C. Baechler: Guerre et Exterminations à l'Est

Titel
Guerre et Exterminations à l'Est. Hitler et la conquête de l'espace vital 1933-1945


Autor(en)
Baechler, Christian
Erschienen
Anzahl Seiten
600 S.
Preis
€ 27,29
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jost Dülffer, Historisches Institut, Universität zu Köln

Wenn man liest, dies sei das erste Buch zu einem Thema der deutschen Geschichte in der eigenen Landessprache, wird der Leser schon hellhörig: Ist Wissenschaft nicht international, lebt sie nicht vom Austausch über die Grenzen hinaus und von der Lektüre von Ergebnissen anderer Autoren, auch wenn sie nicht in der je eigenen Muttersprache geschrieben sind? Das wird anders, wenn man sich vor Augen führt, dass der Autor nur je eine gute Handvoll an bedeutenderen Arbeiten französischer Autoren und ins Französische übersetzter Verfasser zur NS-Geschichte insgesamt heranzuziehen weiß. Es gibt offensichtlich ein gewisses Defizit zum Thema beim westlichen Nachbarn, das sinnvollerweise mit einer nicht nur sprachlichen, sondern wissenschaftlichen Übersetzungsleistung wie dieser überbrückt werden kann.

Baechler selbst ist gerade in dieser Hinsicht kein Unbekannter. Der emeritierte Professor von der Université de Strasbourg hat neben mehreren Büchern zur elsässischen Geschichte mindestens fünf weitere Bände mehr oder weniger großflächig zu Themen der deutschen Geschichte vom Kaiserreich bis 1933 vorgelegt, zuletzt 2007 eine Gesamtdarstellung zur Weimarer Republik. Was die bisherigen Arbeiten auszeichnet, das gilt auch hier: eine gründliche Kenntnis der deutschen Forschungsliteratur, eine elaborierte Darstellung, die souverän hiervon Gebrauch macht und eine klare Linie der Gedankenführung, bei der Baechler insgesamt zu goldenen Mittelwegen neigt.

Der Autor holt bei dieser umfassenden Darstellung des deutschen Ausrottungskrieges im Osten weit aus, zeigt die Probleme der deutschen Mittellage seit dem 19. Jahrhundert, die hier eher als Sicherheitsprobleme angesichts mächtiger Nachbarn apostrophiert werden. Er berichtet kenntnisreich die Entwicklung von deutschen Stereotypen gegenüber Polen und Russen, aber er widerspricht einem zu einfach formulierten durchgängigen „Drang nach Osten“. Nach knapp fünfzig Seiten ist Baechler bei Hitler angelangt: bei seinem radikalen Russlandbild, dem Lebensraum im Osten. Der Diktator und sein rassenideologisches Programm nehmen dabei eine zentrale Rolle ein. Nicht nur hier, sondern durchgängig merkt man, wie sehr der Verfasser den Arbeiten von Andreas Hillgruber und anderen in seiner Nachfolge verpflichtet ist: Der „Führer“ bestimmte nicht nur den Kurs der Außenpolitik und den Weg in den Krieg, sondern auch die Grundausrichtung des ganzen Systems. Alle wichtigen Entscheidungen seien von ihm getroffen worden – oft gegen den Willen von Ratgebern (S. 58). Die diplomatische Revolution in Europa – ein Begriff von Gerhard L. Weinberg – setzte schon 1933 ein und führte folgerichtig zum Krieg. Diese Konzentration auf den Diktator sagt noch nichts über die Handlungsoptionen und Handlungen der militärischen und zivilen Führung im Krieg und zumal im Ostkrieg, der hier ja im Mittelpunkt steht, eingebettet aber je in die weltpolitische Lage und die durchaus über den „Lebensraum“ hinausreichenden Kriegsziele.

Polen und der Sowjetunion gilt Baechlers Aufmerksamkeit. Zu Recht arbeitet er im Anschluss etwa an Jochen Böhler die frühen Ansätze zum Vernichtungskrieg im September 1939 heraus, zeigt sodann die Dimensionen deutscher Besatzung besonders im Generalgouvernement. Er spricht hier von einem Laboratorium der Rassenpolitik. Nachdruck legt er unter anderem auf die Germanisierungspolitik und die sehr engen Grenzen polnischer Selbständigkeit. Über den polnischen Untergrundstaat hätte man allerdings gern mehr gelesen. Es folgt der Überblick über die Planungen für den „programmatischen“ Krieg gegen die Sowjetunion, der zugleich Vernichtungskrieg war, und dessen Umsetzung. Nach dem Scheitern des „Blitzkrieges“ 1941 werden die weiteren militärischen Etappen, inklusive den Sommeroffensiven der folgenden Jahre bis 1944 vergleichsweise knapp abgehandelt.

Das schafft die Folie für stärker strukturgeschichtliche Unterkapitel über Vorbereitung und Durchführung der Besatzung, von Siedlungsplanungen im Rahmen des Generalplans Ost und der erfolgten bescheideneren Besiedlung etwa in der Ukraine. Es geht um die wirtschaftliche Ausbeutung, den „Partisanenkrieg“ und sodann um die „Endlösung“, vor allem um die Rolle der mitwirkenden Organe nicht nur etwa der Einsatzgruppen, sondern auch aus der Wehrmacht. Die Radikalisierung der entsprechenden Politik gegenüber den Juden sieht Baechler bereits vor dem deutschen Angriff 1941 vorbereitet, konstatiert jedoch im Spätherbst dieses Jahren einen neuen Schub, der dann mit der Wannseekonferenz institutionalisiert wurde. Dabei führt der Autor als Gewährspersonen vor allem Christopher Browning, aber auch Ian Kershaw an. Von den sogenannten Funktionalisten hält er weniger (S. 340f., S. 369, S. 383): „Il y a aujourd’hui un relatif consensus entre historiens pour dire que le processus de décision s’inscrit dans la durée, mais le débat persiste sur les décisions et les avènements marquants“.

Baechlers Grundkonzeption stammt – wie könnte es bei einem älteren Autor anders sein? – aus den 1960er- und 1970er-Jahren. Aber er integriert gerade in seiner breiten Narratio zum Ostkrieg lange Passagen mit sprechenden Quellen, welche die Sichtweise und Beteiligung von untergeordneten Instanzen vor allem der Wehrmacht und Bürokratie zeigen, die erst in den intensiven Forschungen der letzten Jahre erschlossen worden sind. Und hier hat er eine stupende Kenntnis der jüngeren Forschung aufzuweisen – bis ins Jahr 2011 hinein. Immer wieder stützt er sich auf Forschungen von – um nur einige zu nennen – Christoph Rass, Benjamin Ziemann, Thomas Kühne, Felix Römer, Klaus Latzel, Christian Hartmann und Johannes Hürter, deren Forschungen er auch der jeweiligen Tendenz nach ausgiebig zitiert. Gewiss existieren zwischen diesen auch gravierende Unterschiede und einige Kontroversen, die aber zumeist nicht explizit gemacht werden, wenn Baechler eine Bandbreite der heutigen Diskussionen benennt. Das gibt ihm auch Gelegenheit, gegen die ältere Apologie einer sauberen Wehrmacht mit Gründen aus dem Geschichtsbewusstsein und der Geschichtspolitik der früheren Bundesrepublik anzuschreiben. Das ist durchweg überzeugend gelungen.

In der Bilanz arbeitet der Strasbourger Historiker die Fragen nach den Diskontinuitäten in einer doch in vielen Faktoren konstanten deutschen Entwicklung bis 1945 heraus. Die Rassenordnung, die im Konzept der „Volksgemeinschaft“ angelegt sei, habe sich im Krieg zu einer „Kampfgemeinschaft“ gewandelt. Mit der Kriegswende 1942/43 sei daraus propagandistisch eine „Schicksalsgemeinschaft“ geworden, ab 1942 auch eine „Leidensgemeinschaft“, die sich gar vielfach als eine „Opfergemeinschaft“ dargestellt habe. Während die zitierten Begriffe auch im deutschen Original stehen (S. 407), schließt der Verfasser an: „La participation active ou passive aux crimes, le sang des ennemis versé créent, en quelque sort, une ‚communauté de criminels‘ qui combat jusqu’à mort“. Eine Verbrechergemeinschaft – das ist aber nicht Baechlers letztes Wort. Er arbeitet gerade die vorausgehende und bleibende Heterogenität der deutschen Gesellschaft (S. 422) heraus, wonach sich diese Etiketten je nach Zeitpunkt, sozialer Gruppe und Einzelpersonen differenzierten. Das ist ein wesentliches Verdienst dieser Arbeit, mit der der deutsche (und englischsprachige) Forschungsstand überzeugend ins Französische und damit nach Frankreich übersetzt wird. Es scheint so, dass dies eine nach wie vor erforderliche Leistung ist – und sie ist voll geglückt.

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