St. Gallen bildet in der Mediävistik einen bedeutenden Forschungsgegenstand. Veröffentlichungen und Ausstellungen verschiedener Fächer und interdisziplinärer Projekte widmen sich der Klostergeschichte, etwa den Casus sancti Galli, dem Klosterplan, dem Skriptorium mit seiner herausragenden Buch- und Illuminationskunst und den nach diesem Ort benannten Neumen – jener Musiknotation, die nicht nur für die wissenschaftlichen Disziplinen der Paläographie und Semiologie, sondern auch für die gegenwärtige musikpraktische Aufführung des Gregorianischen Chorals eine entscheidende Grundlage bildet. Weit weniger Aufmerksamkeit erfährt hingegen der eponyme Gründer des Ortes: der um 560/70 geborene und etwa 640 gestorbene heilige Gallus. Seine um 612 erfolgte Wahl jenes Ortes für eine Zelle, aus der rund ein Jahrhundert später das nach ihm benannte Kloster hervorgehen sollte, bot den Anlass für zwei Publikationen: einen reich bebilderten Katalog zur Ausstellung in der bedeutenden Stiftsbibliothek von St. Gallen und eine umfängliche Monographie zum Leben des Heiligen aus der Feder des Historikers und Theologen Max Schär.
Der Katalog ist entsprechend den Vitrinen sowie weiteren Ausstellungseinheiten in Barocksaal und Lapidarium gegliedert. Dabei werden verschiedene Aspekte beleuchtet: Leben und Wunder, Zeit und Zeitgenossen, Irland und der Kontinent, Liturgie, Dichtung, Reliquien und Kultgegenstände, Klosterplan, Druckgraphik, neuzeitliche Verehrung und Ikonologie im Wandel der Zeit. Die insgesamt zehn Kapitel enthalten zum einen Beiträge der Autoren Karl Schmuki, Franziska Schnoor und Ernst Tremp, zum anderen ausgewählte, in hoher Auflösung auf Kunstdruckpapier wiedergegebene farbige Abbildungen. Die Mittellateinerin Franziska Schnoor bietet darüber hinaus eine deutsche Wiedergabe der zweiten, von Wetti verfassten Lebensgeschichte des Heiligen. Verzeichnisse mit Literaturhinweisen sowie den ausgestellten Handschriften, Inkunabeln, Drucken, Gegenständen und weiteren Abbildungen, erwähnten Handschriften und Inkunabeln samt Abbildungsnachweis beschließen den Band. Dieser Katalog zeigt eindrucksvoll, dass Ausstellungen nicht nur Objekte präsentieren und einer breiteren Öffentlichkeit kommentierend zugänglich machen, sondern auch unterschiedliche Fächer gewinnbringend miteinander verknüpfen und zunehmend sogar neue Forschungsergebnisse zutage fördern. So erläutert etwa Karl Schmuki eine in der Ausstellung zu sehende und im Band abgebildete Koranhandschrift, die von dem Zürcher Arabisten Henning Sievert identifiziert und näher bestimmt worden ist (S. 38).
Lediglich wenige Einzelheiten ließen sich hier und da diskutieren: So enthält das Antiphonar von Bangor, das zu Recht als „die älteste irische liturgische Handschrift“ ausgewiesen wird, in der Tat „Lieder und Gebete“ für die „Feier des Stundengebetes, besonders des ausgedehnten Morgengottesdienstes (Ad matutinam)“ (S. 52). Doch der Hinweis, es fänden sich darin „aber auch Gesänge für die Messfeier“ trifft nur rückblickend zu: Der weiter unten genannte Messgesang „Gloria in excelsis“ etwa stammt ursprünglich aus dem Morgenlob, wo er in verschiedenen ostkirchlichen Riten noch heute begegnet (Orthros). Erst über die Ostervigil und die Weihnachtsmatutin (Christmette), wo Stundengebet und Messfeier unmittelbar aufeinanderfolgen, ist es in die Ostermesse sowie wegen des Anfangszitats aus der Kindheitsgeschichte Jesu (Lukas 2,14) in die Weihnachtsmesse und erst dann in die Messen der Sonn- und Festtage gelangt. Das Antiphonar lässt somit eine frühere liturgische Ordnung erkennen, die gesonderte Aufmerksamkeit verdient. Auch hätte man beim Hinweis auf die Confessio der St. Galler Kirche (S. 123f.) einen kurzen Hinweis auf das römische Vorbild erwartet. An Beispielen wie diesen wird aber nur einmal mehr deutlich, dass der Katalog nicht zu viel verspricht, gelegentlich eher noch weit mehr Inhalte und Potentiale birgt, als auf den ersten Blick ersichtlich werden mag.
Max Schär gliedert seine umfangreiche Monographie in zwei gleichsam symmetrische Teile: „Die Zeit und Gallus“ und „Gallus und die Zeit“. Im ersten Teil widmet er sich den Quellen, Gallus' Herkunft, Stationen seines Lebens, Fragen der „Chronologie“ (gemeint sind neuere Probleme und Überlegungen zu Datierungen), Reisewegen, Schauplätzen, Religion, Machtträgern und Bischofswahl (Kapitel I–X), im zweiten beleuchtet er Charakterzüge und Lehrer, Gallus‘ Entwicklungsweg und Alltag, seine Freunde und Zeitgenossen, seine Naturerfahrungen unter besonderer Berücksichtigung der Begegnung mit dem Bären, der zum Attribut des Heiligen werden sollte, schließlich Tod und Begräbnis sowie „Neues Leben“, das heißt sein religiöses wie auch literarisches und künstlerisches Nachleben (Kapitel XI–XX). Nach dem Abschluss runden eine Zeittafel und eine „Stammtafel der für die Gallusvita bedeutsamen Merowinger“, ein Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Personen- und Ortsregister den Band ab.
Die einschlägigen Veröffentlichungen sind weitgehend berücksichtigt, auch wenn das Standardwerk „Heilige und Reliquien“ von Arnold Angenendt im Literaturverzeichnis nicht erscheint (vergleiche S. 510), während es zuvor zitiert wird (S. 489 Anmerkung 31). In seiner Einleitung verspricht Max Schär: „So ist eine Monographie entstanden, die als die bisher gründlichste und umfassendste Buchveröffentlichung zum Thema bezeichnet werden darf“ (S. 13). In der Tat hat der Autor akribische Fleißarbeit geleistet. Er lässt die Quellen selbst zu Wort kommen und zitiert auch reichlich aus der Sekundärliteratur, wobei er neben den vorliegenden Publikationen auch Passagen aus einem an ihn adressierten Brief seines Lehrers Walter Berschin wortgetreu einfließen lässt (S. 23 Anmerkung 28, S. 24 Anmerkung 32).
Über weite Teile liegt somit ein sehr nützlicher Quellen- und Literaturbericht vor, an den sich jeweils eigene Ergebnisse und Überlegungen des Autors anschließen. So endet etwa das Kapitel II zu Gallus‘ Herkunft mit dem Abschnitt 5 unter der Überschrift „Lösungsvorschlag“ (S. 70–76). Dieser besteht darin, dass Gallus als „Frühaufsteher“ charakterisiert worden sei, beim Hahnenschrei, dem gallicinium. Diese These überzeugt weit mehr als ältere Bemühungen, ihn mit einer gallischen Herkunft in Verbindung zu bringen. Auch Namen wie „Stammler“ (Notker Balbulus), „Großlippiger“ und „Pefferkorn“ gehören in diese Reihe (vergleiche S. 75), und es ließen sich weitere anführen wie etwa „Hermann der Lahme“ (von Reichenau). Bei „Gallus“ wäre den Belegen Max Schärs noch hinzuzufügen, dass im Kloster mit den Worten ad Gallicinium oder ad Galli cantum die Vigil nach Mitternacht bezeichnet und diese Zeit mit der Auferstehung Christi in Verbindung gebracht wurde. Hier könnte auch der vom Autor zitierte Ausspruch des Rhabanus Maurus auf das „künftige Licht des ewigen Lebens“ (S. 74) seinen tieferen Sinn haben.
Von gängigen geschichtswissenschaftlichen Darstellungen unterscheidet sich der Band vor allem durch seinen in Teilen sehr persönlich gehaltenen, zuweilen erlebnisbezogenen Stil, insbesondere in der Einleitung und im „Schlusswort: Gallus – ein Heiliger?“. Dieses abschließende Resümee fragt eher aus einem systematisch-hagiologischen denn Hagiographie analysierenden geschichtswissenschaftlichen Interesse heraus: Max Schär sucht darin, allgemeingültige Kriterien aufzustellen, die einen Menschen zur Heiligen oder zum Heiligen machen und sieht diese im Fall Gallus bestätigt. Dementsprechend erfährt hier wie im gesamten Band die Vita weit mehr Aufmerksamkeit als die postumen Mirakel und die damit verbundene Rezeptionsgeschichte, die Gallus überhaupt erst zum verehrten sanctus und zum patronus haben werden lassen.
Zu Recht betont Max Schär gleich zu Beginn seines Buches, dass die Vita des Gallus „ähnlich wie das Leben Jesu in der synoptischen Tradition“ in drei Fassungen vorliege (S. 19). Mit der biblischen Tradition verbindet die hagiographische aber auch ein Gros des Sprachschatzes, und so lässt sich das lateinische Wort virtutes nicht allein als heiligmäßige „Tugenden“ (S. 199, ferner S. 477) begreifen. Vielmehr bezeichnet virtus bereits in den lateinischen Bibelfassungen, in der besonders liturgisch rezipierten Vetus latina wie auch in der kanonischen Vulgata, analog zum griechischen Wort ‚dýnamis‘ eine einzigartige ‚Wirkmächtigkeit‘, im Falle Jesu Christi sogar göttliche ‚Allmacht‘. Dieses sprachliche Detail widerspricht aber den grundlegenden Erkenntnissen des Autors nicht, sondern sei hier nur ergänzend angemerkt.
Beide Bände bieten bündige Überblicksdarstellungen und beleuchten auch bisher wenig beachtete Fragen, etwa die Überschneidungen der Lebensdaten des Gallus mit denen Mohammeds und die frühneuzeitliche Rezeption des Heiligen in unterschiedlichen konfessionellen Kontexten. Auf je eigene Weise richten sie ihr Augenmerk auf einen zentralen, bisher aber kaum beachteten Gegenstand. Zu dessen weiterer Erforschung bilden sie eine solide neue Grundlage und bieten zahlreiche Anknüpfungspunkte für verschiedenste Fächer.