Titel
Histories of the Aftermath. The Legacies of the Second World War in Europe


Herausgeber
Biess, Frank; Moeller, Robert G.
Erschienen
New York 2012: Berghahn Books
Anzahl Seiten
326 S.
Preis
$ 95
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Jan Hansen, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Der Zweite Weltkrieg war 1945 keineswegs „vorbei“. Dass das nationalsozialistische Deutschland bedingungslos kapitulierte, markierte nur das Ende der Kampfhandlungen. Die Folgen des Krieges wirkten lange in den Gesellschaften Europas fort, und sie dauern auch heute noch an. Auf diese pointierte These lässt sich der von Frank Biess und Robert G. Moeller herausgegebene Sammelband „Histories of the Aftermath“ bringen. Sein Argument lautet, dass die europäischen Gesellschaften nach 1945 von der Persistenz wirkmächtiger Erfahrungs- und Deutungsmuster charakterisiert blieben, die ihren Ursprung im Krieg hatten. Weder gab es eine „Stunde Null“, also einen vollständigen Neuanfang nach dem Krieg, noch sollte der Zweite Weltkrieg als bloße Vorgeschichte einer an sich eigenständigen Nachkriegszeit erzählt werden. Deshalb interessieren den Sammelband nicht die dramatischen Brüche der europäischen Geschichte in der Mitte des 20. Jahrhunderts, sondern das komplexe Bündel an individuell und kollektiv gesammelten Erfahrungen im Krieg, die das Leben im „Nachkrieg“ bestimmten.

Dreierlei zeichnet den Band aus: Erstens nimmt er methodologisch eine konsequent europäische, transnational-vergleichende Perspektive ein, die zwar nicht in allen Beiträgen eingelöst wird, aber durch die Gesamtanlage gewährleistet bleibt. Zweitens betont er durch die Offenheit des Untersuchungszeitraums die Langlebigkeit des Nachkrieges über das Ende der Ost-West-Konfrontation hinaus. Bemerkenswert ist drittens aber vor allem die Einbettung der europäischen Geschichte in die Erfahrung von Gewalt. Denn vor dem Hintergrund von Völkermord, Vertreibung und Vergewaltigung sind, wie die Herausgeber zu Recht argumentieren, Gewalterfahrungen entscheidend für ein Verständnis der europäischen Nachkriegsgesellschaften. Hinzu kommt die für den Sammelband charakteristische räumliche Verortung der Gewalt in Ostmitteleuropa, das heißt in den Gebieten, durch die im Krieg die Ostfront verlaufen ist. Damit schließt er an neuere und neuste Debatten in der Geschichtswissenschaft an.

Der Sammelband ist in fünf thematische Bereiche untergliedert. Zunächst betont Norman M. Naimark in einem instruktiven Aufsatz die Fortdauer von Kriegserfahrungen in Deutschland und Polen bis in unsere Zeit. Anhand von politischen Debatten sowie literarischen und künstlerischen Erzeugnissen analysiert er die Verflochtenheit dieser Nachwirkungen mit der zunehmenden Interaktion beider Gesellschaften und der Aushandlung einer gemeinsamen Erinnerungskultur. Wenngleich seine These von der Aktualität der Kriegserfahrungen für Deutschland und Polen nicht ganz überraschend ist, eignet sich dieser Text gut als Einstieg in das Thema des Bandes.

Der inhaltlich ausgezeichnete und methodisch innovative Beitrag des Herausgebers Frank Biess über den Zusammenhang von Emotionen und Gewalt schließt direkt an Naimarks Text an. Biess definiert Emotionen als soziale und kulturelle Konstrukte, die für ihre jeweiligen Träger Sinn erzeugen, und arbeitet heraus, wie für Westdeutschland nach dem Krieg ein spezifisches, bis in die 1960er-Jahre fortdauerndes „emotional regime“ (S. 30) bestimmend war. Dieses war als Antwort auf die Exzesse der Kriegszeit durch eine tiefe Skepsis gegenüber der öffentlichen Gefühlsäußerung charakterisiert. Es schwächte sich erst in den 1960er-Jahren ab, als neue soziale Bewegungen den emotionellen Minimalismus mit einer Wiederbetonung von Gefühlen herausforderten. Mit seinem Beitrag führt Biess eindrücklich vor, was eine Geschichte der Emotionen leisten kann.

Während es in den Beiträgen dieses ersten Abschnittes vorrangig darum geht, den Untersuchungsgegenstand inhaltlich und methodologisch abzustecken, nimmt der anschließende zweite Teil mit den öffentlichen und privaten Erinnerungen einen für die Nachwirkungen des Krieges in Europa zentralen Komplex in den Blick. Lisa A. Kirschenbaum analysiert die Erinnerung an die Belagerung von Leningrad in der Sowjetunion, die sie als die „chief legitimizing myth“ (S. 69) des Post-Stalinismus bezeichnet. Ihr Beitrag problematisiert die häufig unhinterfragt vorgenommene Differenzierung zwischen den angeblich „echten“ Erinnerungen von Kriegsteilnehmer und der politisierten staatlichen Propaganda. Sie argumentiert überzeugend, dass selbst die Erfahrungen von Veteranen keine „wahren“ Abbildungen dessen seien, was gewesen ist, sondern elementare Bestandteile der Weltkonstruktion auf Seiten der Kriegsteilnehmer.

Thematisch verbunden mit Kirschenbaums Text ist der Beitrag von Anna Krylova, die den Repräsentationen von Weiblichkeit in der Roten Armee nachgeht. Im Mittelpunkt ihres Aufsatzes steht die Frage, wie die weibliche Soldatin von der sowjetischen Propaganda und der russischen Gesellschaft imaginiert wurde. Während die traditionelle Dichotomie des Soldatischen und des Weiblichen im Krieg weitgehend nivelliert wurde, erfuhr sie, wie Krylova hervorhebt, nach 1945 wieder neue Aufmerksamkeit. In ihrer Untersuchung der Einebnung und Neukonstruktion von Geschlechterdifferenzen, die sie exemplarisch an der Soldatin Valeriia Gnarovskaia durchführt, bleibt sie jedoch eine pointierte Antwort auf die Frage schuldig, warum Weiblichkeit im Zusammenhang mit Krieg in der sowjetischen Gesellschaft so wechselvoll gedeutet wurde.

Nach einem dritten Kapitel, das die Verhandlung des Krieges und seiner Auswirkungen im Kino fokussiert, steht im vierten Teil des Sammelbandes die „Reconstruction of Citizenship“ nach 1945 im Mittelpunkt. Heide Fehrenbach zeigt anhand der Reintegration von Kriegswaisen aus ethnischen oder religiösen Minderheiten in die europäischen Nachkriegsgesellschaften, wie sehr die nationalsozialistische „Biopolitik“ über 1945 dominant blieb. So bedienten sich die Staaten Europas im Umgang mit den Kriegswaisen häufig des nationalsozialistischen Wahrnehmungs- und Deutungsrepertoires. Diese Kontinuitäten der NS-Ideologie gingen paradoxerweise einher mit der Intensivierung transnationaler und internationaler Sozialpraktiken, durch die Familien rekonstituiert werden sollten.

Zu den sehr gelungenen Beiträgen des Sammelbandes gehört auch die Analyse von Sonja O. Rose über die Bedeutung des Krieges für die britische Identität nach 1945. Sie unterstreicht, dass das nationale Selbstbewusstsein durch die Abwehr von und den Sieg über Nazi-Deutschland einen wichtigen Schub erhielt. Nach dem Krieg wurden die Konturen der britischen Identität dann aber zunehmend in Abgrenzung zur Multiethnizität des Empire definiert, wobei der allmähliche Zerfall des Weltreiches wiederum zu einer Neujustierung des eigenen Selbstbildes führte. Anhand einer sehr lesenswerten Darstellung der Krönung von Queen Elizabeth II. 1953 und ihrer ersten Reise durch die Länder des Commonwealth verdeutlicht Rose den Einfluss, den der Commonwealth als das Andere für das britische Nationalbewusstsein selbst im Zustand seines Niedergangs hatte. Noch auf lange Zeit sollte Großbritannien „a white man’s country“ (S. 232) bleiben.

Der letzte Teil des Sammelbandes nimmt schließlich „Military Cultures“ in den Blick. Hier ist insbesondere der hervorragende Essay von Klaus Naumann erwähnenswert, der die Persistenz des Wehrmachtserbes in der Offizierselite der Bundeswehr bis zum Ende des Kalten Krieges untersucht. Wie Naumann betont, fand die Bundeswehr erst in den 1960er-Jahren zu neuen operativen Konzepten, die sich von denen der Wehrmacht deutlich unterschieden. Interessanterweise führte aber der gesamtgesellschaftliche Konflikt um den NATO-Doppelbeschluss in den frühen 1980er-Jahren zu einer Renaissance von Kriegsplanungskonzepten, wie sie in der Wehrmachtsführung populär gewesen waren.

An diesen überraschenden letzten Punkt soll die Frage adressiert werden, wie die „historically regressive“ (S. 263) Neigungen der Offizierselite mit den gleichzeitig erstarkenden oppositionellen Tendenzen zusammengedacht werden können, die für dieses Jahrzehnt ebenso charakteristisch waren. Denn in der Debatte um die Nachrüstung wurden auch Teile der militärischen Elite von Zweifeln an Sinn und Legitimität der nuklearen Abschreckung erfasst. Durch die Einbeziehung der Haltung nachrüstungskritischer Offiziere gegenüber den Wehrmachtskonzepten würde der „Ort“ der von Naumann konstatierten Entwicklung in einem hoch politisierten Jahrzehnt noch besser sichtbar, in dem sich der sicherheitspolitische Konsens in der Bundesrepublik zu verlagern und die Akzeptanz des Militärischen gesamtgesellschaftlich abzunehmen schien.

Auch wenn nicht alle Beiträge das hohe Niveau der hier angesprochenen Aufsätze erreichen, liegt doch ein sehr überzeugender und sorgfältig editierter Sammelband vor, der die Langlebigkeit des Zweiten Weltkrieges in den Gesellschaften Europas präzise beschreibt. Dass die Beiträge häufig transnationale und vergleichende Perspektiven einnehmen, die Nachwirkungen des Krieges in der longue durée untersuchen und dabei die Erfahrung und Deutung von Gewalt konsequent historisieren, macht dieses Buch für aktuelle Debatten in der Geschichtswissenschaft besonders wertvoll.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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