H. Hahn u.a. (Hrsg.): Deutsch-Polnische Erinnerungsorte, Bd. 3

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Titel
Deutsch-Polnische Erinnerungsorte, Band 3:. Parallelen


Herausgeber
Hahn, Hans Henning; Traba, Robert
Erschienen
Paderborn 2011: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
490 S.
Preis
€ 58,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Troebst, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) an der Universität Leipzig

Der seit zwei Jahrzehnten anhaltende „Memory-Boom“ verstärkt sich weiter: Nach jeweils drei Bänden deutschen sowie neuerdings europäischen Erinnerungsorten und zahlreichen weiteren Sammelpublikationen samt einigen Monographien zu nationalen wie transnationalen lieux de mémoire liegt nun der erste Band einer fünfteiligen (und zweisprachigen) Sammlung „Deutsch-polnische Erinnerungsorte“ vor. 1 Er enthält 22 Beiträge polnischer und deutsche Autoren zu einer atemberaubenden thematischen Bandbreite – von „Lolek und Bolek und Sandmännchen“ über „Käfer und Maluch und Trabi“ und „Paulskirchenverfassung von 1848/49 und Verfassung vom 3. Mai 1791“ zu „Versailles und Jalta und Potsdam“. Jeder Beitrag besteht dabei aus einem enzyklopädischen Stichwort, einem analytischen Essay, weiterführender Literatur sowie Anmerkungen, mitunter auch Abbildungen. Personen- und Ortsregister erschließen den Band.

Unter Zugrundelegung einer von Klaus Zernack konstatierten Beziehungshaftigkeit polnischer und deutscher Geschichte haben die Herausgeber „gemeinsame, geteilte sowie parallele Erinnerungsorte“ identifiziert und teils einzelnen Autoren, teils deutsch-polnischen Autorenpaaren zur Behandlung übertragen. Der vorliegende Band ist den genannten „parallelen Erinnerungsorten“ gewidmet – den Herausgebern zufolge „eine neue Variante von Erinnerungsorten, die in der bisherigen wissenschaftlichen Literatur noch nicht behandelt worden ist“ (S. 17). Dabei handelt es sich ihnen zufolge um „völlig unterschiedliche historische Phänomene“, die aber „auf der Ebene der Funktionalität Parallelen aufweisen“ und eine „spezifische Funktion für [den] Identitäts- und Erinnerungshaushalt“ der jeweiligen Gesellschaft aufweisen (ebd.).

Daraus ergeben sich interessante Perspektiven sowohl auf die die einzelnen Nationalgesellschaften wie vergleichend auf beide. Paradigmatisch ist etwa Peter Oliver Loews Beitrag „Targowica und Dolchstoß. Verrat auf Vorrat“ (S. 203-216). Die Konföderation von Targowica 1792 gilt als Verrat an den nationalen Idealen der polnischen Adelsrepublik durch pro-russische Magnaten, und der Dolchstoß steht für die gleichnamige Legende, der zufolge die Politik dem im Felde angeblich unbesiegten deutschen Heer 1918 in den Rücken gefallen sei. In beiden Fällen „[genügt] ein Wort […], um ganze Kaskaden von Erinnerungen und Emotionen freizusetzen, Debatten anzuheizen, energischen Widerspruch zu provozieren, teilweise bis heute.“ (S. 204) Im Ergebnis einer eingehenden Analyse vor allem des polnischen Falls kommt Loew zu dem Ergebnis, dass der „Stellenwert im jeweils nationalen Gefühlshaushalt“ dennoch stark unterschiedlich ist: „Targowica“ ist auch 220 Jahre später ein Schlachtruf im parteipolitischen Kampf, wohingegen der „Dolchstoß“ generationell gebunden und somit fast vergessen ist. Und für die Zukunft vermutet er, dass die beiden negativ aufgeladenen Erinnerungsorte in denationalisierter Form „potentielle Bestandteile einer reifer werdenden Kultur des respektvollen Umgangs der Menschen und Völker miteinander“ sind (S. 215). Das bliebe denn doch abzuwarten.

In mehrfacher Hinsicht ein Gegenstück zu Loews Targowica-Dolchstoß-Vergleich ist Leszek Żylińskis Gegenüberstellung von „Mitteleuropa und Intermarium. Mythisches Reich und Alptraum der Geschichte – im Griff der ‚Großen Politik‘“ (S. 94-106) – zwei weitgehend versunkenen und daher in der Gegenwart kaum noch wirkungsmächtigen lieux de mémoire. „Mitteleuropa“ steht dabei für die deutsch-imperiale Großraumkonzeption vor dem Nationalsozialismus, „Intermarium“ für das in der Zweiten Polnischen Republik der Zwischenkriegszeit entworfene Konzept einer Neuauflauge des polnisch-litauischen Commonwealth der Frühen Neuzeit in Form einer „von Meer zu Meer“ reichenden Staatengruppe unter Führung Warschaus. Dieses Międzymorze/Zwischenmeergebiet bzw. „Dritte Europa“ sollte von der Ostsee bis zu Adria, Ägäis und Schwarzem Meer reichen und war damit in konfliktträchtiger Weise weitgehend deckungsgleich mit Friedrich Naumanns Mitteleuropakonzeption aus dem Ersten Weltkrieg. Nicht ganz kann die vom Autor vorgenommene Verlängerung zur zentraleuropäischen Mitteleuropadiskussion der 1980er Jahre sowie zum historiographisch-geschichtsregionalen Konzept „Ostmitteleuropa“ überzeugen. Hier handelt es sich eher um etymologische denn inhaltliche Ähnlichkeiten.

Beträchtliches intellektuelles wie politisches Provokationspotential weist der aussagekräftig illustrierte Beitrag von Christoph Kleßmann und Bandmitherausgeber Robert Traba über „Kresy und Deutscher Osten. Vom Glauben an die historische Mission – oder Wo liegt Arkadien?“ auf (S. 37-70). Während „Kresy“ (wörtlich „Provinzen“, übertragen „Ostgebiete“) heute für die Nostalgie nach den 1939 verlorenen und heute ukrainischen, weißrussischen und litauischen Territorien Zwischenkriegspolens steht, dabei zwar patriotisch-sentimental, aber nicht revanchistisch konnotiert ist, gilt das Invozieren des „Deutschen Osten“, gar die öffentliche Erinnerung an seinen Verlust, als politisch nicht korrekt. Zu stark ist gegenwärtig die (partiell unhistorische) Zuordnung dieses Begriffs zur nationalsozialistischen Ideologie samt Expansionspolitik, was indes, wie die Autoren zeigen, bis in die 1960er Jahre hinein in der alten Bundesrepublik noch nicht so war. Hier wird die Parallelität deutscher und polnischer Geschichte bei unterschiedlicher erinnerungskultureller Deutung zweier Sehnsuchtsorte besonders augenfällig. Und der Umstand, dass Deutschlands verlorener Osten heute Polens Westen ist, belegt erneut die Beziehungshaftigkeit beider Nationalgeschichten.

Deren Berücksichtigung hätte man sich auch bezüglich einer Reihe weiterer Bandbeiträge gewünscht. Im Aufsatz von Beata Halicka über „Rhein und Weichsel. Erfundene Flüsse oder Die Verkörperung des ‚Nationalgeistes‘“ (S. 71-93) etwa werden solche kaum hergestellt. Zwar nennt die Autorin Jan Karol Kochanowskis 1913 erschienenes Buch „Nad Renem i nad Wisłą. Antyteza dziejowa“ (An Rhein und Weichsel. Historische Antithese), streift aber den Inhalt nur mit einem Satz. Und weder die pejorative deutsche Bezeichnung Weichselzopf für die in Mittelalter und Früher Neuzeit verbreitete Haut- und Haarkrankheit plica polonica noch die zeitgleiche Vorliebe polnischer Adliger für Rheinwein werden hier genannt. Aufgewogen wird dieses lässliche Versäumnis durch die Ausführungen der Autorin zum Symbol des Rodło, eines den geographischen Verlauf der Weichsel symbolisierenden S-ähnlichen Zeichens in Weiß auf rotem Grund, das der Bund der Polen in Deutschland 1933 aufgriff, um „mit dem damals in Deutschland dominierenden Hakenkreuz zu konkurrieren“. (S. 85) Und dass die überdimensionalen Frauenfiguren des 1891 vor dem Berliner Stadtschloss errichtete Begassche Neptunbrunnens die Flüsse Rhein, Elbe, Oder und Weichsel symbolisieren, ist, wenn keine neue, so doch eine verschüttete Erkenntnis.

Der anspruchsvoll konzipierte Parallelen-Band der „Deutsch-Polnischen Erinnerungsorte“ stellt zweifelsohne eine horizonterweiternde Lektüre dar, und dies mitnichten nur für solche Historiker und Kulturwissenschaftler, die sich für das deutsch-polnische Bilateralitäten interessieren. Auf die Bände 1 und 2 – „Geteilt / Gemeinsam“ -, 4 – „Reflexionen“ – und 5 – „Erinnerung auf Polnisch. Texte zu Theorie und Praxis des sozialen Gedächtnisses“ – darf man daher gespannt sein.

Anmerkung:
1 Zeitgleich ist die polnische Fassung erschienen: H. H. Hahn / R. Traba (red.): Polsko-niemieckie miejsca pamięci. Tom 3: Paralele. Warszawa 2012.

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