B. Nietzel: Handeln und Überleben

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Titel
Handeln und Überleben. Jüdische Unternehmer aus Frankfurt am Main 1924–1964


Autor(en)
Nietzel, Benno
Reihe
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 204
Erschienen
Göttingen 2012: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
384 S.
Preis
€ 59,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jürgen Finger, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Die wirtschaftliche Verfolgung und Vernichtung der Juden durch das NS-Regime gehört zu den Standardthemen unternehmenshistorischer Forschung, ist inzwischen aber auch Thema der Verwaltungs- und Behördengeschichte oder neuerdings der boomenden Provenienzforschung. Nicht wenigen Untersuchungen haftet mit Blick auf die Geschichte jüdischen Unternehmertums im Deutschland der Zwischenkriegszeit eine spezifische Verengung des Blickes auf den Entziehungsvorgang sowie etwas Akzidentelles an. Der Fokus auf Zuständigkeiten und Perspektiven der untersuchten Finanzbehörden oder auf die wirtschaftlichen Interessen einer zufällig gerade aufzuarbeitenden Firmengeschichte schränkt die Erkenntnismöglichkeiten oft ungewollt ein.

Die 2009 an der Universität Bochum eingereichte Dissertation von Benno Nietzel sticht deshalb mehrfach heraus: Erstens durch die Perspektivverschiebung auf die jüdischen Unternehmer der Stadt Frankfurt am Main, auf deren Wahrnehmungen des Verdrängungsprozesses und deren Reaktionen. Jüdische Unternehmer erscheinen so nicht als passive Betroffene, sondern als Akteure mit eigenen wirtschaftlichen (Überlebens-)Strategien. Zweitens durch die – soweit quellenmäßig möglich – systematische Untersuchung der jüdischen Gewerbetätigkeit im lokalen Wirtschaftsraum der hessischen Großstadt, die die Masse der kleinen und mittleren Unternehmen in den Blick zu rücken vermag. Drittens durch die zeitliche Aufweitung, ausgehend von der jüdischen Gewerbetätigkeit in den 1920er-Jahren über die Flucht aus Deutschland bis zur Rückkehr und Wiedergutmachung. Diese Vorgehensweise ermöglicht es ihm viertens, das Schicksal der Gewerbetreibenden nicht nur in den Prozess der wirtschaftlichen Verdrängung einzuordnen, sondern auch mit den wirtschaftsgeschichtlichen Zeitläuften und der spezifischen Struktur der Frankfurter jüdischen Gewerbelandschaft zu verkoppeln.

Grundlage der Untersuchung ist ein breites Spektrum von Quellen. Unterlagen aus den Betrieben selbst fehlen regelmäßig, Nietzel war deshalb auf verschiedene Ersatzüberlieferungen angewiesen, neben hunderten Rückerstattungs-, Prozess- und Entschädigungsakten verwertete er etwa Aktensplitter aus dem Sonderarchiv in Moskau. Zentral waren zeitgenössische Karteien, die eine quantitative Auswertung für die insgesamt rund 2.600 nachweisbaren „jüdischen“ Unternehmen Frankfurts erlauben. Auf der Basis dieser Karteien sowie massenhaft gleichförmiger Akten entstand eine Datenbank, auf der insbesondere die generalisierenden Abschnitte der Argumentation beruhen. Dieser quantitative Zugriff wird ergänzt um repräsentative Fallgeschichten, die sich im (seltenen) Optimalfall in allen Phasen des Geschehens nachverfolgen lassen.

Die Struktur der jüdischen Gewerbetätigkeit in Frankfurt war geprägt von einem überproportional hohen Anteil von Selbständigen und von Betrieben zwischen 10 und 100 Mitarbeitern. Vor allem Handelsunternehmen und die Textil- und Bekleidungsbranche waren stark vertreten. Die historisch gewachsenen, ausgeprägten Familien- und Verwandtschaftsnetzwerke spiegelten sich in den Eigentümer- und Leitungsstrukturen der Firmen wider. Die stark handelsorientierte Struktur der jüdischen Geschäftswelt in Frankfurt machte sie zum Ziel einer sozialprotektionistischen Mittelstandspolitik, deren Relevanz für den Verfolgungsprozess Nietzel herausarbeitet. Die schon in der Weimarer Republik zunehmende Bereitschaft zu und die Forderungen nach allgemeiner Beschränkung der Gewerbefreiheit erwiesen sich als „Einfallstore für ohnehin bestehende antisemitische Ausgrenzungstendenzen“ (S. 57). Abhängig von Branche und Art des Unternehmens konnte diese nationalsozialistische Form der Strukturpolitik schon früh zunächst in informelle und dann offene Diskriminierung umschlagen und ging schließlich mit der antisemitischen Verfolgungspolitik Hand in Hand.

Trotz des Prozesscharakters der wirtschaftlichen Verfolgung betont Nietzel überzeugend die Scharnierstellung der Jahre 1933 und 1938 – besonders des Frühjahrs 1938. Der Transfer jener Firmen, von denen sich ein nicht-jüdischer Interessent Gewinn versprechen konnte oder die für den NS-Staat kriegs- und exportwirtschaftlich relevant waren, war bis November 1938 entweder schon weit fortgeschritten oder bereits abgeschlossen. Der Pogrom beschleunigte und radikalisierte diesen Prozess, da jüdische Verkäufer nun endgültig in einem rechtsfreien Raum agieren mussten. Wo jüdische Eigentümer eigens aus dem Konzentrationslager zu Verkaufsverhandlungen herbeigeschafft wurden, war der offene Raub nur notdürftig durch Verträge und bürokratische Formalitäten kaschiert. Nach dem Pogrom wurden auch in Frankfurt gerade jene zahlreichen Kleinbetriebe zum Ziel einer auf Liquidation gerichteten NS-Politik, die oft nur noch der wirtschaftlichen Subsistenz gedient hatten und die bis dahin gleichsam unter dem Radar der „Ariseure“ und Behörden hindurchgeschlüpft waren. Gerade ihr geringer Geschäftsumfang machte sie nun zum Objekt der von den Nationalsozialisten angestrebten Strukturbereinigung.

Um die jüdischen Unternehmer als Akteure zu fassen, entwickelt Nietzel idealtypische Kategorien. Zunächst unterscheidet er fünf Erwartungshorizonte angesichts der nationalsozialistischen Verdrängungspolitik: eingeschränkte Partizipation gerade in den Anfangsjahren, Selbstbehauptung, der Versuch der Wahrung der Subsistenz – mithin also „Überwintern“ –, Vermögenssicherung und schließlich Vermögenstransfer. Die Übergänge seien fließend, die Erwartungs- und Handlungshorizonte nicht statisch. Deutlicher als diese sich überlagernden Erwartungshorizonte erlauben es die Fallgeschichten, die daraus resultierenden betriebswirtschaftlichen Handlungsoptionen seit den Krisenjahren der Weimarer Republik empirisch zu untermauern. Für die nur auf den ersten Blick abstrakt anmutende Typologie orientiert sich Nietzel an einem Vorschlag Ludolf Herbsts: Liquidation, gleitende Strukturanpassung (also die Änderung von Rechtsform, Beteiligungsverhältnissen oder Leitungsstrukturen) und gleitende Profilanpassung (also Änderungen der Produktpalette oder etwa die Schwerpunktsetzung auf Märkte im Ausland oder primär jüdische Kundschaft). Die Frage nach dem Erfolg dieser Strategien lässt sich nur schwer beurteilen. Im Rückblick erwies sich die Aufrechterhaltung eines Betriebs bis ins Jahr 1938 als zweischneidiger „Erfolg“, teuer erkauft mit reduziertem Geschäftsbetrieb, der Aufgabe von Firmenanteilen oder hohen Transaktionskosten, während der frühzeitige Vermögenstransfer und die Flucht aus Deutschland die Rettung bedeuten konnten – materiell und existenziell.

Nietzel wird in seiner Studie nicht nur den „jüdischen“ Akteuren gerecht, auch die Erwerber und die einzelnen Kaufvorgänge erhalten ein klares Profil, in Abhängigkeit von Branche, Bedeutung des Unternehmens und dem Grad der Involvierung von Staat und Partei. Das gilt auch für die Abwehrstrategien und Rechtfertigungen der Erwerber im Rahmen der Wiedergutmachung und Entnazifizierung. Dabei ist augenfällig, wie die Asymmetrie der Verhandlungspositionen, die in den 1930er-Jahren bestand, sich nach 1945 auf Grund materieller Not und unzureichenden Zugangs zu Akten und Informationen wiederholte. Deutlich wird auch am Beispiel Frankfurts der schon wiederholt beobachtete Zielkonflikt zwischen schneller, meist im Vergleichswege erfolgter Rückerstattung einerseits und der Aufarbeitung des mehr oder weniger offensichtlichen Raubes jüdischer Vermögen andererseits. Dabei kam die Justiz in jenen Fällen, in denen keine gütliche Einigung möglich war, immer wieder zu überraschend eindeutigen Bewertungen und entschied gegen die Erwerber. Für die häufig von den jüdischen Eigentümern gesuchte Anerkennung ihrer früheren unternehmerischen Leistung dagegen waren die Wiedergutmachungskammern ohnehin der falsche Platz. Die öffentliche Erinnerung an die jüdische Gewerbetätigkeit war in erschreckend kurzer Zeit geschwunden, der Anteil der Frankfurter Juden am geschäftlichen Erfolg der Stadt fiel schnell dem Vergessen anheim.

Der wissenschaftliche Apparat der Studie ist für eine Qualifikationsarbeit erfreulich übersichtlich. Da die Bedeutung der kommunalen und regionalen Ebene für die Inklusions- und Exklusionspolitik des Nationalsozialismus schon mehrfach herausgearbeitet wurde, wäre allerdings ein stärker vergleichender Blick manchmal wünschenswert gewesen. Das einzige echte Manko ist leider das unvollständige Firmen- und Personenregister – zumindest dem Rezensenten erschlossen sich die Kriterien für die (Nicht-)Aufnahme von Namen und Belegstellen nicht.

Die Studie von Benno Nietzel zeichnet sich durch ihre sprachliche Prägnanz und dichte Argumentation aus. Nietzel liefert keine falschen Eindeutigkeiten, immer wieder diskutiert er die Aussagekraft der statistischen Überlieferung wie auch die Möglichkeiten und Grenzen einer quantitativen Auswertung. Die Kapitel sind meist ähnlich aufgebaut und der Modus changiert angenehm: Die Resümees der reichspolitischen Entwicklungen und der Forschungslage bringen dem Spezialisten zwar nicht immer Neues (etwa der zehnseitige Überblick über Rahmenbedingungen der Wiedergutmachung, S. 271–282), führt aber den Leser präzise in die Thematik ein. Dem folgen stärker erzählende Abschnitte mit den Fallgeschichten sowie synthetisierende Abschnitte, die über die Einzelfälle hinausweisen. Der Titel der Studie erinnert wohl nicht zufällig an Hans Medicks großes Werk über „Weben und Überleben in Laichingen 1650–1900. Lokalgeschichte als allgemeine Geschichte“.1 Diese Analogie steht sinnbildlich für das von Nietzel erreichte Ziel, „makro- und mikrostrukturelle Entwicklungen zu korrelieren und in ihrer Verflochtenheit zu erhellen“ (S. 15).

Anmerkung:
1 Hans Medick, Weben und Überleben in Laichingen 1650–1900. Lokalgeschichte als allgemeine Geschichte, Göttingen 1996.

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