T. Becker u.a. (Hrsg.): Friedrich Christoph Dahlmann

Titel
Friedrich Christoph Dahlmann - ein politischer Professor im 19. Jahrhundert.


Herausgeber
Becker, Thomas; Bleek, Wilhelm; Mayer, Tilman
Reihe
Bonner Schriften zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte Bd. 3
Erschienen
Göttingen 2012: V&R unipress
Anzahl Seiten
ca. 152 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Ries, Historisches Institut, Friedrich Schiller Universität Jena / Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Aus Anlass des 150. Todestages von Friedrich Christoph Dahlmann am 5. Dezember 1850 veranstaltete die Universität Bonn als die letzte und mit Abstand längste berufliche und private Heimstätte dieses prominenten „politischen Professors“ der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Gedenkkolloquium, dessen Beiträge nunmehr in der relativ neuen Reihe der „Bonner Schriften zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte“ veröffentlicht wurden. Der ganze Band kreist vor allem um den liberal-nationalen Vordenker und Verfassungstheoretiker Dahlmann, der unumwunden hier als eine ganz moderne, fortschrittsorientierte Figur des deutschen Vormärz vorgestellt wird. Der Band ist zugleich auch dem bekannten Bonner Zeithistoriker und Politikwissenschaftler Karl Dietrich Bracher zum 90. Geburtstag gewidmet und zwei Beiträge beziehen sich denn auch speziell auf „Dahlmanns Politikwissenschaft“ (Andreas Anter) und die Tradition der „Bonner Politikwissenschaft“ (Tilman Mayer), die nach dem Zweiten Weltkrieg ganz wegweisend von Bracher geprägt worden ist, der ein Jahr nach seiner Berufung in einer Gedenkrede zum 100. Todestag Dahlmanns diesen politischen Professor wiederentdeckte und zugleich ein Plädoyer für die Verbindung von Wissenschaft und Politik hielt.

Wilhelm Bleek, der emeritierte Politikwissenschaftler aus Bochum, der vor zwei Jahren eine umfassende Dahlmann-Biographie vorgelegt hat, eröffnet den wissenschaftlichen Teil des Bandes, indem er sich mit dem Berufsverständnis Dahlmanns auseinandersetzt und ihn mit den Klassifikationskategorien Max Webers als „Gesinnungsethiker“ bzw. „Gesinnungspolitiker“ (S. 23) kennzeichnet. Wenn man Dahlmanns eher spröde, zuweilen gar konservative Art kennt, ist man ein wenig irritiert über diese Zuschreibung, die allein aus seiner prinzipienstarren Haltung beim Protest der Göttinger Sieben und in der Schleswig-Holstein-Frage vor allem während der 1848er-Revolution resultiert. Für einen Gesinnungsethiker heiligt generell der Zweck die Mittel, für Dahlmann war es, wie wir aus dem Beitrag von Christian Waldhoff erfahren können, genau umgekehrt, weil für ihn gerade in konstitutionellen Fragen der „Grundsatz der Verhältnismäßigkeit“ (S. 125) oberste Priorität besaß. Wenn denn eine aus ganz individuellem Gerechtigkeitsempfinden resultierende Starrköpfigkeit eine wissenschaftliche Kategorie wäre, dann würde sie in jedem Falle besser auf Dahlmann passen als die Webersche Gesinnungsethik. Leider strickt Bleek in diesem Zusammenhang auch die alte, von Robert von Mohl schon 1850 in die Welt gesetzte (und bis heute offenbar nicht mehr wegzudenkende) Legende vom doktrinären und praxisuntauglichen Charakter deutscher Professoren weiter, was nun gerade auf Dahlmann, der sich immer auch der praktischen politischen Arbeit stellte (angefangen vom Amt des Sekretärs der schleswig-holsteinischen Ritterschaft bis zum Paulskirchenabgeordneten und preußischen Vertreter im Siebzehnerausschuss), nicht zutrifft. Auch Reimer Hansen widmet sich dem Selbstverständnis Dahlmanns, allerdings nicht als Universitätslehrer, sondern als Historiker und gelangt zu dem durchaus einleuchtenden Schluss, dass Dahlmann nicht immer wusste, was er tat, sprich seine vermeintlich vormoderne Vorstellung von der Geschichte als Lehrmeisterin der Politik nicht weiter reflektierte und sich überhaupt nicht darüber im Klaren war, dass diese Lehren „keine historischen Wahrheiten, sondern zeit- und standortgebundene Werturteile“ (S. 37) darstellten.

Außer dem Artikel von Thomas Becker, der sich ausschließlich mit dem „Gründungsauftrag der Bonner Universität“ (S. 61) im Zusammenhang mit der antinapoleonischen Befreiung beschäftigt, widmen sich die meisten anderen Beiträge der konstitutionellen und nationalen Frage, die Dahlmanns Wirken als eines politischen Professors maßgeblich bestimmte. Christoph Horn ordnet ihn – wie viele andere vor ihm auch schon – dem „politische(n) Aristotelismus“ (S. 51) zu, ohne jedoch zu verkennen, dass „Dahlmann nicht überall mit seiner Sicht des Aristoteles richtig“ lag und „der (kohärenten) Auslegung des Aristoteles wenig Aufmerksamkeit schenkt(e)“ (S. 60). In einem sehr konzisen Beitrag unterzieht Lucian Hölscher den Protest der Göttinger Sieben, deren Wortführer Dahlmann war, einer scharfsinnigen Analyse unter dem Aspekt der „Entstehung der Öffentlichkeit im deutschen Vormärz“ (S. 87). Hölscher gelangt dabei zu dem interessanten Ergebnis, dass der Protest von 1837 zwar unbestritten eine enorme öffentliche Resonanz hervorrief, die entstehende Öffentlichkeit aber nicht zuletzt aufgrund der herrschenden repressiven Verhältnisse noch keine moderne „staats- oder verfassungsrechtliche Bedeutung“ besaß, sondern noch ganz in der Tradition der Aufklärung stand und eine „bloß das politische Handeln der Staatsmänner korrigierende Rolle“ mit stark „moralisch-religiösen Einschlag“ spielte (S. 88).

Katinka Netzer untersucht den „Beitrag der Germanisten zur deutschen Nationalbewegung“ (S. 95) anlässlich der beiden berühmten Germanistentage von 1846 in Frankfurt am Main und 1847 in Lübeck, auf denen auch Dahlmann eine wichtige Rolle spielte. Sehr schön wird hier die kultur-nationale Prägung dieser die deutsche Sprache, das deutsche Recht und die deutsche Geschichte feiernden Gesellschaft deutlich, die Netzer völlig richtig als „Teil der politischen Romantik“ (S. 97) identifiziert, am Ende jedoch wieder in die alten Deutungsmuster zurückfällt, wenn sie zwischen „intellektueller und volkstümlicher Nationalbewegung“ (S. 104) unterscheidet und so das Reformpotential sowie die politisch-soziale Relevanz des sog. romantischen Nationalismus ein wenig zu gering achtet. Einen modifizierten Blick auf Dahlmann und den Schleswig-Holstein-Konflikt wagt Marcus M. Payk, der nicht mehr ausschließlich auf den „anti-dänischen Nationalismus“ (S. 109) rekurriert, sondern den Aspekt einer „Konstitutionalisierung und ‚Verstaatung’ der Nation“ (S. 114) hervorhebt, wenn auch die Trennung zwischen nationalen und liberal-konstitutionellen Vorstellungen für diese Zeit etwas künstlich erscheint, da Nationalismus und Liberalismus damals „nicht nur Hand in Hand“ gingen, sondern „eigentlich identisch“ waren.1 Dennoch ist der dichte Beitrag von Payk sehr überzeugend, zeigt er doch, welch zentrale Rolle im Denken und Handeln Dahlmanns die Konstitutionalisierungsfrage spielte, die auch die Grenze zur „Idee einer republikanisch-revolutionären Nationsbildung“ (S. 114) markierte. Der Verfassungsfrage widmet sich auch der Beitrag von Waldhoff, der zugleich deutlich macht, dass „Freiheitlichkeit und Nation“ sich „nicht als Gegensätze“ erwiesen (S. 123) und am Ende einen ersten (und eigentlich auch den einzigen), noch sehr holzschnittartigen Anlauf unternimmt, den „politischen Professor“ Dahlmann ins Visier zu nehmen. Dafür, dass der Band diese Zuschreibung im Titel trägt, ist dies arg wenig.

Der Sammelband wird abgerundet durch einen weiteren Beitrag von Wilhelm Bleek über „Dahlmann in der Karikatur“ (S. 135), der deutlich macht, wie sehr Dahlmann von links wie von rechts in der 1848er-Revolution aufs Korn genommen wurde und eigentlich ganz und gar ein Mann der Mitte war, der sich durchaus (wenn auch nicht immer, wie zum Beispiel in der Schleswig-Holsteinfrage) an der Machbarkeit von Politik orientierte – ein Beleg mehr, wie ich denke, gegen die These vom „Gesinnungsethiker“, der nur seinen eigenen Grundsätzen gehorche und für die praktische Politik nicht tauge. Dahlmann war nach diesem Band vielmehr ein Verfassungstheoretiker und –politiker ersten Ranges. Seine Zuordnung zu dem bis heute aktuellen Phänomen des politischen Professorentums (dem sich ja auch der Bonner Zeithistoriker Karl Dietrich Bracher verschrieben hat) steht allerdings noch aus.

Anmerkung:
1 Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat, 2. unver. Aufl. München 1984, S. 308.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension