Das „F-Wort“ stellt für Historiker, Kultur- und Sozialwissenschaftler nach wie vor eine große Herausforderung dar. Dies liegt nicht nur an der hohen, fast maximal möglichen politisch-sozialen Normativität des Friedensbegriffes, sondern auch an den Schwierigkeiten, eine Definition dessen zu geben, was unter „Frieden“ überhaupt zu verstehen sei.
Die Feststellung, dass es weitaus einfacher sei, über Krieg und Militär zu schreiben als über den Frieden, war der Ausgangspunkt für den Journalisten und Sinologen John Gittings, die vorliegende Studie zu verfassen. Als Chefredakteur der Auslandsredaktion des „Guardian“ von 1983 bis 2003 und als Mitherausgeber der „Oxford International Encyclopedia of peace“1 war es vor allem die Offenheit, Unbestimmtheit und Segmentierung des Friedensbegriffes, die ihn gerade vor dem Hintergrund seiner hohen Normativität wie auch seines engen Zusammenhanges mit dem Krieg – sowohl als Forschungsschwerpunkt als auch als zeitgenössischer Kontext von Forschungstraditionen – irritierte.
Ausgehend von der Frage, warum „Krieg“ in Forschung und Wissenschaft so unverhältnismäßig dominierend sei, fragt Gittings nach den historischen und kulturellen Traditionen des Friedensdenkens. Sehr deutlich kommt dies im Untertitel zum Tragen, denn die Ilias steht im kulturellen Gedächtnis – zumindest der westlichen Welt – ebenso für die allumfassende Präsenz des Krieges wie der Irak für die gegenwärtigen Herausforderungen der internationalen Beziehungen.
Dies sind im Kern sicherlich kein neuer Ansatz und keine neue Entdeckung. Was das Buch lesenswert und inspirierend macht, ist die konsequente Relektüre einer Reihe von Klassikern und Schlüsselereignissen der Kulturgeschichte auf ihre „Friedenspotenziale“ hin – seien sie utopischer, literarischer oder politisch-sozialer Natur. Doch bevor er seinen chronologischen Durchlauf von der Antike bis in die Gegenwart unternimmt, reflektiert er einige Stereotypen, die immer wieder in der Auseinandersetzung mit dem Thema „Krieg und Frieden“ zu finden sind. So hält er der These der grundsätzlichen Ausrichtung auf kriegerische statt friedliche Konfliktlösung der Menschen die Ambivalenzen der zu diesem Thema durchgeführten anthropologischen Studien entgegen. Auch die vielfach angeführten vermeintlichen „Statistiken“ über das vorherrschen von kriegerischen vor friedlichen Zeiten im Laufe der Menschheitsgeschichte entlarvt er als polemisch, methodisch fragwürdig und den propagandistischen Erfordernissen der jeweiligen Gegenwart geschuldet.
Diesem ersten, eher strukturellen Kapitel folgen sieben chronologisch geordnete Kapitel, die sich spezifischen Friedensherausforderungen der jeweiligen Epoche widmen. Die Antike wird schlaglichtartig beleuchtet, indem einer Analyse und historischen Kontextualisierung der „Ilias“ chinesische Quellen aus der Zeit der Streitenden Reiche (475–221 v. Chr.) zur Seite gestellt werden. Dem beiden Epochen traditionell zugeschriebenen kriegerischen Charakter stellt Gittings eine ebenso breite wie vielfältige Quellenbasis für eine Auseinandersetzung mit den Friedenskonzepten, -hoffnungen und -praktiken zur Seite, die das militaristische Bild deutlich relativieren.
Die Vorgehensweise, neben der inhaltlichen Auseinandersetzung immer auch die Bedingungen der jeweils prägenden wissenschaftlichen Interpretationen mitzudenken, behält er auch im folgenden Kapitel bei, die sich der spätantiken Tradition der Kirchenväter bis ins Spätmittelalter widmet. Die Einordnung der Friedenskonzepte und Kriegsäußerungen Aurelius Augustinus’ in den krisenhaften Kontext des untergehenden römischen Reiches ist bekannt, ebenso wie die politische Ikonographie der italienischen Rathäuser der Renaissance. Dennoch werden auch sie durch die narrativen Strukturen in eine Kontinuität gestellt, welche mit den politisch-sozialen Bewegungen der Gottes- und Landfrieden oder den zu selten thematisierten „Friedensbewegungen“ als Opposition zu den Kreuzzügen einen größeren Zusammenhang bilden.
Mit dem Humanismus und der beginnenden Frühen Neuzeit analysiert Gittings dann den Beginn eines Friedensdiskurses, der – motiviert durch kriegerischen Neuordnungen der religiösen und politischen Ordnung Europas – ganz auf seine ideengeschichtlichen und literarischen Emanationen beschränkt ist. Die politischen Theorien einer internationalen Ordnung und Institutionalisierung, die seit dem späten 16. Jahrhundert zu fassen sind, werden dann im folgenden Kapitel als frühe Vorboten der aufklärerischen Friedenskonzepte diskutiert, die sich wesentlich mit dem „Projet d’une paix perpetuelle“ des Abbé de St Pierre und Kants Überlegungen zum „Ewigen Frieden“ befassen. Deren Kontextualisierung im Umfeld der Friedensverhandlungen von Utrecht 1713 und Basel 1795 ist dem einschlägig interessierten Publikum ebenfalls bekannt, hier hätte sich bereits gelohnt danach zu fragen, in welchem Maße theoretischen Friedenskonzepte mit der praktischen Politik der jeweiligen diplomatischen Friedensbemühungen korrelierte – zumindest St. Pierre war in Utrecht präsent. Diese Fragen werden aber erst in den weit ausführlicheren Kapiteln zur Geschichte des 20. Jahrhunderts in den Mittelpunkt gerückt.
Das von Gittings ausgemachte Charakteristikum dieser Zeit – das Paradox zwischen einer immer besser vernetzten, globalen Friedensbewegung und den desaströsen (Welt-)Kriegen – zeichnet sich bereits im 19. Jahrhundert ab. Die Entstehung einer organisierten Friedensbewegung durch die Gründung zunächst lokaler, später nationaler Friedensgesellschaften nach den napoleonischen Kriegen steht in einem engen Zusammenhang mit den immer wieder aufbrechenden Kriegen, wie Gittings am Beispiel der englischen Friedensbewegung und des Krim-Kriegs aufzeigt.
In den Abrissen zur Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts fokussiert sich Gittings vollständig auf die hohe Politik der internationalen Beziehungen, der Rolle des Völkerbundes und der Vereinten Nationen im Bemühen um die Etablierung einer friedlichen Weltordnung. Deren zunehmende Vereinnahmung im Rahmen der Interessenkonflikte der großen weltpolitischen Blöcke bis hinein in die aktuellen Auseinandersetzungen mit terroristischen Gruppen lässt sich bei Gittings deutlich an der Integration der Friedensbewegungen ablesen, die gerade in Zeiten massiver Konfrontationen zwischen die Räder gerieten und als „unpatriotische“ Untertanen nicht selten Repressalien erleiden mussten – wie am Beispiel der conscientious objectors und dem peace ballot in England deutlich wird.
Gittings Buch ist für ein breites Publikum geschrieben, das hier eine schön erzählte Gegendarstellung zur momentan vorherrschenden Präsenz des Krieges zu lesen bekommt. Das wissenschaftliche Publikum, insbesondere das mit Historischer Friedensforschung befasste, wird kaum neue Aspekte finden – zumal in den jeweiligen Epochen ein Vielfaches an Friedensforschung dessen existiert, was hier präsentiert wird. Auch die Frage der Definition von Frieden, die Möglichkeiten der methodischen Operationalisierung einer solchen Kulturgeschichte des Friedens bleibt offen – wie etwa ist der Vergleich der hochgradig unterschiedlichen Quellengattungen, sind die Perspektivwechsel zwischen utopischen Konzepten über politische Theorie bis hin zur soziopolitischen Praxis und ihre jeweiligen Verflechtungen sauber zu konstruieren? Wie ist eben doch mit dem Verhältnis von Frieden zum Krieg umzugehen, das in allen Beispielen präsent bleibt? Wie ist die große Offenheit des Friedensbegriffs in seinen diachronen wie synchronen Kontexten produktiv für eine auf den Frieden ausgerichtete Forschung fruchtbar gemacht, ohne in Beliebigkeit oder unverbundener Segmentierung zu landen?
Gleichwohl besticht die Darstellung aber gerade durch ihre Beschränkung, durch das Herausarbeiten der Kernfragen einer Weltkulturgeschichte des Friedens mit großen Zügen und dem dicken Pinsel, der geeignet ist, auch die Friedensforscher aus ihrem Klein-Klein der täglichen Arbeit herauszuholen.
Anmerkung:
1 Nigel Young u.a. (Hrsg.), The Oxford International Encyclopedia of Peace, 4 Bände, Oxford 2010.