Die Ideengeschichte des Kalten Krieges hat schon seit mehreren Jahren sowohl im deutsch- als auch im englischsprachigen Raum Konjunktur. Der Titel des vorliegenden Sammelbandes, eine Anspielung auf Raymond Arons Werk „Clausewitz – Den Krieg denken“ (frz. 1976, dt. 1980), erinnert nicht zuletzt daran, dass Philosophen und Historiker vor nicht allzu langer Zeit noch versuchten, aus der Geschichte Handlungsanweisungen für den Kalten Krieg zu gewinnen, während wir heute bereits die Ideen und Denkmuster jener Epoche historisieren. Die Publikation geht auf eine Londoner Tagung des Arbeitskreises Historische Friedensforschung im November 2010 zurück1 und will den Kalten Krieg „aus der Perspektive einer sozialen Ideengeschichte“ begreiflich machen (S. 13f.). Was genau die Herausgeber unter einer solchen verstehen, bleibt zwar in den darauffolgenden Sätzen etwas abstrakt und unverbindlich formuliert, wird aber im Verlauf ihrer Einleitung (zusammen mit Anne Rohstock verfasst) und vor allem in der Praxis der einzelnen Beiträgen deutlich: Die meisten Autorinnen und Autoren zeigen sich insbesondere daran interessiert, die Entstehung und Wirkung von Wissen und Ideen im Kalten Krieg möglichst konkret anhand einzelner Organisationen, Personengruppen, Milieus und gesellschaftlicher Subsysteme (etwa des Bildungswesens) sichtbar zu machen und zu untersuchen. Anders gesagt: Nicht die Idee selbst, sondern ihr Einfluss in fest umrissenen Teilen der Gesellschaft steht im Vordergrund.
Man könnte jetzt lange über die Abgrenzungen zwischen Ideengeschichte, sozialer Ideengeschichte, Intellectual History, Geistesgeschichte, Wissensgeschichte und Wissenschaftsgeschichte streiten – jedenfalls enthält der Band von allem etwas. Dies ist weniger eine Kritik, sondern liegt bei einer Anthologie zu einem so vielschichtigen Thema in der Natur der Sache. Trotzdem tun die Herausgeber gut daran, vier rote Fäden herauszuarbeiten, die sich – fast schon überraschend deutlich und konsequent – in nahezu jedem Beitrag wiederfinden lassen (S. 16–36). Diese vier Leitlinien sind (1) der lange Schatten des Zweiten Weltkrieges auf den Kalten Krieg, (2) der tiefgreifende Einfluss des Kalten Krieges auf alle kulturellen und sozialen Lebensbereiche, (3) die Auswirkungen des Kalten Krieges nicht nur auf die Wissenschaft, sondern zugleich auf unser Verständnis von Wissenschaft und den Umgang mit Wissen sowie (4) die umfangreiche Erblast des Kalten Krieges.
Nun ließe sich einwenden, dass keines der genannten Leitmotive wirklich neu ist. In diesem Zusammenhang sei an die drei letzten Bände des unter Bernd Greiners Leitung am Hamburger Institut für Sozialforschung durchgeführten Großprojektes zur Gesellschaftsgeschichte des Kalten Krieges erinnert, insbesondere an den ideengeschichtlichen Sammelband „Macht und Geist im Kalten Krieg“.2 Unabhängig davon ist allerdings anzuerkennen, dass viele der Texte aus dem Band von Bernhard und Nehring die Ansprüche an eine „soziale Ideengeschichte“ im Sinne der Herausgeber auf einprägsame Weise erfüllen. Hervorzuheben sind hier etwa die Beiträge von Frank Reichherzer und Anne Rohstock. In seinem Aufsatz „Zwischen Atomgewittern und Stadtguerilla“ geht Reichherzer explizit über die Frage hinaus, wie Atomwaffen das Denken über Krieg veränderten, und untersucht komplementär, wie das Bild des entgrenzten oder totalen Krieges aus der Zeit der Weltkriege im Gegenzug das Denken über Atomwaffen beeinflusste. Im Einklang mit den vier Leitmotiven des Bandes betrachtet er hier nicht nur die Nachwirkungen des Zweiten Weltkrieges im Kalten Krieg und neu entstehende Wissensdiskurse, sondern auch die Vergesellschaftung von Kriegswissen durch den Personenkreis der „Wehrexperten“ in Westdeutschland und die langfristigen Folgen. So trieb die Vision des Atomkrieges die schon im Ersten Weltkrieg begonnene „Bellifizierung der Gesellschaft“ auf die Spitze – Vorbereitung musste permanent, Mobilmachung total und Beweglichkeit extrem sein (S. 152f.). Auch Rohstock unterstreicht in ihrem Beitrag zum Einfluss des Kalten Krieges auf westliche Bildungs- und Schulsysteme die auf den Zweiten Weltkrieg zurückgehende Entstehung von „Big Science“ sowie die Verzahnung von Bildung mit Politik und Militär. Anhand eindringlicher Beispiele zeigt die Autorin die „Szientifizierung, Rationalisierung und Technologisierung“ der schulischen Lehrpläne. So verbindet sie das Bildungswesen überzeugend mit einer Gesellschaftspolitik des Kalten Krieges, die alle Bereiche des Gemeinwesens plan- und steuerbar machen wollte (S. 257ff.).
Bei Rohstock (S. 277ff.), aber auch in anderen Texten des Bandes fällt positiv auf, dass die Autorinnen und Autoren fast immer Raum für die bereits in der Einleitung betonten „beträchtlichen gesellschaftlichen Widerstände gegen die Zumutungen des Kalten Krieges“ (S. 27) lassen. Deutlich wird dies zum Beispiel in dem sehr gelungenen Beitrag von Sibylle Marti zum Schweizer Zivilschutz und den Notvorratskampagnen der 1950er-Jahre. So drang auch hier der Kalte Krieg tief ins Gewebe der Gesellschaft ein (bis hin zur Schweizer Kondensmilch- und Teigwarenlobby), doch die homogene Propaganda führte zu ganz unterschiedlichen Reaktionen in einer pluralen Gesellschaft (S. 230–234). Der von Marti analysierte Zivilschutz ist überhaupt sehr geeignet, um die gesellschaftliche Breitenwirkung des Kalten Krieges, aber auch neue Formen und Diskurse von Widerstand und Protest aufzuzeigen. Dies verdeutlicht etwa Claudia Kemper in einem Beitrag über die „International Physicians for the Prevention of Nuclear War“ (IPPNW), die zum einen ihr Fachwissen nutzten, um den Kalten Krieg diskursiv zu pathologisieren, zum anderen aber auch ihren Protest gegen entmenschlichte Fortschrittsgläubigkeit auf andere gesellschaftliche Bereiche wie das Gesundheitswesen ausdehnten (S. 320).
Nicht alle Autoren schaffen es, den eingangs postulierten Anforderungen einer „sozialen Ideengeschichte“ so nah zu kommen. Christian Dries’ Diskussion der Anti-Atom-Philosophie von Günther Anders ist zwar in sich stimmig, entspricht aber eher einer klassischen ideengeschichtlichen Auseinandersetzung mit dem Werk eines Philosophen, das allenfalls stellenweise „vergesellschaftet“ wird. Etwas konstruiert wirkt auch die Einbindung von Florian Sprengers (eher sprach- und kommunikationswissenschaftlich interessiertem) Aufsatz über Atommüll als Hinterlassenschaft des Kalten Krieges. Die bloße Tatsache, dass multidisziplinäre Forschergruppen, bei denen es sich zudem „fast ausschließlich um weiße Männer“ handelt(e), bis heute Simulationen über die Endlagerung durchspielen, muss man nicht zwangsläufig als „unzeitgemäßes Crescendo des akademischen Inventars des Kalten Krieges“ verstehen (S. 341).
Über die Einzelbeiträge hinaus versuchen die Herausgeber, unser Verständnis vom Kalten Krieg insgesamt zu schärfen: So widersprechen sie etwa bewusst der Perspektive eines „langen Friedens“ (John L. Gaddis) und wollen auch „hegemonialen Konzepten“ einer Trennung zwischen friedlichem Westen und gewalttätigem Süden eine „klare Absage“ erteilen. Stattdessen begreifen sie mit globalgeschichtlichem Anspruch den Kalten Krieg im Sinne Michael Geyers als (keinesfalls friedliche) Simulation, die allerdings „nicht so sehr dem Körper als der Einbildungskraft des Menschen Gewalt angetan“ habe (S. 14f.).
So prägnant das an dieser Stelle klingen mag, so lässt der Sammelband doch eine gewisse Form von Eurozentrismus erkennen. Zum einen beschäftigen sich die Beiträge ausschließlich mit (west)europäischen oder amerikanischen Organisationen, Militärs, Philosophen oder Institutionen. Die so genannte Dritte Welt kommt de facto nicht vor, und auch die Sowjetunion oder die ostmitteleuropäischen Gesellschaften stehen bei keinem der Beiträge wirklich im Zentrum. Darüber hinaus wäre es wohl in jedem Fall schwierig, einem MPLA-Kämpfer (Movimento Popular de Libertação de Angola) oder einem nicaraguanischen Contra zu erklären, dass der Kalte Krieg lediglich seiner „Einbildungskraft“ Gewalt angetan habe. Für einen Rezensenten mag es allzu einfach sein, solche Formulierungen außerhalb ihres Kontexts anzugreifen. Dennoch wäre es gerade für eine ideengeschichtliche Perspektive mitunter hilfreich gewesen, sich konsequenter und häufiger in Erinnerung zu rufen, dass der Kalte Krieg für große Teile der Weltbevölkerung weniger von der Gefahr eines Atomkrieges geprägt war, sondern vielmehr von der exzessiven, sehr realen Gewalt und Brutalität unzähliger „kleiner Kriege“ (auch diese haben übrigens ihre Ideengeschichte). Insgesamt kann der Sammelband jedoch – zumindest mit Blick auf die westliche Welt – seinem Anspruch einer „sozialen Ideengeschichte“ gerecht werden. Gerade die Rückbindung von Ideen an konkrete Akteure, Organisationen, Institutionen und Kontexte ist in der Mehrzahl der Beiträge gut oder sogar vorbildhaft gelungen.
Anmerkungen:
1 Siehe den Bericht von Arvid Schors, in: H-Soz-u-Kult, 15.12.2010, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=3448> (25.2.2014).
2 Bernd Greiner / Tim B. Müller / Claudia Weber (Hrsg.), Macht und Geist im Kalten Krieg, Hamburg 2011 (rezensiert von Martin Deuerlein, in: H-Soz-u-Kult, 25.4.2012, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2012-2-068> [25.2.2014]).