Wittenberge: Bewältigungsstrategien in einer Umbruchgesellschaft

Bude, Heinz; Medicus, Thomas; Willisch, Andreas (Hrsg.): ÜberLeben im Umbruch. Am Beispiel Wittenberge: Ansichten einer fragmentierten Gesellschaft. Hamburg 2011 : Hamburger Edition, HIS Verlag, ISBN 978-3-86854-233-2 360 S., 115 Abb. € 39,00

Willisch, Andreas (Hrsg.): Wittenberge ist überall. Überleben in schrumpfenden Regionen. Berlin 2012 : Christoph Links Verlag, ISBN 978-3-86153-664-2 325 S., 14 SW-Abb. € 19,90

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ralph Richter, Institut für Soziologie, Technische Universität Darmstadt

In den Jahren 2007 bis 2010 war die brandenburgische Stadt Wittenberge Ort eines außergewöhnlichen sozialwissenschaftlichen Experiments. SoziologInnen, EthnologInnen und Theatermacher wurden temporär zum Bestandteil einer Stadtgesellschaft, die wie kaum eine andere mit den Folgen des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbruchs fertig werden musste. Den WissenschaftlerInnen ging es darum, „von innen heraus“ das „Überleben“ der Menschen in einer von tiefen Brüchen geprägten Gesellschaft zu untersuchen. Zu den Ergebnissen und Erfahrungen des Projekts liegen nun zwei Buchveröffentlichungen vor.1 Der in Form und Farbe an einen Ausstellungskatalog erinnernde Band „ÜberLeben im Umbruch“ repräsentiert mit seiner Mischung aus wissenschaftlichen Beiträgen, Essays, Bildstrecken und künstlerischen Reflexionen den Projektgedanken, Brücken zwischen Forschenden und Erforschten, Wissenschaftlern und Künstlern zu bauen. Im Fokus des Sammelbands „Wittenberge ist überall“ steht die Beschreibung dieser Stadt als Laboratorium für Umbruchgesellschaften. Wissenschaftliche Fundstücke aus Wittenberge werden Beobachtungen aus benachteiligten Städten anderer Länder gegenübergestellt.

Am Beginn stand die Idee, in einem breit angelegten Projekt die Ostdeutschlandforschung aus Regionalität und Defizitmodellen zu befreien. Mit dem Hinzuziehen mehrerer Projektpartner – beteiligt waren das Thünen-Institut für Regionalentwicklung, das Hamburger Institut für Sozialforschung, die Universität Kassel, die Humboldt-Universität zu Berlin, das Maxim Gorki Theater Berlin und das Brandenburg-Berliner Institut für Sozialwissenschaftliche Studien – verbreiterte sich die Agenda auf Fragen nach Praxisformen und Deutungsmustern sowie der Bedeutung sozialen Kapitals in Umbruchgesellschaften generell. Anknüpfungspunkte boten die Transformationsforschung2, Arbeiten zu regional verortetem sozialen Kapital3 sowie Forschungen zu schrumpfenden Städten.4 Empirisches Vorbild ist die berühmte Marienthal-Studie von 1933, eine ethnografische Gemeindestudie über die Folgen kollektiv erfahrener Arbeitslosigkeit in der Zeit der Weltwirtschaftskrise.5 Anders aber als vor 80 Jahren sollten die Untersuchungssubjekte nun eine Stimme bekommen, wollte man mit den BewohnerInnen in Dialog treten. Den Künstlern des Maxim Gorki Theaters sowie den Akteuren der beteiligten Kunstprojekte kam dabei eine wichtige Mittlerposition zu. Die Zusammenarbeit sollte sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen den Weg in die Öffentlichkeit bahnen und im Gegenzug die Arbeit der WissenschaftlerInnen um künstlerische Sichtweisen bereichern.

Das mit dem Stigma einer „sterbenden Stadt“ (ÜberLeben im Umbruch, S. 189) belegte Wittenberge wurde als aussichtsreicher Kandidat gesehen, um exemplarisch die Bewältigung radikaler Umbruchsituationen zu untersuchen. Die politische Wende in der ehemaligen DDR hatte die „rote Arbeiterstadt“ Wittenberge (ebd., S. 172) doppelt getroffen. Mit dem untergegangenen Staat verschwand nicht nur das „identitätsverbürgende Deutungssystem“6, sondern fast zeitgleich ein Großteil der Arbeitsplätze. Vergeblich wartete die in der Peripherie zwischen Berlin und Hamburg gelegene Stadt auf Großinvestoren. Stattdessen verlor Wittenberge seit 1990 mehr als 40 Prozent der Einwohner – heute sind es noch rund 18.500. Wie in anderen schrumpfenden Städten weist die Bevölkerungsstruktur eine starke Überalterung auf.

Das große Format, die mehrfarbigen Bildstrecken und das aufwendige Layout des Bands „ÜberLeben im Umbruch“ machen deutlich, dass nicht nur die Fachöffentlichkeit, sondern ein breites Publikum angesprochen wird. Reportagen, Dialoge, Essays und Reflexionen integrieren wissenschaftliche und künstlerische Perspektiven; sie bieten unterschiedliche Sichtweisen auf Alltagspraktiken und Verarbeitungsmuster. Auf die Frage nach den zentralen Erkenntnissen des Projekts bekennen die Autoren, sie seien als Wissenschaftler enttäuscht über das Ausbleiben eines Hauptkonflikts (Heinz Bude / Wolfgang Engler, S. 123). Die Antwort der Wittenberger auf die Krise sei nicht Konfrontation, sondern Rückzug. Hier gebe es kein Aufbegehren wie in französischen Banlieues: „Wittenberge ist ein Anti-Ghetto. Es fehlen der rebellische Abstammungsglaube, die gewalttätige Folklore und konfrontative Frontstellung.“ (Bude, S. 16) Zu einem vergleichbaren Ergebnis kam schon die Marienthal-Studie. Auch in den 1920er-Jahren fanden die Forscher statt Politisierung und „neurotischen Massenerscheinungen“ eine „müde Gemeinschaft“.7 Krisen wurde und wird vielfach nicht mit kollektivem Widerspruch begegnet, sondern mit individuellen Verarbeitungsmustern. Angesichts der anschaulich herausgearbeiteten Praxisformen und der subtilen Einsichten, die sich im Band über Wittenberge zu einem facettenreichen Bild zusammenfügen, vermisst man die großen Konflikte und überraschenden Entdeckungen aber auch nicht.

Einen roten Faden bildet die Beobachtung, dass sich Wittenberge nicht vom Entwicklungsmodell der industriellen Moderne gelöst hat. Inga Haese und Susanne Lantermann („Arbeit am Mythos“) stellen etwa fest, dass Heimatgefühle in Wittenberge mit der industriell geprägten Stadtgesellschaft verknüpft sind. Die Deindustrialisierung habe einen Abbruch der Möglichkeit zur Heimatkonstruktion bewirkt (S. 188). Heute seien nicht mehr nur die strukturellen Schwächen verantwortlich für die andauernde Krise, sondern auch die Erwartungen an die Rückkehr großbetrieblicher Strukturen und die Hoffnungen auf Wachstum. Das industrielle Modell okkupiere die Zukunft (Armin Petras / Andreas Willisch, S. 222). Wittenberge fühle sich noch fremd in der Rolle einer ländlich geprägten Kleinstadt (Willisch, S. 87).

Anders als in der Zeit der Weltwirtschaftskrise verhindert die heutige Wohlstandsgesellschaft, dass gesellschaftliche Brüche zu existenzieller Armut führen. Legt man Georg Simmels Definition zugrunde, dass sich Armut nicht am Umfang der Entbehrungen bemisst, sondern daran, ob jemand Unterstützung benötigt, dann ist Armut in Wittenberge dennoch ein großes Thema. Armut bedeutet hier die Abhängigkeit von Transfereinkommen. Ein Problem ist, paradox genug, nicht der Mangel, sondern der Überschuss an Zeit. Reaktionen sind die Entschleunigung des Alltags und die Suche nach alternativen Betätigungen. Andreas Willisch erkennt eine Umstellung des (Über-)Lebensmodus „von Karriere und Zugewinn auf Erhaltung und Bewahrung“. Er trifft auf hochgradig durchorganisierte Lebensführungsmodelle, in welchen der Ort besondere Bedeutung erhält, weil Gewohnheiten, Kontaktmöglichkeiten und Zuverdienstchancen an das spezifische Wissen über die lokalen Gegebenheiten gebunden sind (S. 89). Für die Menschen bedeutet das zwar Immobilität und einen engen Bewegungsradius, aber auch Möglichkeiten für ein respektables Auskommen, für die Bewahrung von Kleineigentum und für den Erhalt einer gewissen Unabhängigkeit gegenüber gesellschaftlichen Zumutungen (Ina Dietzsch / Dominik Scholl, „Slow Economy“, S. 186).

Für die Frage nach kompensatorischen Tätigkeiten zur Erwerbsarbeit ist der von Anna Eckert und Andreas Willisch verfasste Beitrag „Discounting – Teilhabe durch Konsum!“ ausgesprochen aufschlussreich. Das Einkaufen in Discountmärkten wird als dominanter Integrationsmodus für Menschen in prekären Lagen vorgestellt. „Discounting“ gibt dem Leben Rahmen und Inhalt und dient der zeitlichen Strukturierung des Alltags. Wie die Autoren zeigen, sind die Angebote der Discounter das zentrale Gesprächsthema vieler Wittenberger. Würden die Befragten eine „mental map“ von Wittenberge zeichnen, dann wären die Discountmärkte darin die Knoten (S. 93f.). Der Weg zum Discounter sei die Eintrittskarte in den öffentlichen Raum und ermögliche gesellschaftliche Teilhabe. Der fehlende Service werde nicht als Manko erfahren, sondern als Möglichkeit zur Selbstbetätigung, um „in arbeitsförmiger Weise den Bedarf des täglichen Lebens sozial respektiert zu beschaffen und zu decken“ (S. 95). „Discounting“ sei weit mehr als der Konsum von Waren. Wer sich am Aufspüren von Sonderangeboten beteilige, bekenne sich zu kollektiven Werten wie Sparsamkeit und der Fähigkeit zur Beschränkung (S. 96).

„ÜberLeben im Umbruch“ gibt nicht nur inhaltliche Einblicke, sondern zeigt auch, wie die konzeptionellen Ziele umgesetzt wurden. Die Bilanz bleibt allerdings durchwachsen. Das unangenehme Gefühl, letztlich doch Beobachtungsobjekte eines nicht zu durchschauenden Experiments zu sein, schien nie ganz von den Wittenbergern zu weichen. Entsprechend schwer hatte es das Projekt, Akzeptanz bei den BewohnerInnen und den lokalen Eliten zu finden. Dies wird im Beitrag von Ina Dietzsch („Öffentliche Wissenschaft“) sehr anschaulich und führt am Ende zu einer überraschenden Einsicht: Weniger wohlmeinende Dialoge und partizipative Aktionen können die Bewohner aus der Reserve locken, als vielmehr das Label der „Verliererstadt“, welches Wittenberge nach Ansicht einer lokalen Tageszeitung durch das Projekt aufgedrückt werden sollte. „Verliererstadt“ erweist sich als „bounded object“, das gemeinsames Interesse erzeugt und den Austausch in Fluss hält (S. 205f.). Der schonungslose öffentliche Deutungskampf zwischen Stadt und Projekt findet mehr Akzeptanz als die angestrebten dialogisch-kooperativen Formen. Ehrliche Worte sind den Leuten allemal lieber als „blöde Rücksichtnahme“.

Im zweiten Sammelband – „Wittenberge ist überall“ – spielen konzeptionelle und künstlerische Fragen keine Rolle. Der Fokus liegt auf dem wissenschaftlichen Ertrag, was schon im Erscheinungsbild des Buchs deutlich wird. Kleines A5-Format, Broschur statt Bindung und Schwarz-Weiß statt Farbe machen klar, dass hier stärker an ein wissenschaftliches Publikum gedacht ist. Ziel ist es, das Exemplarische des Wittenberger Falls für (städtische) Gesellschaften in Umbrüchen zu zeigen. Dafür werden im Anschluss an die einleitenden Texte den fünf Beiträgen über Wittenberge ebenso viele Beobachtungen und Analysen aus benachteiligten Städten anderer europäischer Länder gegenübergestellt. Die Aufsätze zu Wittenberge überschneiden sich zwar inhaltlich mit dem ersten Band. Die stärkere Orientierung am empirischen Material verschafft aber neue, detailliertere Einsichten und erhöht die Qualität der Analysen. Vermitteln einige Beiträge des ersten Bands mit ihren vielfältigen theoretischen Anknüpfungspunkten den Eindruck einer Suchbewegung, so sind Theorien und Argumentationen nun stringenter. Zudem freut es den Soziologen, dass empirische Belege, die im ersten Band teilweise fehlen, nun konsequent enthalten sind.

In „Wittenberge ist überall“ wird ein weiterer Grund für nicht eingelöste Erwartungen an das Projekt sichtbar. War man mit der Annahme ins Feld gegangen, lokal verortetes soziales Kapital als stabilisierende und nutzenbringende Ressource beschreiben zu können, so erwies sich das in einem regen Vereinswesen gesammelte soziale Kapital eher als Entwicklungsbremse. Für Michael Thomas („Vereine oder Wie nimmt man eigentlich Abschied?“) liegt das am industriellen Habitus, der in den vielen Kleingartenvereinen und anderen Gemeinschaften weitergelebt werde. Die in der arbeiterlichen Gesellschaft der Vorwendezeit erlernten Lösungsstrategien blockierten Optionen, die nicht mit Industriearbeit und Wachstumsorientierung in Verbindung stünden. Der eingeübte Paternalismus bringe Anpassung und Defensivität statt Kreativität und Eigenständigkeit hervor (S. 103). Hinzu komme die starke generationelle Fragmentierung. Hier die in den Vereinen organisierten Alten, dort die desorientierte Jugend, für die das Vereinswesen der reine Horror sei (S. 107). Dazwischen fehle eine ganze Generation, die fortgezogen ist oder zur Arbeit in andere Städte pendelt. „Während an den einen Orten Produktivität, Bevölkerung und Vielfalt wachsen, fliehen an anderen Leute mit Ambitionen und Antrieb und lassen ein […] homogenes Milieu zurück, in dem das ökonomische Leben versiegt und die gesellschaftlichen Gruppen der wechselseitigen Vergleichgültigung verfallen“, so Heinz Budes schonungslose Lagebeschreibung (S. 22).

Gegenüber den lesenswerten Beiträgen über Wittenberge fallen die international vergleichenden Analysen etwas zurück. Im Grunde werden die anderen Fälle kaum systematisch mit Wittenberge verglichen. Es wird nicht ganz klar, inwiefern Wittenberge für den Umgang mit gesellschaftlichen Brüchen beispielhaft oder spezifisch ist. Sprechen etwa das Auftreten charismatischer Führer in Wittenberge wie im rumänischen Victoria für allgemeine Muster in Umbruchgesellschaften, so scheinen die geringe Flexibilität und das Festhalten an eingeübten Lösungsstrategien spezifisch für die Wittenberger Stadtgesellschaft zu sein.

Eine gute Idee ist das „Glossar einer Überlebensgesellschaft“, in dem die Schlagworte der Untersuchung am Ende des Buchs zusammengefasst werden. Was fehlt, ist allerdings der Begriff des „Überlebens“. Als Leitformel der Untersuchung kennzeichnet er den Zustand nach einem existenzgefährdenden Umbruch. Der Terminus ist faktisch durchaus treffend, transportiert allerdings ein gewisses Pathos und wirkt dramatisierend. Die Charakterisierung einer Stadtbevölkerung als „Überlebensgesellschaft“ ruft eher das Stigma auf, als dieses analytisch auf Abstand zu halten.

Sieht man von den wenigen Kritikpunkten ab, dann liegen zwei ausgesprochen interessante Publikationen über ein ambitioniertes Projekt vor. Während „ÜberLeben im Umbruch“ einen breiten Fokus hat und neben der Präsentation von Ergebnissen auch das Verhältnis zur Öffentlichkeit und den wissenschaftlich-künstlerischen Austausch reflektiert, konzentriert sich „Wittenberge ist überall“ stärker auf den wissenschaftlichen Ertrag und auf die Kontextualisierung der Resultate. Die Beiträge zeigen individuelle und kollektive Bewältigungsmuster, mit welchen Menschen auf den radikalen gesellschaftlichen Bruch und die Arbeitslosigkeit reagieren. Es wird deutlich, dass lokale Ressourcen wie das im Vereinswesen eingelagerte soziale Kapital oder der inkorporierte städtische Habitus nicht per se Nutzen stiften, sondern alternative Lösungen und Wandel auch blockieren können.

Anmerkungen:
1 Ergebnisse des Projekts werden ebenfalls vorgestellt in dem von Michael Thomas herausgegebenen Sammelband „Transformation moderner Gesellschaften und Überleben in alten Regionen. Debatten und Deutungen“ (Münster 2011). Dort steht die Neubegründung der Transformationsforschung im Fokus. Da dieses Thema den Rahmen der vorliegenden Besprechung sprengen würde, kann auf den Sammelband hier nicht eingegangen werden.
2 U.a. Rolf Reißig, Transformationsforschung: Gewinne, Desiderate und Perspektiven, in: Politische Vierteljahresschrift 39 (1998), S. 301–328; Raj Kollmorgen (Hrsg.), Transformation als Typ sozialen Wandels. Postsozialistische Lektionen, historische und interkulturelle Vergleiche, Münster 2005.
3 U.a. Robert D. Putnam, Making Democracy Work. Civic Traditions in Modern Italy, New York 1993; ders., Bowling Alone: America’s Declining Social Capital, in: Journal of Democracy 6 (1995) H. 1, S. 65–78.
4 U.a. Philipp Oswalt (Hrsg.), Schrumpfende Städte, 2 Bde., Ostfildern-Ruit 2004/05.
5 Marie Jahoda / Paul F. Lazarsfeld / Hans Zeisel, Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit, Frankfurt am Main 1994 (zuerst Leipzig 1933). Siehe dazu u.a. Reinhard Müller, Marienthal. Das Dorf, die Arbeitslosen, die Studie, Innsbruck 2008.
6 Vgl. Jürgen Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt am Main 1973, S. 13.
7 Jahoda / Lazarsfeld / Zeisel, Die Arbeitslosen, S. 55ff.