Cover
Titel
German History in Modern Times. Four Lives of the Nation


Autor(en)
Hagen, William W.
Erschienen
Anzahl Seiten
XVIII, 463 S.
Preis
€ 78,32
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dieter Langewiesche, Historisches Seminar, Eberhard Karls Universität Tübingen

Den gängigen „Meistererzählungen“ widersprechend ist William W. Hagen ein meisterliches Werk gelungen. Er bläst keine Marktfanfare, sondern erzählt unaufgeregt mit leiser Stimme, kein neuer „turn“, keine transnationale Überwindung der Nationalgeschichte wird ausgerufen. In der chronologischen Gliederung konventionell mit den vertrauten politischen Großzäsuren, doch unkonventionell in deren Ausfüllung wird die deutsche Geschichte seit der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart nicht als eine Entwicklungskette konstruiert, in der sich jedes Glied aus den vorhergehenden ableiten lässt. Die Deutschen hatten, wie der Untertitel signalisiert, vier Leben, miteinander verbunden und doch eigenständige Phasen, die nicht folgerichtig ineinander übergehen: „a succession of polycentric national existences“ (S. 17). Damit entzieht sich Hagen keineswegs der Gretchenfrage an die jüngere deutsche Geschichte. „Was Hitler’s ‚Third Reich‘ a regressive and barbarous departure from the path of all-conquering Enlightenment, or was it an ominous embodiment of antiliberal modernity?“ (S. 5) Für die Frage nach „the strength of the liberal-democratic blueprint of rational progress to interpret the real world of human history“ begreift er die deutsche Geschichte als „one of its crucial testing grounds“ (S. 5). Seine Antwort, die sich durch das Buch zieht, ist beunruhigender als die Erklärung der vielen, die genau zu wissen meinen, warum es so kam, wie es gekommen ist. Die politischen Nationen – der Plural ist Hagen wichtig –, die aus der deutschsprachigen Bevölkerung Mitteleuropas hervorgingen, waren „in its originality, unpredictable from preceding vantage points“ (S. 425). Es hätte auch anders kommen können – in Deutschland und wo immer Menschen fähig waren, „vital and constructive forms of civilization“ (S. 426) zu entwickeln. Hagen gibt der Vergangenheit ihre Offenheit zurück; sie geht nicht in dem auf, was später daraus geworden ist. Das ist seine Meistererzählung. Sie akzeptiert, dass es Geschichtsbrüche gibt, die nicht vorauszusehen waren, und mutet so den Lesern die Einsicht zu, auch die eigene Gegenwart nicht als sicheren Ausgang in eine humane Zukunft sehen zu dürfen. Wie die Vergangenheiten nicht vorhersagbar waren, und es nicht einmal im Rückblick sind, so unsicher ist es, ob nicht auch die Zukunft ganz anders werden wird als es die Gegenwart zu versprechen scheint. Eine unangenehme Botschaft des Historikers an seine Leserschaft.

Vier Leben der Nation: Das erste umfasst das deutsche Mitteleuropa vor dem modernen Nationalismus, das zweite die Zeit vom Ende des Alten Reichs bis zum Ersten Weltkrieg. Hier begrenzt Hagen seine Konzeption von der Offenheit historischer Entwicklung, denn er lässt sie auf den Nationalstaat zulaufen. Bis zur Reformation sei es möglich gewesen, „that a kind of federalized Germany would assume stable form based on balance of power and interest between the emperors and the ecclesiastical and territorial principalities“ (S. 33), danach nicht mehr. „The Holy Roman Empire could not develop into a modern state“ (S. 43), und deshalb sei es zum Anachronismus geworden. Die gegenwärtigen Diskussionen, den Staatscharakter des Alten Reichs neu zu bestimmen und die Linien des föderativen Nationalismus in das 19. Jahrhundert und darüber hinaus zu verfolgen, nimmt er nicht auf. Doch auch hier hebt er sich von denen ab, die den preußisch-protestantischen Nationalstaat in der Geschichte längst angelegt sahen. Er verfolgt weniger die föderativ-staatenbündischen Alternativen, die Zeitgenossen bis 1866 für möglich hielten, sondern entzieht sich der nationalstaatlichen Engführung, indem er Österreich bis weit in das 20. Jahrhundert in seine Darstellung einbezieht.

Die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen umfasst das dritte Leben der deutschen Nationen. Verbunden mit den vorherigen Geschichtsphasen sieht Hagen das nationalsozialistische Deutschland in der Tradition des starken Interventionsstaates, der großen Industrieunternehmen unter „government patronage“ und einer straff organisierten Arbeiterbewegung (S. 293). Was er nicht zu den Traditionslinien zählt: Distanz der politischen Ordnung zur Demokratie und den Gewalt-Antisemitismus. Das macht er nicht, weil er zum einen die Weimarer Republik charakterisiert als „one of the post-1918 world’s most modern societies“ mit einer politischen Verfassung „on the cutting-edge of progressive liberal democracy“ nach westlichem Muster (S. 241). Und zum anderen widmet er den deutschen Juden im 19. Jahrhundert ein eigenes Kapitel – das ist immer noch ungewöhnlich in Synthesen zur deutschen Geschichte –, welches in die Aussage mündet: „in 1914 the arrival of anything remotely like severe anti-Semitic violence was unimaginable“ (S. 224). Im Kapitel über die Shoa spitzt er diese Deutung zu, nachdem er die Forschungsdebatten kurz, aber prägnant skizziert hat: „To radically simplify: no anti-Semitism, no Holocaust. But also: no east European National Socialist empire, no Holocaust.“ (S. 321)

Für das vierte Leben der deutschen Nationen seit 1945 – erst jetzt scheidet Hagen Österreich, das „only slowly found independent identity“ (S. 400), aus seiner Darstellung aus – sei nur angemerkt, dass er auch hier das Unvorhersehbare betont: „like all great events, Germany’s attainment of a (imperfect) liberal democratic consensus and free-market prosperity was contingent on the unforeseeable“. Ob sich aus dem neuen Deutschland, „something new under the central European sun“, etwas Neues, „a fifth political nation“, entwickeln werde, nennt er eine der faszinierendsten offenen Fragen der Gegenwart (S. 352).

Die Politik steht im Zentrum des Buches, doch gesellschaftliche Entwicklungen einschließlich der kulturellen werden ebenfalls ausführlich dargestellt. „Germanophone philosophy and social thought“ würdigt Hagen als einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis des Übergangs von „premodernity to modernity and below“ (S. 17). Porträts von Kant bis Habermas illustrieren dies. Doch auch zum Alltagsleben oder zur Industrialisierung werden zahlreiche Abbildungen geboten. Und viele Karten lassen die staatliche Vielfalt des deutschsprachigen Mitteleuropas und seine Entwicklung nachvollziehen. Das Literaturverzeichnis ist ganz auf eine englischsprachige Leserschaft ausgerichtet. Deutschsprachige Titel enthält es nicht, wohl aber eine große Zahl von Quellen, die in englischer Übersetzung zur Verfügung stehen, ergänzt um Filme, die mit englischen Untertiteln angeboten werden.

Hagens Werk zielt auf eine breitere Leserschaft; sie ist ihm zu wünschen. Ihr werden dichte Informationen, faire Einschätzungen der unterschiedlichen oder auch konträren geschichtswissenschaftlichen Deutungen und stets nachvollziehbar begründete eigene Positionen geboten. Vor allem aber erhält, wer sich auf die Lektüre einlässt, ein Gespür für die Frage, wie man von der Gegenwart her die Vergangenheit erschließen kann, ohne sie auf diese zulaufen zu lassen. Eine deutsche Übersetzung wird hoffentlich nicht lange auf sich warten lassen.

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