J. F. Harrington: The Unwanted Child

Titel
The Unwanted Child. The Fate of Foundlings, Orphans, and Juvenile Criminals in Early Modern Germany


Autor(en)
Harrington, Joel F.
Erschienen
Anzahl Seiten
437 S.
Preis
€ 36,31
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andrea Bendlage, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Philippe Ariès hat mit seiner Studie aus dem Jahre 1960 eines der wirkmächtigsten Bilder über die Kindheit in der vormodernen Gesellschaft hinterlassen: Sie war, kurz gefasst, über lange Zeit ein Albtraum, ein Albtraum, der erst seit dem 18. Jahrhundert langsam zu Ende gegangen ist. Für viele Kinder begann der Schrecken insbesondere in der Frühen Neuzeit – so im Anschluss an Ariès die verbreitete Ansicht – bereits mit ihrer Geburt, wenn sie von ihren Eltern oder Verwandten ausgesetzt und zurückgelassen wurden. Die vorliegende Studie des amerikanische Historiker Joel F. Harrington (Vanderbilt University) nimmt eben diese verlassenen Kinder und ihre (Über)lebensperspektiven in den Blick. Wenngleich der Titel zunächst eine allgemeine Untersuchung erwarten lässt, bezieht sich der Autor im Wesentlichen auf die Reichsstadt Nürnberg im 16. und 17. Jahrhundert: Kindsmord, uneheliche Schwangerschaften, Elternlosigkeit, Jugendkriminalität und das Leben im Waisenhaus sind die Untersuchungsfelder, denen er fünf Kollektivbiographien voranstellt, um das Themenfeld ‚ungewollter und ausgesetzter Kinder‘ in der fränkischen Metropole im 16. und 17. Jahrhundert auszuleuchten.

Ausgesetzte und verlassene Kinder haben von jeher die Phantasie der Menschen, zahlreiche Märchen und lange auch die historische Forschung bevölkert (S. 5). Während wir heute relativ klar zu verstehen meinen, was Kindesaussetzung bedeutet, nämlich das bewusste Zurücklassen von Kindern durch deren Eltern, so scheint dieser Begriff nicht uneingeschränkt auf die Vormoderne übertragbar zu sein (S. 9). Harrington schlägt daher vor, von ‚zirkulierenden‘ und informell versorgten Kindern („circulation of children“) zu sprechen. Der Blick auf vormoderne Zustände gründet sich heute meist auf Gerichtsakten und normative Quellen, darüber hinaus ist nur wenig über Motive, Alltag und Erfahrungswelten ausgesetzter Kinder, ihrer Eltern und Pflegeeltern bekannt. Harrington muss daher auf offizielle Dokumente zurückgreifen, um aus diesen wenigen Informationen eine Alltagsgeschichte zu rekonstruieren. Seine Absicht ist es, den Gesamtkontext, aber auch den Wandel im Umgang mit Kindesaussetzungen zu erfassen. Allerdings ist zu betonen, dass es sich bei den genannten Fallstudien nicht um ‚typische‘ Fälle handelt. Der Autor beansprucht, so nah wie möglich an die (subjektiven) Erfahrungen und den sozialen Kontext der Individuen heranzukommen, indem er einen ‚Mittelweg‘ zwischen Textinterpretation und historischer Objektivität verfolgt. Die größte Herausforderung der Arbeit liegt jedoch in der Frage, wie verallgemeinerbar signifikante Einzelfälle sind, das heißt wie überzeugend der Zusammenhang von Mikro- und Makro-Geschichte gelingt (S. 13). Unter Zuhilfenahme von Kriminalquellen und normativen Texten soll die quantitative Erhebung und Auswertung der Waisenhausakten von 1557 bis 1679 (ca. 4.000 Aufnahmeanträge für das Waisenhaus) mit den Befunden der ‚Biographien’ abgeglichen werden.

Zunächst beschreibt Harrington das Schicksal einer unverheirateten schwangeren Dienstmagd, ihre Lebensumstände sowie ihr tragisches Ende als verurteilter Kindsmörderin. Dieser ‚typische’ Fall dient dem Autor als Folie, um die Lebens- und Arbeitswelt junger Frauen und lediger Mütter in der frühneuzeitlichen Stadt zu beschreiben, ihre doppelte Abhängigkeit vom Vater und Dienstherren, die Folgen fehlender sozialer Einbindung und der Isolation von ihren Familien, ihre Anfälligkeit für Gewalt und sexuelle Übergriffe und die Folgen vorehelicher Schwangerschaften. Nicht selten wurden illegitim geborene Kinder innerhalb der Familie weitergegeben. Harrington betont zugleich, dass Kindsmord auch in Nürnberg ein außergewöhnliches und seltenes Vergehen war. Für die verurteilte Magd war dieser Weg offenbar die einzige Option (S. 56).

Im Mittelpunkt des zweiten Beispiels steht ein Soldat, der seine drei kleinen Töchter in Nürnberg zurückließ (S. 74). Die Untersuchung der Daten aus der Nürnberger Waisenhausverwaltung bestätigt, dass wirtschaftliche Krisen und der Kriegsdienst viele Männer dazu veranlassten, sich ihrer Verantwortung zu entziehen. Die in den Akten nachgewiesenen Väter verfügten nur über wenig tragfähige soziale Bindungen. Es wäre, so Harrington vorschnell, diese Befunde zu verallgemeinern, denn im Findelhaus wurde nur jener kleine Anteil von Kindern versorgt, die keine Bezugspersonen hatten, die für sie sorgen konnten. Es war vielmehr üblich, Kinder zeitweilig bei Verwandten, Freunden oder Pflegeeltern zurück zu lassen. Entsprechend suchten häufig Pflegeeltern und andere Bezugspersonen um Aufnahme der Kinder in Waisenhäuser nach (S. 95). Bezüglich der Frage nach ‚Strategien’ für die Versorgung von Kindern in Krisenzeiten bleibt der Autor zögerlich. Er will angesichts vieler Optionen nicht von ‚Strategien’ sprechen und zieht allgemeine Beschreibungen von ‚child circulation’ und ‚informal fostering’ vor. Das Verlassen der Kinder stünde erst am Ende einer prekären Entwicklung, die vom Verlust des Partners, dem Fehlen der
dauerhaften ökonomischen Basis und einem Mangel an Unterstützungsleistungen bestimmt wurde (S. 102).

Im dritten Teil seiner Studie geht Harrington auf die obrigkeitlichen Strukturen der Nürnberger Fürsorgeeinrichtungen, die Armen- und Bettelgesetzgebung und den Waisenhausvorsteher Albrecht Böhmer ein, unter dessen Leitung das Nürnberger Waisenhaus im 17. Jahrhundert neu organisiert wurde. Harringtons Absicht ist es, einen breiten Kontext von Armenfürsorge und Wohlfahrtspflege in den Blick zu nehmen (S. 139). Die größte Leistung Albrecht Böhmers bestand darin, in der schwersten Zeit des Waisenhauses in den 1630er-Jahren das Sterben der Kinder durch effizientere medizinische Versorgung zu minimieren. Dennoch lag die Sterberate bei 60 bis 70%. Durch sein konsequentes Handeln in Zeiten von Krieg und schweren Hungersnöten fanden auch viele fremde Kinder Aufnahme ins Waisenhaus, und trotz hoher Arbeitslosigkeit konnten zahlreiche Kinder in Werkstätten untergebracht werden (S. 173).

In der vierten Biographie beschreibt Harrington das Schicksal eines kriminellen Jugendlichen im Kontext von Armut, Elternlosigkeit, fehlender Ausbildung und Kriminalität. Es gab laut Harrington jedoch nur wenige Kinder und Jugendliche, die mit diesen Lebenskoordinaten den Weg in die dauerhafte (Schwer)Kriminalität suchten und in kleineren Gruppen oder Banden auf der Straße lebten. Armut war in vielen Fällen der Hauptgrund für diesen Weg, aber doch nicht der einzige. Für das Leben auf der Straße waren horizontale Bindungen überlebensnotwendig. Auffällig ist hier die Bedeutung von Erwachsenen als ‚Vorbilder‘ in Gestalt von Eltern, Pflegeeltern und anderen Verwandten und Freunden. Der Autor beschreibt vom Kind bis zum Jugendlichen idealtypisch die verschiedenen ‚Eskalationsstufen‘ von Lebensmitteldiebstählen, Gelegenheitseinbrüchen bis hin zu organisierten Raubzügen als Akkulturation für eine professionelle Diebeskarriere, die im geschilderten Fall mit der Hinrichtung endete (S. 215). Folter und Hinrichtung von Jugendlichen und Frauen wegen Diebstahls waren jedoch selten und auch in Nürnberg ein erschreckendes Ereignis (zwischen 1560 und 1620 insgesamt 13 Fälle). Sie sind zugleich ein Zeugnis der Hilflosigkeit des Rates im Umgang mit jugendlichen Wiederholungstätern (S. 222).

Die letzte Fallstudie handelt vom Alltag im Nürnberger Waisenhaus und dem Schicksal des Zwillingspaares Eberhardt und Susanna Schier, die 1647 im Alter von neun Jahren ins Findelhaus gebracht wurden. Harrington untersucht Mortalitätsraten, Verweildauer und die Bedeutung des Waisenhauses für die Biographie der Zöglinge. Mit dem Einzug ins Waisenhaus betraten die Kinder eine völlig neue Welt. Sie wurden nach Geschlechtern getrennt und mussten sich in eine klosterähnliche Tagesroutine einfügen (S. 238). Arbeit, Sauberkeit, Ordnung und Hygiene bestimmten das Leben. Medizinische Versorgung, regelmäßigen Mahlzeiten und Unterricht waren meist neue und durchaus positive Erfahrungen für die Kinder (S. 241), ergänzt durch Freizeit, jährlich wiederkehrende Feste und Arbeiten außerhalb des Waisenhauses (Kranzsingen, Singen auf Beerdigungen etc.). Harrington gelingt es, den Umgang mit ungewollten Kindern als ein Spiegelbild für die Gesellschaft in der Vormoderne und zugleich als einen Indikator für sozialen Wandel zu lesen. Die Kennzeichen der ständischen Gesellschaft und ihr Umgang mit Randständigen lassen sich ebenso herauslesen, wie das Bemühen, den Zöglingen Fürsorge und einen verlässlichen Bezugsrahmen zu bieten (S. 251). Die Schier-Geschwister standen höher in der Hierarchie, weil sie von ehrlichen Eltern abstammten, das Stigma der Elternlosigkeit trugen jedoch alle. Das Schicksal der Schier-Zwillinge ist, wenn man so will, eine der wenigen nachweisbaren Erfolgsgeschichten des Waisenhauses. Beide konnten in Arbeitsstellen vermittelt werden, heirateten und hatten, soweit sich noch Spuren finden ließen, eine auskömmliche Existenz (S. 275f.).

Die geschilderten Einzelschicksale zeigen die verschiedenen Formen der ‚Zirkulation’ von ungewollten und verlassenen Kindern in der Frühen Neuzeit. Die Forschung hat zu den von Harrington behandelten Einzelaspekten bereits viele Informationen zusammengetragen, mit seiner Studie muss die Geschichte der Findelkinder nicht neu geschrieben werden. Es gelingt dem Autor aber auf überzeugende Weise, überkommene Vorstellungen von vernachlässigten und ausgesetzten Kindern in der Vormoderne zu modifizieren. Frauen trugen die Hauptlast, wenn diese Netzwerke nicht funktionierten. Ihre Benachteiligung spiegelte sich im Alltag der Waisenhäuser und korrespondierte in gewisser Weise mit dem Verhalten der Väter, die, so der Autor, bei vielen dieser Kinder sich ihrer Verantwortung entzogen (S. 278f.). Joel Harringtons Sprache ist gekennzeichnet von Empathie für ‚seine‘ Kinder, über deren einzelne Schicksale er jedoch nur wenig in Erfahrung bringen kann. Es ist ein etwas ‚gefühliger‘ Zugang, der gerade deutschsprachigen Historikern etwas befremdlich erscheint. Harringtons ‚Geschichten‘ sind dennoch ein wichtiger und differenzierter Beitrag für die Geschichte der Kindheit in der Frühen Neuzeit. Sie zeigen, dass es trotz unbestreitbarer Gewalt, Vernachlässigung und Einsamkeit vielfältige Formen der Zuwendung und Fürsorge gab.

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