Zu Beginn des ersten Kapitels des Buches ziehen die Autoren Walter Benjamins berühmten „Engel der Geschichte" für eine Problematisierung der historiografischen Methodik heran: Auf einen „Trümmerhaufen" historischer Rupturen zurückblickend sieht er sich durch den „Fortschritt" unaufhaltsam in die Zukunft getrieben (S. 11ff.). Besonders sinnfällig wird dieses Bild in seiner Applikation auf die medienwissenschaftliche Geschichtsschreibung des letzten Jahrzehnts, welche fast schon konstitutiv die Wahrnehmung von revolutionären Umbrüchen mit dem Empfinden eines evolutionären Fortschritts kontrastiert hat. An diese Unterscheidung knüpft sich laut Matthias Bickenbach die Frage, „wie die Geschichte der Medien erzählt wird und wie sie angemessen erzählt werden kann“ und mithin die „Frage nach der Form von Mediengeschichte."1
Diesem Aspekt widmet sich auch die vorliegende Publikation, die ein Ergebnis der Arbeitsgruppe „Theorie der Medienumbrüche" des Forschungskollegs 615 „Medienumbrüche" der Deutschen Forschungsgesellschaft (DFG) an der Universität Siegen darstellt. Dezidiert verstanden als „Diskussionsbeitrag zur medienhistoriografischen Methodik" (S. 7) beschreibt sie ein Modell, um „die Umbrüche, die mit dem Auftreten neuer Medien verbunden werden, jenseits von Evolutionismus und Revolutionismus beschreiben zu können" (ebd.). Entwickelt wird das Modell vornehmlich in Anwendung auf die Medienumbrüche um 1900 und um 2000, sodass – zumindest implizit – auch eine Strukturbeschreibung der modernen Mediengeschichte geleistet wird.
Eingangs befassen sich die Autoren/innen mit der Kritik vorgängiger Varianten von (Medien-) Geschichtsschreibung, wobei drei Grundlagen der eigenen Modellbildung besonders hervorgehoben werden: eine an Michel Foucault orientierte Diskursgeschichte der Medien, die von Friedrich Kittler inspirierte „Medienarchäologie" und Reinhart Kosellecks Konzept der „Sattelzeit". Die Relevanz dieser Ansätze liegt plausiblerweise in ihrer dialektischen Positionierung zur skizzierten Problemstellung: „Denn alle gehen für die Historie nicht allein von Phasen des Bruchs oder Umbruchs aus, sondern führen die darin vorliegenden Wirkungen auf ein Geflecht primär ineinandergreifender Strebungen zurück, das den Ursprung als das eindeutige Ereignis immer auch in Zweifel zieht." (S. 26)
Diese grundlegende Perspektive wird nunmehr übersetzt in das – wohl bewusst irritierend titulierte – „Tsunami-Modell." Kern jener Analogsetzung mit der Naturmetapher sind dabei weniger die zerstörerischen Auswirkungen, sondern vielmehr die Hervorhebung der Strukturen und Prozesse medienhistorischer Entwicklung. Dieser Analogie folgend, finden mediengeschichtliche „Emergenzereignisse" aufgrund von Veränderungen in einem „prä-emergenten Feld" statt. Sie weisen zunächst ein niedriges „Rekognitionsniveau" auf, sodass ihre mediengeschichtliche Bedeutung noch nicht deutlich wird. Gleichzeitig aber entfaltet sich ihre gesellschaftliche Auswirkung in zunehmend erkennbaren „Plurifurkationslinien." Erreichen diese ihr maximales „Rekognitionsniveau", so wird im Nachhinein der historiografischen Rekonstruktion die Definition des Emergenzereignisses möglich (alle Zitate S. 26f.).
Dergestalt leistet das Modell einerseits eine terminologische Konturierung von Medienwandel und verspricht andererseits die Lösung einer weiteren methodischen Krux: Der Frage, wie sich die „Realiengeschichte der Medien mit der Geschichte der sie betreffenden Reflexionsbegriffe auf nicht nur additive Weise [...] verbinden [lässt]" (S. 43), wird ein gewissermaßen zirkuläres Modell entgegengestellt. Darin findet die Ereignisstruktur technischer Entwicklung und gesellschaftlicher Medienverwendung ebenso ihren Niederschlag wie ihre öffentliche und historiografische Diskursivierung. Insofern handelt es sich um einen Brückenschlag zwischen einer recht lose gehandhabten Ereignisgeschichte und einem diskursgeschichtlich orientiertem Konstruktivismus, wobei letzterer in der Summe klar überwiegt.
Dies zeigt sich nicht zuletzt am analytischen Hebelpunkt des Modells, den von den Autoren/innen als „Faszinationskerne" bezeichneten diskursiven Formationen. Sie sind als „Selbstbeschreibungen einer Gesellschaft" (S. 32) zu verstehen, die es nahe legen, „in einem Wandel der Kommunikationsverhältnisse zugleich einen der Lebensumstände, also nicht nur technische Weiterentwicklungen, Kompensationen, Verbesserungen zu erkennen" (S. 33). Für den primär durch die Digitalisierung induzierten Medienumbruch um 2000 sind das die Formationen von „Simulation", „Netz" und „Mediale Aktanten"; während der – ob der Verwobenheit von Fotografie, Telegrafie, Film und Rundfunk – weit heterogenere Medienumbruch um 1900 auf die Begriffe „Autographie", „Masse" und „Medialisierung von Subjekten" verdichtet wird (alle Zitate S. 44).
Während die genannten Faszinationskerne in ihren Einzelkapiteln weitgehend separat analysiert werden, strukturiert das Tsunami-Modell auch ihren Zusammenhang. Dieser resultiert aus einer Gegenüberstellung der Begriffe, die die Veränderung der medialen Weltwahrnehmung durch verbindende „Leitfragen" (S. 45) sichtbar machen soll: Demzufolge impliziert die Verschiebung vom mechanischen Aufzeichnungscharakter um 1900 („Autographie") zur computergestützten „Simulation" die Frage „Was ist die Welt ?"; die Frage „Was ist die Gesellschaft?" ist dagegen im Spannungsfeld der industrialisierten Massengesellschaft („Masse") und einer sich als postindustriell verstehenden Netzwerkgesellschaft („Netz") zu verorten. Damit unweigerlich verknüpft erscheint schließlich die Frage „Wer ist das Subjekt?", worunter der Übergang von einem technisch fasziniertem Komparatismus zwischen Technik und Mensch („Medialisierung von Subjekten") hin zu einem dezidierten Verständnis von technischen Ensembles als „Mediale Aktanten" verstanden wird (alle Zitate S. 45).
Fraglos stellt dies eine Engführung der modernen Mediengeschichte dar und impliziert mithin eine gewisse Komplexitätsreduktion. Wie auch die Autoren/innen selbst einräumen, bleibt dabei eine Reihe an historischen Differenzen zwischen 1900 und 2000 außen vor. So zum Beispiel die gesellschaftlichen Umbrüche und Krisenerscheinungen über die Weltkriege hinweg oder auch die Wahrnehmung ökologischer Probleme im ausgehenden 20. Jahrhundert. Außerdem scheint durch die Fokussierung der Umbruchserfahrungen der beiden Jahrhundertwenden auch die Möglichkeit von alternativen Rupturen oder von Kontinuitäten verschleiert zu werden. Kaum Erwähnung findet beispielsweise das Fernsehen, dessen Geschichte – von seiner diskursiven Konturierung im 19. Jahrhundert2 bis zu seiner Verflechtung mit den digitalen Medien3 – einerseits beide Umbrüche einschließt und andererseits mit dem Aufstieg zum gesellschaftlichen Leitmedium in den 1960er- und 1970er-Jahren wohl auch Kategorien der Umbruchswahrnehmung offenbaren könnte.
Dass das Modell jedoch nicht nur komplexitätsreduzierend wirkt, sondern zum Aufbau von Eigenkomplexität fähig ist, stellen die Einzelanalysen der „Faszinationskerne" unter Beweis. So wird durchgängig gezeigt, wie sich die jeweiligen diskursiven Formationen nicht nur in spezialisierten Wissensfeldern etablieren, sondern als Summe mehrerer sich verschränkender Stränge gesamtgesellschaftlich wirksam werden. Beispielsweise ist das Konzept der „Simulation" eng verknüpft mit den Fortschritten der Computertechnik und ihrer Kopplung an militärische Verwendungszwecke, ebenso wie mit der bald parallel laufenden Entwicklung von Computerspielen als Unterhaltungssoftware. Gleichzeitig entwickelt sich eine philosophische und soziologische Debatte, die sich an den Grundlagen der Kybernetik einerseits und an den gesellschaftlichen Konsequenzen im – mit Jean Baudrillard gesprochen - Zeitalter der Simulation andererseits abarbeitet. Von Paradigmen der wissenschaftlichen Modellbildung über die Veränderung der Unterhaltungsindustrie bis hin zu den Ängsten vor einem Realitätsverlust der Jugend – zum Beispiel im Zuge der sogenannten „Killerspiel"-Debatte – zeigt sich der Faszinationskern „Simulation" als beschreibungsrelevant für die Erfahrung des Medienumbruchs um 2000 (vgl. S.110-115).
Gleiches darf, ohne dies hier im Detail ausführen zu können, auch der Analyse der anderen Komplexe attestiert werden. Wenngleich also die Setzung der Umbrüche und damit die Fluchtlinien der Analyse bis zu einem gewissen Grad kontingent erscheinen, so wird die Publikation ihrem eigenen Anspruch einer für den Gegenstand „Medienumbruch" plausiblen Modellierung zwischen historischem Geschehen und historiografischer Formation durchaus gerecht. Die Zerrissenheit der Geschichtswahrnehmung von Benjamins „Engel der Geschichte" ist damit sicherlich nicht kuriert, immerhin aber dürfte sie besser zu verstehen sein.
Anmerkungen:
1 Alle Zitate: Matthias Bickenbach, Medienevolution – Begriff oder Metapher? Überlegungen zur Form der Mediengeschichte, in: Fabio Crivellari u.a. (Hrsg.), Die Medien der Geschichte. Historizität und Medialität in interdisziplinärer Perspektive, Konstanz 2004, S. 109-136, S. 109f.; vgl. die Rezension von Knut Hickethier, in: H-Soz-u-Kult, 23.03.2005, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-1-214> (24.01.2012).
2 Vgl. z.B. Monika Elsner / Thomas Müller / Peter M. Spangenberg, The Early History of German Television: The Slow Development of a Fast Medium, in: Historical Journal of Film, Radio and Television, 10 (1990), Nr. 2, S. 193-219.
3 Vgl. z.B. William Uricchio, The Future of a Medium Once Known as Television, in: Pelle Snickars / Patrick Vonderau (Hrsg.), The YouTube Reader, Stockholm 2009, S. 24-39.