L. Bluma u.a. (Hrsg.): Kontrollierte Arbeit – disziplinierte Körper?

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Title
Kontrollierte Arbeit – disziplinierte Körper?. Zur Sozial- und Kulturgeschichte der Industriearbeit im 19. und 20. Jahrhundert


Editor(s)
Bluma, Lars; Uhl, Karsten
Series
Histoire 27
Extent
431 S.
Price
€ 35,80
Reviewed for H-Soz-Kult by
Albrecht Franz, Historisches Seminar, Universität Heidelberg

Wo steht die Geschichte der Industriearbeit? Diese Frage stellen Lars Bluma und Karsten Uhl dem von ihnen herausgegebenen Sammelband voran. Zu Recht konstatieren sie die Vernachlässigung dieses Themas in den letzten Jahren, vor allem hinsichtlich einer Erneuerung der methodischen Herangehensweisen. Ihre Antwort auf die eingangs gestellte Frage ist daher zugleich Programm: Bluma fordert, "sich endgültig von einer Geschichte der Arbeit zu verabschieden, die ihren Untersuchungsgegenstand einzig in der Frontstellung von Arbeit und Kapital sieht" (S. 39). Demgegenüber gelte es, neue sozial- und kulturgeschichtliche Ansätze zu erproben. Auch wenn es die Herausgeber meist vorsichtiger formulieren als in der zitierten Passage, steht der Band für eine sich seit Kurzem andeutende Neuformulierung der Geschichte der Arbeit, die mit bisherigen Paradigmen bricht. Über die Notwendigkeit eines solchen Unterfangens können kaum Zweifel bestehen. Entscheidend ist jedoch, dass es dem Band gelingt, über die Programmatik hinaus Perspektiven von heuristischer Reichweite zu entwickeln.

Das konzeptionelle Zentrum des Bandes bildet der Begriff der Rationalisierung. Allerdings formulieren die Herausgeber einen Rationalisierungsbegriff, der sich einer Dichotomie von Disziplinierung und Widerstand verweigert, indem sie darunter ein "Kräfteverhältnis zwischen den verschiedenen Formen der Macht" verstehen (S. 13). Unter Rückgriff auf die Theorien Michel Foucaults wird Rationalisierung konzeptionell definiert, als Manifestation eines Diskurses, der sich in Regularien, aber auch in Raumordnungen, in Körperpraktiken und Identitäten niederschlug. Ziel ist damit "die historische Analyse des industriellen Arbeitsplatzes als komplexes Ensemble von Körpern, Maschinen und Arbeitsprozessen, welches neue Körper-, Raum- und Wissensordnungen produzierte" (S. 18). Daraus leiten sich auch die vier Kapitel ab, welche die insgesamt 13 Beiträge gliedern. Beginnend bei Prozessen der "Subjektivierung und Disziplinierung", decken die Aufsätze auch die Themen "Risikoregulierung und Gesundheit" ab, thematisieren Fragen der "Arbeitsorganisation und industrielle[n] Ordnung", aber auch die "Rationalisierung abseits der Produktion".

Im Fokus des ersten Kapitels stehen Prozesse der individuellen Aneignung industrieller Arbeit, aber auch deren Objektivierung, das heißt Problematisierung durch bestimmte Akteure. Lars Bluma nähert sich dieser Thematik mit dem Entwurf einer Körpergeschichte des Bergbaus. Seit den 1880er-Jahren habe sich aus der ursprünglich nachgelagerten Kompensation von Arbeitsrisiken eine Form der Biopolitik entwickelt, die über den Arbeitsschutz hinaus die Produktivität des bergmännischen Körpers einschloss. Diese alle Lebensbereiche umfassende Thematisierung des Arbeiterkörpers im Bergbau, deren Analyse bei Bluma weitgehend programmatisch bleibt, greift Dagmar Kift im folgenden Aufsatz auf. Sie weist nach, wie sich das von Carl Arnhold in den 1920er-Jahren entwickelte Konzept der "Menschenökonomie" über den Diskurs hinaus in vielfältigen Formen praktisch niederschlug. Bauliche Maßnahmen zählten dazu ebenso wie die Vorbereitung der Töchter der Bergleute auf ihre künftige Rolle als Bergmanns-Frauen. Sowohl Bluma als auch Kift betonen, dass eine Beschreibung dieser Phänomene als Disziplinierung zu kurz greifen würde, denn die damit einhergehenden Maßnahmen zur Unfallverhütung und Weiterbildung der Bergleute wurden von diesen durchaus geschätzt.

Peter-Paul Bänziger schärft anschließend den Blick für die Wahrnehmung des Arbeitsplatzes durch die Arbeitenden selbst. Am Beispiel von Berufsschulaufsätzen der 1950er-Jahre kann er nachweisen, dass trotz der vielbeschworenen Konsumgesellschaft auch noch Mitte des 20. Jahrhunderts die Arbeit zentral für das Selbstverständnis der Arbeitenden war. Allerdings wurde sie nicht anhand abstrakter Begriffe thematisiert, die Identifikation mit politischen Parteien oder der Arbeiterbewegung war gering. Vielmehr bezog sich die Wahrnehmung von Arbeit in erster Linie auf die Situation am konkreten Arbeitsplatz, die Produktionsverhältnisse an sich wurden keineswegs in Frage gestellt.

Auch die Beiträge zum Thema "Risikoregulierung und Gesundheit" tragen dieser Vielschichtigkeit des Gegenstandes Rechnung. Unterschiedlichste Akteurskonstellationen und Interessenlagen bestimmten den Umgang und die Thematisierung gesundheitlicher Risiken am Arbeitsplatz. So ging etwa der Kampf gegen die Bleifarbe in Frankreich maßgeblich auf einen Maler und Gewerkschafter zurück, dem es Anfang des 20. Jahrhunderts gelang, verschiedene Akteursgruppen für seine Sache zu mobilisieren – und zwar im Gegensatz zur Strategie der Gewerkschaften, wie Judith Rainhorn nachweisen kann. Manuel Schramm betont am Beispiel des Strahlenschutzes im Uranbergbau der BRD und der DDR hingegen den "Eigen-Sinn" (Alf Lüdtke) der Beschäftigten. Die Bergarbeiter entzogen sich einer Disziplinierung, indem sie Schutzbestimmungen ignorierten oder gar Sicherheitseinrichtungen sabotierten.

Demgegenüber nehmen Nina Kleinöder und Beat Bächi die Thematisierung von Arbeitsrisiken als ein sehr ambivalentes Phänomen in den Blick. Bächi untersucht die Diskussion um Grenzwerte für potentiell gefährliche Stoffe. Ab Mitte der 1970er-Jahre konstatiert er eine "Dethematisierung" der Problematik. Während die Kritik an den Verfahren zur Bestimmung von Grenzwerten wuchs, die das individuelle Risiko in statistischen Größen einebneten, wurde das Krankheitsverschulden zunehmend individualisiert. Der (ungesunde) Lebenswandel der Beschäftigten wurde zum Argument, keine sichere Grundlage für die Bestimmung von Grenzwerten zu besitzen. Dieser Befund fällt in eine Zeit, für die Nina Kleinöder eine qualitativ neue Ausdifferenzierung des Arbeitsschutzgedankens konstatiert. Die von Kleinöder untersuchte Bewegung zur "Humanisierung der Arbeitswelt" thematisierte nicht nur die direkte und indirekte körperliche Unversehrtheit, sondern machte auch die Arbeitsplatzzufriedenheit zu einem gesundheitlichen Faktor. In einer unternehmensgeschichtlichen Perspektive kann Kleinöder für den Bergbau sowie die Eisen- und Stahlindustrie zeigen, wie veränderte Produktionsweisen und politische Programme ineinandergriffen und die Praxis des Arbeitsschutzes stark veränderten. Nur am Rande erwähnt Kleinöder in diesem Zusammenhang die "Sozialpartnerschaft", ohne dieses Konzept in Bezug zur Praxis der Arbeitsplatzgestaltung zu setzen. Hier wäre weiterführend zu fragen, welche Rolle die veränderte Wahrnehmung der Arbeitnehmer als "Partner" für den Umbau der Arbeitsschutzsysteme gespielt haben könnte.

Von einem deutlich breiteren Interpretationsspielraum, als es ein "klassisch" verstandener Rationalisierungsbegriff erwarten ließe, ist auch das Kapitel "Arbeitsorganisation und industrielle Ordnung" gekennzeichnet. So zeigt Timo Luks an der Einführung der Fließbandarbeit in der deutschen und englischen Autoindustrie, wie Dynamik und das reibungslose Fließen nicht nur zentrale Topoi für die Gestaltung der Produktion und der betrieblichen Sozialbeziehungen bildeten, sondern gleichzeitig eine Reaktion auf die Erfahrung der Moderne darstellten. Willeminje Linssen und Christine Schnaithmann setzen bei Fragen der Arbeitsorganisation an. Am Beispiel des belgischen Bergbaus und der Problematisierung des Schreibtisch-Arbeitsplatzes im Rahmen des Taylorismus weisen sie nach, dass Disziplinierung und Verbesserung der Arbeitsbedingungen Hand in Hand gingen – selbst im Falle extremer Ausprägungen des Taylorismus wie Bewegungsstudien für die Schreibtischarbeit.

Dieses Ineinandergreifen von Rationalisierung und Humanisierung thematisierten bereits zeitgenössische Experten, wie Karsten Uhl zeigen kann. Am Beispiel der Betriebskantine als einem Ort der "Rationalisierung abseits der Produktion" macht Uhl deutlich, dass Arbeitswissenschaftler und Industriepädagogen das Auseinanderfallen von Arbeits- und Lebensraum schon in den 1920er-Jahren als "Fabrikproblem" identifizierten. Die vielfach auf die Eigenmotivation von Unternehmern zurückzuführende Einrichtung von Speisesälen war eine Möglichkeit erwünschtes Verhalten zu erzeugen, indem an die Bedürfnisse der Belegschaft angeknüpft wurde. Diese Bemühungen trieb im Nationalsozialismus das "Amt für Schönheit der Arbeit" auf die Spitze, wenn auch unter völlig anderen Vorzeichen. Mark Cole stellt deren Kampagne zur Einrichtung von Kantinen in einen engen Zusammenhang mit erwünschten Formen der Ernährung. Kantinen bzw. das Konzept der "Gemeinschaftsverpflegung" waren Ansatzpunkte für eine Steuerung der "Volksernährung", die nicht zuletzt durch eine bestimmte Auswahl der Speisen der Autarkiepolitik dienen sollte.

Insgesamt gelingt es dem Band, die thematische und perspektivische Vielfalt der Beiträge in ein Argument zu verwandeln. Denn gerade aufgrund der sehr verschiedenen Untersuchungsgegenstände gerät der Vorschlag, Rationalisierung und Humanisierung zusammenzudenken, sehr überzeugend. Das liegt nicht zuletzt daran, dass der Nachweis über die Ambivalenz von Rationalisierung anhand von Quellen und Phänomenen gelingt, die bislang vor allem als Belege für Disziplinierung dienten. Judith Rainhorns Beitrag zeigt, wie sinnvoll es sein kann, gerade auch die "klassischen" gewerkschaftlichen Quellen einer erneuten Analyse unter anderen Vorzeichen zu unterziehen. Erst der Rückgriff auf das Foucaultsche Theorie-Angebot macht diese Erprobung neuer Beschreibungsmodi außerhalb gängiger Interpretationsschemata der Industrie- und Arbeitergeschichte möglich. Zwar ist die theoretische Durchdringung der einzelnen Beiträge durchaus unterschiedlich, doch die gemeinsamen begrifflichen und theoretischen Bezugspunkte verleihen dem Band argumentative Kohärenz.

Den Herausgebern ist es allerdings nicht nur gelungen, nicht ganz neue Zweifel an gängigen Erklärungsschemata der Arbeitergeschichte zu bestätigen. Das Verdienst des Bandes liegt auch darin, zahlreiche weiterführende Perspektiven aufzuzeigen. Hervorzuheben ist hier die an vielen Stellen angedeutete Ebene der räumlichen Dimension betrieblicher Ordnung, das heißt die soziale Dimension von Fabrikarchitektur. Foucaults Thesen können auf diese Dimension von Raumordnungen zwar hinweisen. Für die historische Analyse wären jedoch weiterführende theoretisch-methodische Überlegungen nötig, etwa unter Rückgriff auf Ansätze der Architekturtheorie. Die Beiträge dieses Bandes haben den historiographischen Nutzen derartiger Zugänge deutlich gemacht. Es ist der Geschichte der (Industrie-) Arbeit zu wünschen, dass weitere Untersuchungen diesem Beispiel folgen.

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