In unseren Zeiten andauernder Auseinandersetzung um Wirkung und Verstetigung von Bildungsreformen ist es möglicherweise kein Zufall, dass sich Lothar Gall für eine Biographie des berühmtesten Bildungsreformers überhaupt entschieden hat. Und um es vorwegzunehmen, Galls Interpretation stellt weniger das Paradigma der Reform an sich in den Mittelpunkt, sondern die Vorstellung von der permanenten Selbstbildung des Individuums, die für Wilhelm von Humboldt zentral gewesen ist. In diesem Sinn lässt sich das Buch als Plädoyer gegen eine Reduzierung des universitären Auftrags auf „Ausbildung“ und „Kompetenzvermittlung“ verstehen. Als Lebensthema Humboldts begreift Gall die Bildungsgeschichte des Subjekts in der Wechselwirkung mit dem Allgemein Menschlichen, der Anthropologie. Diese Grundkonstellation erkennt der Biograph nicht bloß im Persönlichen und Intimen, sondern auch in den politischen Anschauungen vor allem zur Frage einer deutschen Verfassung, die Humboldt über Jahre hinweg umgetrieben hat.
Die Lebensgeschichte Wilhelm von Humboldts ist bereits gut bekannt. Die Jugend des Protagonisten, die Herkunft aus dem adlig-bürgerlichen Milieu der hohen Beamten in Berlin, die Eheschließung mit Caroline von Dacheröden und die gleichzeitige Distanz zur Beamtenexistenz werden kühl berichtet. Ebenfalls recht nüchtern notiert der Verfasser Humboldts sinnlich-sexuelle Wünsche und Erlebnisse, die das romantische Ehekonzept um eine besondere Offenheit gegenüber Liebesaffären und erotischen Begegnungen erweiterten. Solches Verhalten, von Humboldt als Ausdrucksform des Individuums ausgegeben, orientierte sich wiederum eher an den höfischen Sitten des Barock als an den Normen einer protestantisch geprägten Bürgerlichkeit. Nicht nur hier besaßen Humboldt und sein wichtigster Kollege und später auch Gegenspieler Hardenberg einige Gemeinsamkeiten. Gall beschränkt sich in diesem Punkt auf eine zurückhaltende Berichterstattung. Psychologische Deutungen, etwa einer sado-masochistischen Disposition et cetera, werden angedeutet, der Verfasser macht sie sich aber ausdrücklich nicht zu eigen. Im Kern seines Interesses, darin den Historikern des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts nicht unähnlich, steht der „politische“ Humboldt, der Universitätsreformer, der Außenpolitiker zur Zeit der napoleonischen Kriege, schließlich der Verfassungsdenker. Gall bringt dieses politische Leben, wo immer möglich, in Kontakt mit dem Werk des Sprachwissenschaftlers Humboldt. Aber auch in diesem Punkt wird die herrschende Meinung kaum revidiert: Humboldts sprachwissenschaftliche Arbeiten gelten als eindrucksvoll, aber kaum rezipiert und weiterführend. Das scheint nicht zuletzt der umständlichen Sprache geschuldet, in der Humboldt seine Texte verfasst hat. Humboldts von ihm selbst bemerkter und beklagter Mangel an Kreativität – zumindest im Vergleich mit dem sehr bewunderten Schiller – spielt möglicherweise auch im Kontext der Wissenschaft eine wichtige Rolle.
Gall folgt dem Leben des „Übergangsmenschen“ mit seinen häufigen Ortswechseln und Reisen chronologisch. Humboldt konnte – aus privilegierter Position heraus – auf diese Weise zu einem Kultur-Europäer werden, in dem sich die Liebe zum antiken Griechenland und zur altgriechischen Sprache mit der lebendigen Erfahrung des Lebens in den europäischen Metropolen um 1800 verbindet. Humboldts in Paris und Rom, in London, Wien und Berlin verbrachte Jahre, unterbrochen von Reisen nach Spanien zum Zweck der Erforschung der Sprache, Aufenthalten in Tegel und auf den thüringischen Gütern seiner Frau, markieren so gesehen einen Lebensstil, in dem sich die heutige akademische Jugend Westeuropas ganz selbstverständlich wiederfindet.
Die Grundfrage jeder politischen Biographie nach Erfolg oder Scheitern des Protagonisten beantwortet Gall ähnlich wie frühere Interpreten. Die Gründung der Friedrich-Wilhelms-Universität und die Verankerung des humanistischen Ideals im schulischen Bildungswesen gelten als Meilensteine mit größter Folgewirkung, während die latente Rivalität mit Hardenberg um die Leitung der preußischen Politik zuungunsten Humboldts ausging. Jedenfalls hat Humboldt nach 1815 Preußens Positionierung an der Seite Russlands nicht verhindern können. Insgesamt aber verloren sukzessive sämtliche Reformer in Preußen ihren Einfluss, auch Hardenberg. Dabei spielte es kaum noch eine Rolle, dass sich Humboldts Verfassungsvorstellungen in ihrer anti-etatistischen Ausrichtung weniger an Steins ständischen Ideen als an einer den gesellschaftlichen Verhältnissen zugrundeliegenden Freiheit des Individuums orientierten. Und auch Humboldts Sympathie für ein nationales, auf eine deutsche, nicht nur auf eine preußische politische Ordnung gerichtetes Denken hat sich nur in einer auf das gesamte 19. Jahrhundert bezogenen Betrachtung als wirkungsvoll erwiesen.
Galls elegant formulierte, stets klug abwägende Humboldt-Biographie stellt keine umstürzende Neuinterpretation des Lebens eines berühmten Mannes dar; er beschäftigt sich überhaupt kaum mit Wirkung und Rezeption nach Humboldts Tod im Jahr 1835 mit 68 Jahren. Wer Galls Buch liest, kann die Folgen einer konsequent durchgehaltenen Individualbeobachtung, einer Art permanenten Selbstinspektion eines gebildeten, interessanten und einflussreichen Mannes als Ausprägung einer individualistischen Auffassung vom Menschen in einer aufregenden Zeit erwägen. Das verspricht Spannung – nicht zuletzt mit Blick auf die Gegenwart.