuzuordnen ist, dass er sich gegen Abtreibungen ausgesprochen und die vermeintliche Mediendominanz von Homosexuellenverbänden als Problem bezeichnet hat.3 Dazu passt, dass Würdigungen auf dem Umschlag des Buchs etwa von Theodore Dalrymple stammen – einem konservativen Kritiker der wohlfahrtsstaatlichen „Dependenzkultur“ – oder von der Psychologin Sally Satel, die die „politisch korrekte“ Annahme vom Zusammenhang zwischen Krankheit und sozialer Lage als „Mythos“ angegriffen hat. Für diese Autoren sind Gesundheitssysteme Ausdruck eines linksliberalen Selbstbetrugs, eines Unwillens der Eliten, die Massen zur Eigenverantwortung zu erziehen und zur Bereitschaft, ein gewisses Maß an Leid schlicht zu ertragen. Man mag von solchen Überzeugungen halten, was man will. Angesichts der Tatsache aber, dass Ian Dowbiggins Buch nicht auf intensiver Quellenarbeit beruht, dass es inkonsequent argumentiert und Teile der Forschung unberücksichtigt lässt, kann es nicht als ausgewogene Darstellung der Geschichte des Strebens nach „Mental Health“ empfohlen werden. So bleiben interessante Aspekte der Historisierung therapeutischer Leistungen insbesondere des 20. Jahrhunderts – etwa deren Bedeutung als Konsumgüter oder für Praktiken der Subjektivierung durch Beratung – weiterhin auf der Forschungsagenda.
Anmerkungen:
1 Dowbiggin nennt als Motiv des Buches sein Interesse an der Frage, wie innerhalb seiner eigenen Lebensspanne jene „Culture of Therapism“ entstehen konnte, die noch die kleinsten emotionalen Herausforderungen des Alltags pathologisiere. Siehe <http://www.cambridge.org/us/knowledge/features/featureitem/item6633275/?site_locale=en_US> (1.3.2012).
2 Vgl. Nikolas Rose, Governing the Soul. The Shaping of the Private Self, London 1990; Alain Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt am Main 2004; zuletzt auch Christoph Menke / Juliane Rebentisch (Hrsg.), Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, Berlin 2011.
3 Ian Dowbiggin, Why is Anti-Catholicism Tolerated?, in: Globe & Mail, 24.4.1995, online unter <http://www.catholiceducation.org/articles/media/me0002.html> (1.3.2012).